13
Das Expeditionsschiff beförderte achtundfünfzig Expeditionsmitglieder. Hierin waren der Kapitän und der Schlüsselträger mit inbegriffen.
Kurze Zeit nachdem sie von der Heimatwelt der Ruml gestartet waren, wandte sich Jason über das Interkomsystem des Schiffs an alle Expeditionsmitglieder. Er stand in der Steuerzentrale in der vorderen Schiffshälfte, dem Raum, in den die Quartiere des Kapitäns und des Schlüsselträgers mündeten. Der Kapitän stand neben ihm.
„Mitglieder der Expedition“, sprach er zu der Aufnahme-Kamera vor ihm. „Ihr alle wißt, daß wir den Auftrag haben, diese Expedition zur Welt der Verhüllten Leute erfolgreich durchzuführen und dann wieder mit Informationen nach Hause zurückzukehren, die es uns erlauben, jene Welt zu besiedeln. Für uns alle ist dies eine große Chance. Sobald die Welt für die Besiedlung freigegeben wird, werden wir alle als Mitglieder der Expedition in der Lage sein, uns niederzulassen und unsere eigenen Familien zu gründen. Ebenso wurden die sechs Welten, die die Rumlrasse außerhalb der Heimatwelt besitzt, kolonisiert, und ebenso wurden ihre führenden Familien gegründet.“
Er hielt inne. Er konnte sie sich bildhaft vorstellen, wie sie jetzt überall im Schiff standen, ehrenhaft, aufrecht und gespannt zuhörend.
„Der Erfolg dieser Expedition“, fuhr er fort, „muß uns deshalb in Ehren sehr viel mehr bedeuten als irgend etwas anderes in unserem Leben. Ich, euer Schlüsselträger, gebe mich ganz dieser Bedeutung hin. Ich verspreche euch allen die gleiche unparteiische Haltung, die ihr von den Oberhäuptern eurer eigenen Familien erwarten würdet. Und ich verpflichte mich selbst, mit einem Forschungsbericht über den Planeten der Verhüllten Leute zur Heimatwelt zurückzukehren, der diese Expedition rechtfertigen wird. Ich verpflichte mich, eine perfekte Expedition durchzuführen …“
Wieder hielt er inne.
Er spürte ein Singen in seinen Adern, ein Aufwallen jener Kraft und jenes Vertrauens, das er zum erstenmal verspürt hatte, als er auf das Artefakt gestoßen war, und das ihn dann das Duell mit Hurrag erfolgreich hatte überstehen lassen.
„Ich befehle euch“, sagte er noch lauter, „das Wort zu beachten, das ich gerade benutzt habe – das Wort ‚perfekt’. Ich habe mich einer perfekten Expedition hingegeben. Und ich erinnere euch an die Schriften des Morahnpa, Führer der ersten Expedition, die die Heimatwelt je ausgeschickt hat. Der Morahnpa schrieb damals: ‚Wenn alle Dinge perfekt erledigt werden, wie kann dann ein Fehler oder ein Versagen sich in eine Operation einschleichen, in der die Dinge so durchgeführt werden?’ Eine ähnliche Hingabe erwarte ich von euch allen.“
Er wandte sich vom Bildschirm ab und sah den Kapitän an, der neben ihm stand. Dessen Augen ruhten auf ihm.
„Schlüsselträger“, sagte der Kapitän. „Ihr seid noch nie Schlüsselträger auf einer Reise gewesen?“
„Das weißt du“, sagte Jason.
