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Als er erwachte, hatte er einen Augenblick Zeit nachzudenken, sich zu erinnern, daß er sich nicht auf der Heimatwelt befand, sondern durch ein Fabrikgebäude auf der Welt der Verhüllten Leute geflohen war, daß er noch einen Sprung von der Festnahme entfernt war – als etwas geschehen war.

Langsam kam alles zurück, und langsam begann er seine Umgebung in sich aufzunehmen.

Er war irgendwo zwischen engen Wäldern eingezwängt. Über ihm waren nur Schweigen und Finsternis. Es schien ihm, daß er eine Weile besinnungslos gewesen war, aber weit über ihm schien seinen Rumlaugen das Licht, das durch die hohen Fenster des Fabrikgebäudes hereinströmte, beinahe im gleichen Winkel einzufallen wie vorher. Eine Weile starrte er zu dem Licht empor.

Nein, er hatte unrecht. Es war vielleicht ein Achtel oder ein Sechstel der Sonnenperiode des Planeten verstrichen, während er dagelegen hatte, tot für den Rest der Welt.

Sein Nacken schmerzte etwas hinter dem Ohr, und er hatte auch ein paar andere Stellen an seinem Körper, die weh taten. Er mußte im Sturz die Besinnung verloren haben. Aber die Wachen, die ihn jagten, hatten ihn offensichtlich nicht gefunden …

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Stimmen drangen an sein Ohr. Die Stimmen zweier Eingeborener, die in einiger Entfernung von ihm standen. Er hob etwas den Kopf und sah, daß er in einem schmalen Spalt zwischen den beiden Metallwänden lag. Und der Spalt führte wie ein Tunnel ohne Dach zwischen dem Ende des Förderbandes und der Tür ins Freie.

„… nicht möglich“, sagte einer der Verhüllten Leute. „Wir haben überall nachgesehen.“

„Aber Sie haben den Raum verlassen, um Rogers zum Arzt zu tragen?“

„Ja, Sir, aber Corry hat vor der Tür Wache gehalten, während wir das taten. Und dann, als wir zurückkamen, haben wir alles abgesucht. Hier ist niemand.“

„Ein komischer Tag heute“, sagte die zweite Stimme. „Zuerst dieser Kurzschluß dort unten, und dann bildet Rogers sich ein, daß er etwas sieht, und bricht sich das Bein.“ Die Stimmen entfernten sich. „Na schön, dann vergessen wir’s eben. Ich erwähne es in meinem Bericht, und wir schließen das Gebäude hinter uns ab, bis ein Inspektor es sich angesehen hat.“

Er hörte, wie die kleine Tür geöffnet wurde.

„Was soll denn hier überhaupt einer stehlen?“ fragte die erste Stimme, die sich jetzt ebenfalls entfernte. „Soll er sich vielleicht eine halbe Million Tonnen Raumschiff unter den Arm klemmen und es wegtragen?“

„Die Vorschriften …“ Dann wurde die Tür geschlossen, und er konnte den Rest nicht mehr hören. Schweigen herrschte wieder.

Jason-Kator bewegte sich in der Finsternis.

Einen Augenblick lang hatte er Angst, er habe sich beim Sturz das Bein gebrochen. Aber seine Arme und Beine gehorchten ihm. Es war, wie er angenommen hatte – er hatte nur Abschürfungen davongetragen. Dankbarkeit stieg in ihm auf. Ein Glück, daß er erst zwei Perioden alt war. Ein älterer Mann mit spröderen Knochen … er durfte gar nicht daran denken.

Jedenfalls war er nicht so sehr eingezwängt, daß er nicht mehr heraus konnte. Als er ins Freie trat, waren nirgends Eingeborene zu sehen.

Die Sonne stand im Zenit. Niemand war weit und breit zu sehen. Er duckte sich und hatte binnen zwei Minuten das Tor hinter sich gelassen und zwischen den Bäumen, die den Feldweg zu beiden Seiten säumten, Deckung gefunden. Jetzt eilte er zu seinem kleinen Ein-Mann-Schiff zurück.

