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Die Tage und Nächte der Rumlheimatwelt waren kürzer als die Tage und Nächte der Erde. Aber weil Kator im Rumltag den normalen Tag sah, empfand Jason ihn genauso. Auf diese Weise befand Jason sich sozusagen in zwei unterschiedlichen Zeitsystemen – den Stunden, Tagen und Wochen der menschlichen Welt und den Zeitabschnitten der Ruml, die eineinhalbmal so schnell abliefen.
Die praktische Auswirkung davon war, daß Jason gelegentlich seine Kollegen in der Stiftung damit verwirrte, daß etwas, was in etwa einer Rumlwoche geschehen sollte, nach irdischen Begriffen bereits übermorgen erfolgte.
So ging es auch mit dem Duell, auf das Kator sich vorbereitete. Nach den Begriffen der Ruml war bis dahin noch etwa einen Monat Zeit, in irdischen Begriffen aber waren es nur etwas mehr als zwei Wochen. So verbrachte Jason seine Schlafstunden damit, Kators Ausbildung mit dem archaischen Rumlschwert mitzuerleben, während er die Tage dazu benützte, das, was er gesehen hatte, aufzuschreiben und zu skizzieren und Beziehungen zu irdischen Parallelen herzustellen.
Wie die meisten Leute, die den Zoologenberuf ergreifen, hatten ihn andere als menschliche Geschöpfe seit frühester Jugend, seit er zum erstenmal ein verwundetes Eichhörnchen, dem das Geschoß einer Luftpistole das Bein gebrochen hatte, wieder gesund gepflegt hatte, fasziniert. Das Mysterium der kleinen Universen von Leben und Tod, die in hohlen Bäumen und Erdlöchern existierten – ebenso wie im afrikanischen Hochland und im Busch, wo sich die Elefantenherden bewegten, und auf den ganze Ozeane umfassenden Jagdgründen der Mörderwale – hatte ihn immer wieder fasziniert. Jene traumhafte Erinnerung, als er im Frühling an den Hügelflanken der Rockies gelegen und durch seinen Feldstecher die Kämpfe der braunen Bären beobachtet hatte, war damals, als er ein kleiner Junge war, noch ein Zukunftstraum gewesen.
Es schien ihm, als gäbe es viel Gleiches zwischen allen Geschöpfen, den Menschen eingeschlossen. Sie alle waren verwandt. Sie waren wie Menschen ohne die Gabe der Sprache, mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Nöten und Sitten. Mit ein wenig – nur ein klein wenig – Verständnis, so war es ihm vorgekommen, sollte es möglich sein, wenigstens mit den höheren Säugetieren Verbindung aufzunehmen.
Als Junge hatte er sich ausgemalt, wie es wäre, wenn er eine Möglichkeit entdeckte, mit Wolf, Tiger und Bär zu sprechen. Als Heranwachsender hatte er diese Phantasien beiseite gelegt – aber trotzdem hatten sie ihn beinahe in die Bereiche der Psychologie und der Kommunikation geführt statt in seine erste Liebe, die Naturkunde.
Jetzt, da er sich in Verbindung mit Kator und dem Leben der Ruml befand, war der alte Traum in ihm wieder erwacht. Nur daß er jetzt ein Mann war und es eher eine Besessenheit denn ein Traum war.
Er verbrachte alle Zeit, die er vom Aufzeichnen und Skizzieren erübrigen konnte, in der Stiftungsbibliothek. Der unbestimmte, nebelhafte Schemen einer großen Entdeckung schien gerade außer Reichweite vor ihm zu fliehen, wie das verschleierte Versprechen einer Geschichte, die so wild und fremdartig war wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Er vergrub sich in W. Kohlers Mentalität der Affen, C. Loyd Morgans Das Verhalten der Tiere, Warden, Jankins und Warners Vergleichende Psychologie – bis Mele kommen und ihn finden mußte, um ihn wieder in die alltägliche Welt von Nahrung, Getränk, Schlaf und dem höchst fremdartigen Experiment selbst zurückzuholen, mit dem sie befaßt waren.