„Ich bin auf dreizehn Reisen Kapitän gewesen“, sagte der Kapitän, „und ich habe einiges über die Männer auf den Schiffen gelernt, ob das Schiff sich nun auf einer Expedition oder einer anderen Reise befindet. Es gibt zwei Arten, wie man Männer kommandieren und erwarten kann, daß sie gehorchen. Man kann als Mann kommandieren – dann werden sie einem auch als Mann gehorchen, das heißt nicht perfekt, aber verläßlich. Oder man kann als Gründer kommandieren, und sie werden einem blind und bis zum Tod und ohne Frage folgen. Aber als Mann kann man Fehler machen. Als Gründer nicht.“
„Ich folge dorthin“, sagte Jason, „wo der Zufallsfaktor mich hinführt.“
„Wenn Ihr in Euren Befehlen und Handlungen Anspruch auf den Zufallsfaktor erhebt“, sagte der Kapitän, „gibt es keine Alternative. Ihr wißt das selbst, Schlüsselträger. Einer, der sich in seinen Handlungen auf den Zufallsfaktor beruft und später versagt, muß vernichtet werden; wenn die Erfahrung versagt, so mag man erneut einen Versuch wagen und beim zweitenmal Erfolg haben. Aber es kann kein zweites Mal geben, wenn die Rasse sich aus ihren besten Mitgliedern entwickeln soll.“
„Das weiß ich“, sagte Jason. „Ich habe es gewußt, als ich das fremde Artefakt erblickte.“
Der Kapitän neigte den Kopf. „Ist es dann ein Mann oder ein Gründer, den wir als Schlüsselträger haben?“ fragte er. „Ich habe das Recht, das zu wissen – und die Mannschaft wird es zu gegebener Zeit erfahren.“
Jason sah den Älteren voll an.
„Ein Gründer“, sagte er.
Das Gesicht des Kapitäns war ohne jeden Ausdruck. Wieder neigte er den Kopf.
„Ehrenwerter“, sagte er, „darf ich mich jetzt um meine Pflichten kümmern?“
„Ja“, sagte Jason.
Und der Kapitän wandte sich den Instrumenten zu, die alle Wände der Steuerzentrale bedeckten.
Jason drehte sich um und verließ die Zentrale. Er ging durch die Korridore des Schiffs und inspizierte alles. Als Schlüsselträger gehörte es zu seiner Aufgabe, sich zu vergewissern, daß sie Schlösser stets unversehrt waren. Es durfte an Bord keine unehrenwerten Handlungen geben, keine Kämpfe, keine Verbrechen, die ungelöst blieben, weil jemand sich geschickt an den Schlössern zu schaffen gemacht und damit die Sicherheit der Besatzung beeinträchtigt hatte. Die Mitglieder dieser Expedition waren natürlich sorgfältig ausgewählt, und allesamt waren sie Männer von großer Ehre. Verbrechen und unehrenhafte Handlungen waren daher beinahe undenkbar. Aber was Kämpfe anging – in einem Ruml konnte keine Ehre stecken, wenn er kein Selbstbewußtsein besaß. Und wo viele Männer auf engem Raum zusammengedrängt leben, mußte es zwangsläufig Konflikte geben.
Die wenigen Mitglieder der Mannschaft, denen er begegnete, salutierten und wandten sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Das Schiff war voll besetzt, jeder Posten mit drei Mann, und deshalb hatte nur der dritte Teil von ihnen im Augenblick Dienst. Jason untersuchte die Turnhalle, den Frachtraum im unteren Teil des Schiffs und die Konstruktionsabteilung der Werkzeugmaschinen, die den Mittelteil des Schiffs außerhalb der Mannschaftsquartiere einnahmen. Schließlich ging er die beiden Korridore hinunter, an denen die Mannschaftsquartiere lagen, und überprüfte dort sämtliche Schlösser.
Jeweils nach vier oder fünf Türen schloß er willkürlich eine auf, um seine Schlüssel zu überprüfen. Wenn ein Schlüsselträger dies tat, so war dies keine Verletzung des Privatlebens und des Schutzes, den jedes Mannschaftsmitglied genoß. Hinter den ersten sechs oder acht Türen fand er niemanden. Die meisten Leute trainierten im Turnsaal. Aber als er die siebte Tür öffnete, sah er einen Mann auf einer Pritsche liegen und lesen.
Der Mann sprang sofort auf und salutierte. Jason starrte ihn an.
„Bela!“ sagte er. Es war sein Zweitvetter unter den Brutogasi.
„Ich stand zur Wahl“, sagte Bela. Sie sahen einander an, und Jason verspürte eine Aufwallung von Zuneigung zu diesem vertrauten Mitglied seiner eigenen Familie. Aber bei dem Rangunterschied, der zwischen ihnen herrschte, und den besonders strengen Bordvorschriften, konnte er diese Zuneigung natürlich nicht zum Ausdruck bringen.
„Schön, daß du bei uns bist“, sagte Jason und ging hinaus. Er schloß die Tür sorgfältig. Von allen Mitgliedern der Mannschaft sollte gerade Bela nicht im Schlaf angegriffen werden – so wie der arme Aton Mutteronkel von seinem Partner angegriffen worden war.