Der eingeborene Angler war nicht mehr zu sehen. Im Augenblick schien überhaupt niemand da zu sein. Er erreichte sein Schiff, und erst als er sicher durch den getarnten Eingang geschlüpft war, gestattete er sich den Luxus, das Gefühl der Sicherheit zu empfinden.

Dabei war er eigentlich noch gar nicht völlig in Sicherheit. Er hatte jetzt lediglich ein Schiff, in dem er versuchen konnte zu fliehen, falls man ihn entdeckte. Er durfte sich von diesem Gefühl der Sicherheit nicht einlullen lassen. Das könnte dazu führen, daß er unvorsichtig wurde. Immerhin mußte er noch bis zum Einbruch der Nacht warten, bis er den Start riskieren konnte.

Er befreite sich von den widerlichen Hüllen, die er hatte tragen müssen, und kümmerte sich um die aufgeschürften Stellen an seinem Körper. Sie waren lästig, aber binnen einer Woche würden sie geheilt und vergessen sein. Der Knopf mit dem Recorder an seinem Jackett war intakt. Damit war eine Aufzeichnung von allem, was er getan hatte, verfügbar. Ansonsten würde man auf der Heimatwelt nichts benötigen – nur den Film und Kators eigenes einzigartiges und wertvolles Wissen um die Reaktionen der Verhüllten Leute. Wenn es nur bald Nacht würde …

Er wartete, zwang sich zur Geduld und träumte von den Gesichtern der Söhne, die er haben würde. Den ersten würde er Aton nennen, nach Aton Mutteronkel, den zweiten Hurrag und den dritten Bela. Und wenn sie einmal lange genug aus dem Beutel waren, um den Begriff der Ehre zu verstehen, würde er jedem einzelnen von ihnen persönlich von dem Manne erzählen, von dem der Name, den sie trugen, stammte. Und von der Rolle, die jene drei ehrenwerten Männer bei der Gründung des Königsreichs ihres Vaters auf dem Planeten der Verhüllten Menschen gespielt hatten.

Und er selbst, der Kator, würde sein Leben hier zu Ende leben und eines Tages hier sterben. Aber vielleicht würde die zweite oder dritte Generation seiner Abkömmlinge zurückkehren, wie es unter seinem ersten Sohn oder Enkel ihr Recht war, um auf der Heimatwelt einen Palast der Katori zu gründen. Und eines Tages würden von jenem Palast der Katori andere ausziehen, um neue Reiche zu gründen.

Er würde das nicht mehr wissen. Seine auf der Welt der Verhüllten Leute begrabenen Gebeine würden bis dahin schon zu Staub geworden sein und es nicht mehr wissen. Aber seine Gene in den Leibern der Abkömmlinge würden es wissen und sich wahrhaft und in Ehren Ruml nennen. Die Ruml, ehrenwert als Rasse, stets wachsend und stets in Weiterentwicklung begriffen, jener fernen, unvorstellbaren Zukunft entgegen, in der die Ruml nur noch Ehre und nichts anders mehr kennen würden.

Und dann begann endlich die gelbe Sonne rot und immer dunkler zu werden und den Horizont zu berühren. Schatten fluteten über die Zäune und das wachsende Korn. Er setzte sich an das Intercom seines kleinen Schiffs und rief über Hyperradio das Expeditionsschiff auf dem Mond.

Der Lautsprecher knisterte.

„Schlüsselträger?“

Er sagte nichts.

„Schlüsselträger? Hier spricht der Kapitän. Euer Kanal sendet. Könnt ihr uns hören?“

Er blieb stumm, und sein Gesicht wurde starr vor Erregung.