Eines Tages, beinahe zwei Erdwochen, nachdem Brodth die Ausbildung Kators begonnen hatte, suchte Mele Jason und fand ihn schließlich vor dem Bücherregal im sechsten Stock. Eine Sechzig-Watt-Birne beleuchtete die Regale und Jason. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und war völlig in seine Lektüre versunken. Auf dem Boden neben ihm lag Theodore H. Hittels Die Abenteuer des James Adams, Bergsteiger und Grizzlybärenjäger in Kalifornien. Aber das Buch, das er auf den Knien hielt und las, war Chalmers Die Kindheit der Tiere.
„Hier bist du also“, sagte Mele. „Die Mittagszeit ist schon vorbei und – hast du das vergessen? Nach dem Mittagessen ist eine Ausschußsitzung.“
„Oh!“ Jason blickte auf und erhob sich. „Tut mir leid.“ Er nahm seine Bücher. „Hast du auch noch nicht gegessen? Komm, geh voraus.“
Sie sah ihn an, machte eine halb unbewußte Handbewegung und hielt dann inne.
„Du könntest dir ja den Staub etwas abklopfen!“ sagte sie ärgerlich. „Im Speisesaal sind schließlich auch andere Leute.“
„Oh …?“ Er klopfte mit jener Hand, die keine Bücher hielt, auf seine Hose. Dann folgte er Mele die Treppe hinunter durch ihr Büro in den Haupttrakt des Stiftungsgebäudes.
Die Bar und der Speisesaal des Gebäudes – die Stiftung stellte für ihre wissenschaftlichen Mitglieder, die über die ganze Welt verstreut waren, eine Art Club dar – befanden sich im Erdgeschoß, in jenem Teil, der früher, als das Gebäude noch Bürozwecken diente, die Kantine gewesen war. Allerdings wären die früheren Mieter des Gebäudes über den Unterschied erstaunt gewesen. Der jetzige Speisesaal hatte schwere Tische, geschnitzte Stühle, schöne Teppiche und mit Holz verkleidete Wände.
Die Bar, ein kurzer, massiver Bogen aus Eichenholz, füllte eine Ecke des Raums, links vom Eingang. Und wenn man die schweren Doppeltüren des Eingangs zurückzog, hatte man eine kleine Fläche mit drei Tischen, die fast abgeteilt war, mit der Bar an einer Seite, der Wand an der anderen und einer Art Schirm, der von der schweren, nach innen geöffneten Tür gebildet wurde. Jason und Mele saßen normalerweise an einem dieser drei Tische – dem in der Ecke, am Ende der Bar. Und der Kellner hielt ihnen diesen Tisch auch üblicherweise frei.
Er hatte ihn auch heute freigehalten, was offensichtlich keine große Mühe bereitet hatte. Im ganzen Speisesaal waren nur drei weitere Tische besetzt – und keiner der drei in der Ecke. Jason und Mele setzten sich und bestellten. Jason legte seine Bücher auf den Tisch und schlug sofort wieder Chalmers Die Kindheit der Tiere auf.
„Nein, so geht das nicht“, sagte Mele. „Er nimmt auch einen Drink“, sagte sie zum Kellner, der, nachdem er ihre Bestellung entgegengenommen hatte, schon wieder weggehen wollte. „Einen Martini – und für mich auch einen.“
Jason wollte schon Einwände erheben, zuckte dann aber die Achseln und klappte den Chalmers zu. Er legte beide Bücher auf den Boden.