Jason ging in sein eigenes Quartier zurück. Dort hatte er den Wurm in seinem Plastikwürfel auf einen kleinen Tisch neben ein Modell des Artefakts gestellt. Er legte die Schiffsschlüssel daneben und kauerte davor nieder. Er spürte, wie der Zufallsfaktor ihn wie ein mächtiges Licht von innen heraus erleuchtete. Und in diesem Schein umfaßte seine Hingabe Bela, Aton, der gewesen war, diese Mannschaft, seine Familie und alle Ruml. Und von der Ekstase seines Traumes hingerissen, sank Jason auf dem Boden zusammen.
In den paar Tagen darauf sprang das Schiff in einem Sprung in den etwa drei Lichtjahre umfassenden Bereich, in dem den Berechnungen zufolge der Planet der Verhüllten Leute sein mußte. Es gab nur zwei mögliche Sternsysteme in dieser Gegend – und beide glichen sich darin, daß ihre Sonnen kleine gelbe Sterne waren und daß beide mehr als ein halbes Dutzend planetarer Körper besaßen, die sie umkreisten – das konnte man magnetometrisch erkennen.
Nur ein Planet des näheren Systems bot die Möglichkeit zur Entwicklung einer Rasse, die in irgendeiner Weise der der Ruml ähnlich war. Auf Anweisung des Schlüsselträgers wurde dieser Planet untersucht und als unbewohnt und auch unbewohnbar befunden – er besaß nämlich kein Wasser. Alle Unternehmungsergebnisse wurden gründlich aufgezeichnet und dokumentiert für den Fall, daß die spätere wissenschaftliche Entwicklung zu einer Möglichkeit führen sollte, auch solche Welten für Ruml-Kolonisten bewohnbar zu machen. Und dann sprang das Schiff in die nahe Umgebung der anderen Sonne mit ihrem möglichen System bewohnbarer Welten.
Am Ende dieses Sprunges summte das Signal des Kapitäns. Jason, der sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Kajüte befand, meldete sich über das Bordfernsehen.
„Es hat einen Streit zwischen zwei der Männer gegeben“, sagte das Gesicht des Kapitäns am Bildschirm.
„Ich komme sofort“, sagte Jason und sprang auf. „Ruft die Mannschaft im Turnsaal zusammen.“
Als er im Turnsaal eintraf, warteten die Männer in zwei Reihen. Zwischen den beiden Reihen standen die beiden Raufbolde und vor ihnen der Kapitän mit einem tragbaren Tisch, der vor ihm aufgebaut war. Auf dem Tisch lagen Papiere – die Akten der in aller Eile bereits durchgeführten Untersuchung.
Jason trat neben den Kapitän und blickte über den Tisch hinweg die beiden Männer an, die gekämpft hatten. Sein Magen verkrampfte sich. Einer der beiden war Bela.
„Die Papiere?“ fragte er und wandte sich damit dem Kapitän zu.
„Hier, Ehrenwerter.“ Der Kapitän gab ihm die Papiere, die bereits auf dem Tisch gelegen hatten. Jason las. Die beiden Kämpfer waren Bela und einer der Antoniti. Keiner hatte das Recht der Aussageverweigerung beansprucht. Beide hatten in aller Offenheit berichtet, und die Aussagen stimmten überein. Der Antoniti war zu dem Schluß gekommen, daß Bela die Arbeit des Antoniti an Bord des Schiffes für nicht gründlich genug hielt. Deshalb hatte der Antoniti Bela angegriffen, ohne zuerst eine Herausforderung abzuwarten. Bela hatte sich gewehrt.
Jasons Magenmuskeln lockerten sich. Bela hatte ganz offensichtlich keine andere Wahl gehabt. Einmal angegriffen, konnte er in Ehren nichts anderes tun als kämpfen, selbst wenn er sich normalerweise zurückgehalten hätte. Man mußte ganz einfach den Antoniti verurteilen und Bela von der Schuld freisprechen.