„Schlüsselträger!“

Endlich beugte er sich vor und flüsterte ins Mikrofon:

„Keinen Sinn …“ Sein Flüstern wurde lauter, wurde zu einer heiseren und gequälten Stimme. „Eingeborene … haben mich umzingelt. Kapitän …“

Er hielt inne. Auf der anderen Seite herrschte wartendes Schweigen. Dann erneut die Stimme des Kapitäns:

„Schlüsselträger! Haltet aus! Wir schicken ein Schiff und holen …“

„Keine Zeit …“ wisperte er. „Kein Ausweg. Zerstöre mich und das Schiff. Möget Ihr Wasser haben, Schatten haben …“

Er griff zum Steuerknüppel und jagte das kleine Schiff in den dunkler werdenden Himmel. Und beim Start feuerte er einen zylindrischen Gegenstand auf die Stelle, wo das Schiff soeben noch gestanden hatte.

Wenige Sekunden später erleuchtete die winzige, kurze, aber unglaublich wirksame Explosion eines Hypermotors den Frieden des ländlichen Nachmittags.

Und Jason schoß am Steuer seines kleinen Schiffs in die Nacht hinaus. Er jagte zum Mond zurück, beeilte sich aber nicht. Er schaltete auf konventionellen Antrieb, bis er die Grenze der Atmosphäre erreicht hatte. Erst dann schaltete er auf den unversehrten Hypermotor, um an Bord seines Schiffes in drei zeitlosen Sprüngen die der Erde abgewandte Seite des Mondes zu erreichen.

Bis er das vergrabene Expeditionsschiff erreicht hatte, waren vier Stunden Lokalzeit verstrichen. Als er sich der Stelle über dem verborgenen Schiff und dem Labyrinth der in das Mondgestein eingegrabenen Räume näherte, bekam er keine Antwort. Er öffnete den Tunnel, durch den er selbst das größere Schiff mit seinem kleinen Scout verlassen hatte, und stellte fest, daß das Expeditionsschiff seine Atemluft abgelassen hatte. Folglich mußte er erst wieder eine Atmosphäre aufbauen, ehe er weitergehen konnte.

In den Korridoren und in den Außenräumen des Schiffes war niemand zu finden.

Und als er den Turnsaal erreichte, lagen sie alle dort, wie er es erwartet hatte, in Reih und Glied, die Offiziere und der Kapitän etwas abseits von ihnen. Ohne Hoffnung, zur Heimatwelt zurückzukehren, mit einem verschlossenen Schiff und einem Schlüsselträger, der von einem fernen Feind getötet worden war, hatten sie ihr Leben auf ehrenwerte Weise beendet und sich hingelegt, um das Schiff für jene, die nach ihnen kommen würden, zu bewahren.

Er blickte auf sie. Tiefe Zuneigung überflutete ihn. Dann ging er an das Logbuch des Schiffes. Er schaltete den Recorder bis zu dem Zeitpunkt zurück, an dem er von dem Planeten aus angerufen hatte, und spielte das Log ab. Der Kapitän hatte das Gespräch mit ihm voll aufgezeichnet und dann eine Erklärung abgegeben. Er hatte mit den Worten geschlossen, die Jasons nicht zu Ende gesprochenen Segen beendeten, kurz bevor das kleine Schiff scheinbar auf dem Planeten unter ihnen vernichtet worden war.

Jason diktierte einen kurzen Bericht über seine Flucht und Rückkehr aus der Falle, die die Verhüllten Leute ihm gestellt hatten.

Das Expeditionsschiff hatte im Laderaum genügend Platz. Er trug die toten Leiber einen nach dem anderen dorthin, ordnete sie in Reih und Glied und schaltete die Klimaanlage des Raumes auf Weltraumtemperatur. Die Leichen würden ihren Familien auf der Heimatwelt zurückgegeben werden. Das war seinerseits keine notwendige, aber eine ehrenwerte Tat. Dann ging er in die Steuerzentrale zurück, sperrte die Steuerorgane auf und machte sich an die Arbeit.