„So“, sagte er. „Aus den Augen, aus dem Sinn. Ist es so besser?“
„Ja“, sagte sie. Aber sie lächelte nicht dabei, sondern ihre Augen musterten besorgt sein Gesicht. „Nimmst du ab?“
„Das weiß ich nicht. Warum?“ fragte er. „Du kannst ja Heller fragen. Er führt Buch über mich.“
„Ich glaube, du solltest vor jeder Mahlzeit einen Drink nehmen“, sagte sie. „Und keine Bücher.“
„Ich könnte mir ja mal eine Nacht freinehmen?“ Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst. „Ich glaube, du verstehst das nicht ganz“, sagte er. „Ich bin zwar in dieser Geschichte hier Beobachter – aber ich muß mich auch etwas informieren, um zu wissen, nach was ich eigentlich Ausschau halten soll.“
„Du tust ja gerade, als müßtest du alles allein tun“, wandte Mele ein. „Später werden eine ganze Menge Versuchspersonen mitmachen. Warum kannst du es nicht bei dem belassen, was du ursprünglich getan hast: einfach beobachten und berichten.“
Ihre Drinks kamen, aber als der Kellner gegangen war, nahmen sie den Faden wieder auf.
„Du sagst die ganze Zeit, ich würde dich nicht verstehen“, griff Mele ihn an. „Nun, wenn es so ist, dann erkläre es mir. Sag mir, was ich nicht verstehe.“ Die Teller mit dem Essen wurden vor ihnen hingestellt, aber sie ignorierten es beide und lehnten sich auf den Tisch.
„Das versuche ich ja die ganze Zeit“, sagte Jason. „Du hörst mir nur nicht richtig zu. In dieser Situation gibt es eine ganze Anzahl kritischer Punkte, die außer mir keiner zu glauben scheint. Weißt du, wir haben wirklich nicht gewußt, worauf wir uns einließen. Es ist eine Frage der Instinkte, und zwar sowohl auf unserer Seite als auch auf der der Ruml. Und instinktive – oder, besser gesagt, früh erworbene – Verhaltensweisen sind sehr viel wirkungsvoller, als die Mitglieder des Ausschusses und insbesondere du zu erkennen scheinen …“
„He, ihr beiden da!“ unterbrach sie die Stimme von Thornybright. „Darf man Sie beide einmal stören? Ich hab’ hier jemand, den ich mit Ihnen bekannt machen möchte, und ich will nicht bis nach der Sitzung warten.“
Jason und Mele zuckten beinahe schuldbewußt zusammen. Sie hatten eindringlich aufeinander eingeredet und die Köpfe beinahe zusammengesteckt. Jetzt sah Jason, daß neben dem Psychologen ein hochgewachsener, athletisch schlanker Mann stand, das Haar so kurz und so sorgfältig geschnitten, daß man nicht sagen konnte, ob es grau oder einfach blond war. Das Gesicht war gebräunt, und er lächelte freundlich.
„Aber sicher“, sagte Jason. „Setzen Sie sich doch. Beide bitte.“ Er deutete auf die zwei freien Stühle an ihrem Tisch. „Ich lasse gleich den Kellner mit der Karte kommen.“
„Danke, wir haben schon gegessen“, sagte Thornybright und winkte ab. „Jason, Mele, ich möchte Ihnen Bill Coth vorstellen. Er ist Luftwaffengeneral – ein Drei-Sterne-General, im Augenblick mit einem Sonderauftrag des Weißen Hauses betraut. Wir arbeiten schon eine Weile zusammen.“
„Sind Sie Psychologe?“ fragte Mele. Coth lachte.
„Sozusagen mit der linken Hand“, grinste er. „Mit der rechten bin ich ein alter Barrashengst.“
Jason, der eine Bemerkung über die jungen Generäle in der Luftwaffe hatte machen wollen, hielt sich plötzlich zurück. Jetzt, wo er genauer hinsah, entdeckte er die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln von Coth. Das jugendliche Aussehen des Mannes täuschte. Coth war den Fünfzigern gewiß näher als den Vierzigern.