Aber gerade als er eben das sagen wollte, kam Jason eine Idee. Eine so plötzliche und so zweckmäßige Idee, daß sie nur dem Zufallsfaktor entsprungen sein konnte, der überhaupt dazu geführt hatte, daß Bela in den Kampf verwickelt worden war. Daß auf einer Reise dieser Dauer und bei einer Mannschaft von achtundfünfzig Männern einige Kämpfe stattfinden würden, war unvermeidbar. Aber es war alles andere als unvermeidbar, daß der Zufallsfaktor gerade beim ersten Kampf dazu geführt hatte, daß Jasons Zweitvetter in ihn verwickelt war. Jason blickte auf.
„Der Antoniti“, verkündete er, „gibt selbst zu, daß er den Streit begonnen hat. Normalerweise würde nur er allein verurteilt werden. Ich halte es jedoch für notwendig, euch jetzt daran zu erinnern, daß ich bei Beginn dieser Reise verkündet habe, daß ich von euch allen perfekte Arbeit erwarte. Nur den Antoniti hinzurichten, würde dazu führen, daß einer von denen, die die Expedition durch einen Kampf besudelt haben, unter uns bleibt. Demzufolge spreche ich Bela Zweitvetter Brutogas zwar hiermit von jeglicher Schuld an diesem Zwischenfall frei und trage auch mein Urteil, daß er sich ehrenhaft verhalten hat, in mein Logbuch ein – aber ich verurteile ihn hiermit ebenfalls.“
Er sah Bela und den Antoniti an. Belas Augen wichen ihm nicht aus.
„Mein Urteil als Schlüsselträger ist hiermit gesprochen“, sagte er.
Er trat vom Tisch zurück und wandte sich um. Hinter sich hörte er das Brüllen der Mannschaft, die sich über die zwei Verurteilten warfen und ihnen die Kehlen herausrissen. Langsam ging er allein durch die Korridore zu seiner eigenen Kajüte zurück. Erst als er sich wieder hinter seiner verschlossenen Tür befand, gab er sich dem Leid hin, das ihn zu überwältigen drohte.
Er kauerte vor dem Tisch nieder, auf dem stumm und reglos der Wurm in seinem durchsichtigen Würfel stand. Seine Trauer ließ ihn am ganzen Körper zittern. Erst Aton Mutteronkel. Und jetzt Bela. Wen würde der Zufallsfaktor als nächsten von ihm fordern – sein Familienoberhaupt, den Brutogas selbst?
Die Tür hinter ihm verkündete, daß der Kapitän draußen war und ihn zu sprechen wünschte. Jason riß sich zusammen und stand auf.
Er ließ den Kapitän ein und versperrte die Tür hinter dem Älteren. Der Kapitän salutierte.
„Ja?“ sagte Jason.
„Ehrenwerter“, sagte der Kapitän, und aus seiner Stimme klang tiefer Respekt. „Ich möchte Euch wegen des notwendigen Todes Eures Verwandten mein Mitgefühl aussprechen.“
„Ich danke Euch“, sagte Jason.
„Und, Ehrenwerter …“ Der Kapitän zögerte. „Die Mannschaft hat mich beauftragt, Euch ebenfalls in ihrem Namen ihr Beileid auszusprechen.“
„Danke.“
Der Kapitän zögerte immer noch.
„Noch etwas?“ fragte Jason.
„Ja, Ehrenwerter.“ Das Gesicht des Kapitäns war von seinen aufgewühlten Gefühlen starr. „Ich wollte noch etwas sagen, Schlüsselträger. Ich glaube, daß die Mannschaft dieses Schiffes Euch jetzt überallhin folgen wird, Schlüsselträger. Als wir starteten, sagte ich, daß es zwei Arten von Führern gibt, denen Männer folgen. Männer und Gründer. Ehrenwerter“, sagte der Kapitän, „es ist eine große Ehre für mich und uns alle an Bord, daß ein Gründer Schlüsselträger dieser Expedition ist.“
Er salutierte und ging hinaus.
Jason versperrte die Tür hinter ihm und kauerte sich erneut vor dem Tisch mit dem Würfel und dem Modell des Artefakts nieder. Zwei mächtige, miteinander in Widerstreit stehende Emotionen – Sorge und Triumph – kämpften in ihm. Es war etwas Wunderbares und zugleich Einsames, dachte er, sich mit dem Zufallsfaktor zu bewegen. Er verbarg seine Augen in den Händen und gab sich seinen Gefühlen hin.
Klagend und frohlockend, sicher hinter seinen versperrten Türen in der erhabenen Einsamkeit eines Schlüsselträgers, schlief er zuletzt ein.