Zwischen den einzelnen Hyperraumschiffen bestand kein großer Unterschied. Er konnte dieses große Schiff allein ebensogut steuern wie den kleinen Aufklärer, mit dem er den Ausflug zum Planeten der Verhüllten Leute vorgenommen hatte. Er setzte Kurs auf die Heimatwelt. Jetzt, da die Position dieses Sterns der Verhüllten Leute festgestellt war, machte dies keine Schwierigkeit. Die Computer des Raumschiffs konnten selbst Entfernung und Richtung berechnen. Im Gegensatz zu der Zeit, die der Herflug beansprucht hatte, sollte es ihm gelingen, die Heimatwelt in drei Sprüngen durch den Hyperraum zu erreichen. Höchstens zwei Tage Heimatzeit – beziehungsweise eineinhalb Tage, gemessen nach der Rotation der Welt der Verhüllten Leute.

Er steuerte das Schiff aus seinem Versteck unter der Oberfläche des Mondes heraus und übergab die weitere Programmierung den Computern. Dann begab er sich in seine eigene Kajüte.

Die Dinge lagen dort alle so, wie er sie zurückgelassen hatte. Er holte sich Nahrung aus einem Wandschränkchen und nahm sich auch eine der Alkoholkulturen. Aber als er die Bakterienkultur dann neben seine Papiere auf den Tisch gestellt hatte, wurde ihm klar, daß er sie nicht schlucken wollte.

Dies war ein Augenblick, der an sich berauschend genug war – ein Rausch, der die chemische Trunkenheit, die man aus solchen Kulturen gewinnen konnte, klein und nichtig erscheinen ließ. Er warf die Kultur in den Abfallschacht. Und dann fiel ihm plötzlich etwas ein.

Aus einer Tasche in dem Harnisch, den er unter den jetzt schon zu Asche gewordenen Hüllen getragen hatte, nahm er den Würfel mit dem Wurm. Er hatte doch vergessen, ihn dem Boden seiner Herkunft zurückzugeben. Nun, dafür würde schon ein andermal Gelegenheit sein …

Er hielt den Wurm in seinem transparenten Würfel ans Licht über seinem Schreibtisch. In diesem Licht schien der Wurm beinahe zu leben. Er schien sich zu drehen und sich vor ihm zu verbeugen, sein Königtum anzuerkennen.

Er legte den Würfel auf den Tisch und holte den Knopf mit seinem Minirecorder, um ihn in ein Wiedergabegerät zu schieben. Als er die Anlage einschaltete, verdunkelten sich die Lichter des Raums, und der Morgen jenes fremden Planeten, der ihn umfangen hatte, als er sein kleines Schiff verließ, leuchtete aufs neue in seiner Kajüte auf. Er machte es sich an seinem Podest bequem und verfolgte die Ereignisse des Tages, das Gespräch mit dem Eingeborenen am Strom, die Reise über das Förderband und den Abstieg in die unterirdischen Tiefen, sowie seine Rückkehr. Und in dem Augenblick, als er ausglitt und stürzte, wurde das Bild plötzlich schwarz, und der Ton setzte aus.

Offenbar war der Recorder bei dem Sturz gebrochen, dachte er. Die Aufzeichnung war also zu Ende. Schade, aber immerhin hatte er alles Wichtige registriert.

Er wollte schon aufstehen und das Gerät ausschalten – als es wieder hell wurde. Die Gestalt des Eingeborenen, den er an dem Fluß gesehen hatte, diesmal aber mit den Wänden eines Zimmers hinter sich, stand ihm gegenüber.

Der Eingeborene nahm den Behälter mit brennender Vegetation aus dem Mund.

„Ich grüße Euch und vertraue darauf, daß ich unter Freunden bin“, sagte er auf Ruml, und zwar so perfekt, wie seine Lippen und sein Mund es aussprechen konnten. „Ich begrüße Kator Zweitvetter Brutogas und all die ehrenwerten Familienoberhäupter, die jetzt auf der Heimatwelt zusehen werden …“

Kator sprang von seinem Podest.