„Ich habe Bill erzählt …“ sagte Thornybright, „aber essen Sie nur weiter, lassen Sie sich durch uns nicht stören … Ich habe Bill von der Arbeit erzählt, die Sie geschrieben haben, ich meine, die über die Braunbären und ihre jahreszeitlich unterschiedliche Kampflust.“
„Wohl auch mit der linken Hand Zoologe?“ fragte Jason und schluckte hastig ein Stück Fleisch hinunter, das bereits anfing, kalt zu werden.
„Mir fehlt die zusätzliche linke Hand, die ich dafür benötigen würde“, sagte Coth lachend. „Nein, ich interessiere mich nur privat für dieses Thema. Ich hab schon als Junge immer viel für Tiere übrig gehabt.
Ich wußte nie recht, ob ich Zoologie oder Psychologie studieren sollte. Aber dann hat mich eben die Akademie in Denver aufgefordert …“ Er zuckte die Achseln. „Aber alles, das mit Kämpfen zu tun hat, fällt ja in die Zuständigkeit meiner rechten Hand. Ich habe mir gedacht, daß ich gern eine Kopie Ihrer Arbeit lesen möchte, aber ich habe bisher keine bekommen können.“
„Es handelt sich um eine Vorlesung, und die Arbeit ist nicht veröffentlicht worden“, sagte Jason. „Ich hab auch keine überzählige Kopie, aber die Stiftung hat bestimmt eine. Ich hatte mir damals mein Manuskript fotokopieren lassen.“ Er sah Mele an. „Ob die Stiftung vielleicht eine Kopie hat?“
„Das kann ich feststellen.“ Sie lächelte Coth zu, und Jason empfand dabei einen Anflug von Ärger, obwohl er wußte, daß sie nur deshalb lächelte, um ihn eifersüchtig zu machen.
„Dafür wäre ich dankbar“, sagte Coth. Und dann erzählte er eine Anekdote, die mit den Schwierigkeiten beim Auffinden bestimmter Schriften in der Kongreßbibliothek zu tun hatte. Jason wandte sich wieder seinem Essen zu. Als er fertig war, sah Thornybright auf seine Armbanduhr.
„Nun“, meinte der Psychologe. „Bill, ich glaube, wir drei müssen Sie jetzt allein lassen. Die anderen warten bestimmt schon in der Bibliothek auf uns, um mit der Sitzung zu beginnen.“
Sie standen auf, und Coth schüttelte Jason die Hand.
„Glauben Sie bloß nicht, daß ich Ihr Selbstbewußtsein ungebührlich heben will“, sagte der General. „Aber ich habe einige Ihrer Artikel im Natural Science Magazin gelesen – und die haben mich wirklich fasziniert.“ Sein Lächeln wirkte echt, und sein Händedruck war fest. Jason schämte sich jetzt ein wenig über den Ärger, den er bei Meles Lächeln empfunden hatte.
Thornybright hatte recht gehabt. Die anderen warteten schon auf sie, und so wurde die Sitzung sofort nach ihrem Kommen eröffnet. Man verzichtete auf die Verlesung des letzten Sitzungsprotokolls, und Jason wurde aufgefordert, über die letzten Ereignisse auf der Rumlwelt Bericht zu erstatten.
Jason begann mit dem Bericht, den Kator im Prüfungszentrum abgegeben hatte, erzählte dann von der geschäftlichen Besprechung bei dem Makler und schloß mit den Übungsstunden, die sein Kontaktmann inzwischen in Brodths Fechtschule absolviert hatte.
Anschließend bat Thornybright um Fragen.
„Was dieser Prüfer da erwähnte – ich meine wegen der Expedition“, fragte Heller. „Was verstehen die unter ‚Expedition’, Jason? Und wußte Ihr Kontakt, Kator, etwas darüber, ob eine Expedition ausgeschickt wurde, oder vermutete er es?“
„Er scheint es für selbstverständlich zu halten“, sagte Jason und runzelte die Stirn.
„Und was darunter zu verstehen ist – er hat damals bloß eine Sekunde lang darüber nachgedacht, aber der Eindruck, den ich gewann, war, daß es sich um ein einziges Forschungsschiff handelte und nicht um eine ganze Schiffsflotte mit Angriffs- oder Besatzungsplänen.“
„Verbessern Sie mich bitte, wenn ich etwas Falsches sagen sollte“, meinte Thornybright. „Aber ist das Wort Expedition nicht vorher schon einmal erwähnt worden? Hat nicht der erste Brutogas eine Expedition unternommen, von der er dann mit nur zwölf Begleitern zurückkehrte, die er später tötete? Ich hatte den Eindruck, daß ‚Expedition’ eindeutig eine Art Eroberungsfeldzug bedeutet.“
Wieder furchte Jason die Stirn und suchte seine Erinnerung ab. Es war ein höchst eigenartiger Vorgang, eine Frage aus der Sicht seiner menschlichen Erinnerungen unbeantwortet lassen zu müssen, um dann aus den fremden Eindrücken, an die er sich als Kator erinnerte, eine Antwort auszugraben.
„Tut mir leid“, sagte er nach einer Weile. „Das ist meine Schuld. Es war nicht dasselbe Wort. Ich habe einfach den Begriff ‚Expedition’ verwendet, um beide Begriffe in unsere Begriffswelt zu übertragen. Die Worte sind beinahe dieselben, und beide bedeuten im Wesen ‚Expedition’. Aber es gibt tatsächlich einen Unterschied. Die Expedition des Brutogas war eine Expedition, die der Eroberung diente. Und was der Prüfer erwähnte, war eine Expedition mit dem Ziel der Forschung und Berichterstattung. Die Verwirrung entsteht …“ Jason hielt inne und suchte erneut in seinen fremden Erinnerungen. „Die Verwirrung kommt daher, weil beide Arten von Expeditionen die ersten wären, die in diese bestimmte Richtung ausgeschickt werden.“
„Worin liegt denn der Unterschied?“ wollte Dystra wissen. „Warum eine Eroberungsexpedition zu der Welt des Brutogas und eine Forschungsexpedition zur Erde?“
„Auf der Welt des Brutogas gab es keine eingeborenen Intelligenzen!“ sagte Jason und ärgerte sich über sich selbst. „Natürlich! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?“
„Dann“, meinte Thornybright interessiert, „wäre die Expedition zur Erde vielleicht nur eine Vorstufe, um zum Beispiel diplomatische Beziehungen zu uns aufzunehmen?“
„Nein …“ Das Wort hatte kaum Jasons Lippen verlassen, als er erkannte, daß der Psychologe ihn hereingelegt hatte.
„Warum sagen Sie nein?“ bohrte Thornybright. „Welchen Zweck könnte sie sonst haben?“
„Uns auszukundschaften“, sagte Jason grimmig.
„Mit dem Ziel, uns zu erobern?“
„… Ja“, sagte Jason.
„Sie haben etwas gezögert, ehe Sie diese Antwort gaben“, sagte Thornybright. „Warum sollten sie spionieren, wenn sie nicht an Eroberung denken? Oder ist ‚Eroberung’ auch nicht das richtige Wort?“
„Ich weiß nicht, ob ich das beantworten kann“, sagte Jason vorsichtig.
„Sie sollten es vielleicht versuchen“, sagte Dystra. Alle sahen ihn an. Jason war verbittert. Es hatte keinen Sinn, diesen Männern, die eine Antwort hören wollten, auszuweichen. Und Thornybright – ebenso wie Dystra – würden nicht lockerlassen.
„Immer, wenn sie in der Vergangenheit intelligente oder halbintelligente Rassen entdeckt haben“, sagte Jason zögernd, „haben sie sie entweder vernichtet, als sie ihre Welten übernahmen, oder sie zu einer Art von Haustieren gemacht. Aber …“
„Warum haben Sie uns das nicht schon früher gesagt?“ wollte Thornybright wissen.
„Aber …“ fuhr Jason fort, „wie ich gerade sagen wollte, haben sie bis jetzt nur zweimal in diesem Sinne bewohnte Welten gefunden. In beiden Fällen war weder die Intelligenz dieser Rassen noch ihre Zivilisation der unseren auch nur annähernd vergleichbar. Die höhere der beiden befand sich vielleicht auf der gleichen Stufe wie die des Pithecanthropus, wie er vor zweihunderttausend Jahren auf der Erde lebte, mit einem Gehirn von etwa zwei Drittel des Gehirnvolumens des heutigen Menschen. Im Wesen der Ruml konnte ich bis jetzt nichts entdecken, das mich zu der Annahme brächte, sie seien unfähig, mit Wesen, die geistig und kulturell auf der gleichen Ebene wie sie stehen, auch gewaltlos in Kontakt zu treten. Die Aussendung einer Expedition ist bei ihnen völlig normal und routinemäßig …“
„Jason“, unterbrach Dystra ruhig. Jason verstummte. „Ich glaube“, sagte der Physiker, „wir haben die Bedeutung des Wortes ‚Eroberung’ in diesem Zusammenhang aufgeklärt. Hat sonst noch jemand etwas dazu zu sagen?“ Er sah sich am Tisch um. „Gut. Dann schlage ich vor, daß wir jetzt zu der Frage kommen, die wesentlich wichtiger ist. Jason …“ Seine Augen unter ihren buschigen Brauen bohrten sich in Jasons Gesicht. „Sie scheinen der Annahme zu sein, daß Ihr Kontakt, Kator, dieses Duell gewinnen wird.“
„Ja, das glaube ich“, sagte Jason.
„Das glauben Sie“, sagte Dystra. „Dieser Fechtmeister- Brodth – scheint Ihre Ansicht zu teilen, und er ist ja schließlich Fachmann.“ Sein Blick wanderte zu dem einzigen Arzt am Tisch. „Allan, was halten Sie davon? Wenn Jason mit diesem Kator in Kontakt ist und Kator in dem Duell getötet wird, was geschieht dann?“
Allan Creel schürzte die Lippen.
„Das kann ich nur vermuten“, sagte er. „Wir konnten schließlich nicht eine unserer freiwilligen Versuchspersonen töten, als wir diese Geräte testeten. Wenn der Ruml getötet wird … nun …“ Er zögerte.
„Ich will es ganz brutal ausdrücken“, sagte Dystra. „Würde Jason auch sterben?“
„Nun …“ sagte Creel, „es gibt keine eindeutigen Gründe dafür … andererseits wäre der psychische Schock natürlich äußerst schwerwiegend. Jemand, der zum Beispiel ein schwaches Herz hätte, wäre zweifellos in Gefahr. Jason befindet sich natürlich in ausgezeichneter Kondition, sonst hätten wir ihn nicht für diese Arbeit ausgesucht. Trotzdem wird er Kators Reaktionen teilen. Er wird, psychisch meine ich, im gleichen Augenblick wie Kator sterben. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß die Verbindung zwischen ihnen kurz vor dem Augenblick des tatsächlichen Todes abreißt. In diesem Fall gäbe es überhaupt keinen psychischen Schock. Jason würde einfach feststellen, daß kein Kontakt mehr besteht.“
„Aber insgesamt betrachtet“, Dystra schlug leise mit der Faust auf den Tisch, „insgesamt betrachtet, würden Sie jedenfalls nicht raten, mit einem fremden Geist im Augenblick seines Todes in Verbindung zu bleiben?“
„Raten? Natürlich nicht!“ sagte Creel. „Ich würde nachdrücklich davon abraten. Und …“ Er wandte sich um und sah Jason an. „Und das tue ich jetzt auch. Ich rate davon ab.“
„Ich glaube nicht“, sagte Jason nachdenklich, „daß Kator dieses Duell verlieren wird.“
„Aber wenn er es doch verliert?“ fragte Dystra.
„Wenn er es verliert …“ Jason hielt inne und fing dann von neuem an. „Nun, wenn er es verliert, können wir es immer noch nicht riskieren, das aufzugeben, was wir zwischen jetzt und dem Zeitpunkt des Duells noch von ihm erfahren können. Sobald der Kontakt einmal abgebrochen ist, ist es wahrscheinlich, daß man ihn nicht wiederherstellen kann. Sie erinnern sich doch daran, daß wir das bei unseren Tests mit anderen Menschen festgestellt haben. Und wenn zwei Menschen einen einmal abgerissenen Kontakt nicht wiederherstellen können, dann sind die Chancen der Verbindung mit einem fremden Wesen noch sehr viel geringer – insbesondere, da der Fremde nicht einmal weiß, daß wir einen Kontakt mit ihm haben, und wir zudem zweihundert Lichtjahre voneinander entfernt sind.“
„Ich glaube nicht“, wandte Thornybright ein, „daß wir das Recht haben, uns hier dafür zu entscheiden, Jasons Leben zu riskieren – sein Leben oder einen sonstigen Schaden, den er erleiden könnte.“
„Sie brauchen nicht …“, begann Jason, aber Thornybright ließ ihn nicht aussprechen.
„Ich bin noch nicht fertig, Jason. Was ich sagen wollte …“ Der Psychologe klopfte mit dem Finger auf den Tisch. „Und ich will damit Jason in keiner Weise beleidigen oder ihm eine Schuld geben – ist einfach, daß das ganze Experiment uns völlig entglitten ist.“
„Völlig?“ fragte Heller und hob die Brauen.
„Ich habe das Wort bewußt gewählt.“ Thornybright sah den Biologen an, ehe er sich wieder der ganzen Versammlung zuwandte.
„Wir alle hier – mit Ausnahme von Mele – haben die Verantwortung gegenüber einem Experiment, in dem es nicht nur um eine menschliche Versuchsperson, sondern vielleicht um die Zukunft der ganzen menschlichen Rasse geht. So wie die Dinge jetzt liegen, besteht die Möglichkeit, daß eine fremde Rasse, die uns zahlenmäßig weit überlegen ist und die in der Weltraumfahrt sehr viel mehr Erfahrung hat als wir, unsere Welt angreifen könnte. Unser einziger menschlicher Kontakt mit dieser Rasse, unser Guckloch in ihre Welt, läßt erkennen – entschuldigen Sie, Jason, aber ich sehe das wirklich so –, läßt erkennen, daß er mit dem fremden Geist, mit dem er in Verbindung ist, zumindest sympathisiert, wenn er nicht sogar in seinem Unterbewußtsein von ihm beeinflußt wird …“
„Augenblick mal!“ unterbrach ihn Jason. „Ich kann nicht zulassen, daß das zu Protokoll genommen wird, ohne daß ich etwas dazu sage. Ich streite entschieden jeglichen Einfluß, unbewußt oder bewußt, ab. Und was meinen Wunsch betrifft, mit dem Fremden zu sympathisieren …“
„Ich glaube nicht, daß Sie bewußt mit ihm sympathisieren“, sagte Thornybright. „Allein schon die Tatsache, daß Sie Kators emotionellen Wunsch teilen, seine eigenen Ziele zu erreichen, könnte Sie dazu veranlassen, sich in einem Maße mit jenen Zielen zu identifizieren, daß Ihr menschliches Urteilsvermögen dadurch beeinflußt werden könnte. Können Sie mir in die Augen sehen und mir garantieren, daß seit dem ersten Kontakt nichts dergleichen geschehen sein kann?“
Jason machte den Mund auf und schloß ihn dann wieder. Dann sagte er: „Ich bin absolut sicher, daß nichts dergleichen geschehen ist.“
„Aber garantieren können Sie es nicht“, sagte Thornybright. „Ich will fortfahren. Abgesehen von dem, was ich bereits erwähnt habe, entwickelt sich hier eine Situation, in der unsere menschliche Versuchsperson im schlimmsten Falle ihr Leben riskieren muß.“ Thornybright sah sich um und blickte jedem der Anwesenden ins Gesicht. „Ich will jetzt nicht sagen, daß wir abstimmen sollten, um Jason dazu zu veranlassen, den Kontakt abzubrechen, ehe das Duell ihn gefährdet. Ich will aber sagen, wie ich das schon früher in diesem Raum gesagt habe, daß es an der Zeit ist, dieses Experiment den zuständigen Behörden zu übergeben. Uns steht die Entscheidung nicht zu – weder im Hinblick auf Jasons Leben, noch wenn es um den Angriff einer fremden Zivilisation auf unserer Welt geht.“
„Was mein eigenes Leben angeht“, sagte Jason, „so bestehe ich darauf, daß die Entscheidung darüber einzig und allein mir zukommt.“
„Dann verbleibt jedenfalls noch die andere Hälfte der Entscheidung“, sagte Thornybright. „Ich habe …“ Er beugte sich vor. „Ich habe heute einen Mann zum Mittagessen mitgebracht, einen Drei-Sterne-General der Luftwaffe, William Coth. Ich habe ihn soeben Jason und Mele vorgestellt. Er ist ein guter Mann, er hat Sonderaufgaben der Verwaltung absolviert, und er hat einen Sinn für wissenschaftliche Arbeit – und damit auch den gebotenen Respekt für die Arbeit eines Forschers. Wenn wir jetzt entscheiden – anstatt bis zur letzten Minute zu warten –, dieses Projekt der Regierung zu übergeben, bin ich sicher, daß man unsere Wünsche hinsichtlich des Mannes, der die Leitung übernehmen soll, respektieren wird. Coth ist von unserem Standpunkt aus ideal für diese Position geeignet.“
Er wandte sich zu Jason und Mele.
„Sie haben ihn beide kennengelernt“, sagte er. „Welchen Eindruck hat Bill Coth auf Sie gemacht?“
„Ich …“ begann Mele zögernd, aber Jason schnitt ihr das Wort ab. „Er hat mich sehr beeindruckt“, sagte Jason. „Ich bin sicher, daß Tim ihn richtig beurteilt. Aber die Frage, die wir zu entscheiden haben, lautet nicht, wem wir das Projekt übergeben müssen; sie lautet, ob wir es übergeben müssen. Wahrscheinlich – in dem Punkt gebe ich Tim recht – könnten wir keinen besseren Mann als Coth finden. Aber ich sage immer noch, daß wir bis zur letzten Minute in diesem Experiment unabhängig bleiben sollten. Dieses Duell mit Kator ist von entscheidender Wichtigkeit. Ich will es miterleben. Und niemand außer dem Ausschuß soll dabei hinter mir stehen.“
„Ich schlage vor, daß wir abstimmen“, sagte Dystra.
„Ich unterstütze den Antrag“, sagte Heller schnell.
„Einspruch“, sagte Thornybright. „Ich schlage vor, daß wir den Punkt weiter diskutieren.“
„Abstimmung über den ersten Antrag“, sagte Dystra. „Ich bitte um Handzeichen …“
Wie immer bisher war das Ergebnis unentschieden. Und damit lag die Entscheidung wieder bei Jason.
„Ich schlage vor“, sagte Jason langsam, „die Kontrolle über dieses Experiment bei diesem Ausschuß zu belassen und das Duell mit Kator mitzumachen, ob er nun getötet wird oder nicht. Hierfür stimme ich.“
Er sah Thornybright an. Die Augen des Psychologen waren undurchdringlich. Als Jason den Blick von ihm abwandte, spürte er, daß Meles Augen auf ihm ruhten.
Es war schwerer, diesen Augen auszuweichen. Er erinnerte sich, was Creel vorhin gesagt hatte. Wenn Kator starb, während Jason mit ihm in Verbindung war, konnte auch er sterben. Und dann erinnerte er sich an etwas, was er gelegentlich beinahe vergaß – nämlich, daß Mele ihn liebte.