25. Mai: Kollision minus 23 Stunden

 

»Houston, hier Alpha I, wie hören Sie mich?«

»Alpha I, hier ist Houston, wir hören Sie vier. Wahrscheinlich Interferenzen.«

»Roger, Houston, aber es wird schon gehen. Können Sie Schiwa per Bodenradar anpeilen und uns Navigationshilfe geben?«

»Roger, Carl.« Das war eine andere Stimme, Dink Lowells, wie Jagens erkannte. »Aber der Zeitfaktor kann uns einen Strich durch die Rechnung machen.«

Carl nickte und warf einen Blick auf den Russen. Das Bodensystem hatte den Nachteil, daß es entfernungsmäßig und zeitlich begrenzt war, denn die Bodenantennen konnten nur während der Hälfte der Zeit Verbindung zu den Raumschiffen halten.

»Verstanden, Houston, aber wir brauchen es nur zur Unterstützung. Wir arbeiten schon mit Bordradar. Wir sind in der Phase der finalen Annäherung.«

Pause. »Viel Glück, Alpha I!«

Jagens verspürte Lust zu antworten, daß Glück wenig damit zu tun hätte. Er hatte nicht die langen Jahre studiert und gearbeitet, um sich jetzt auf Glück zu verlassen. Aber er bezwang sich. »Verstanden, Houston. Alpha I – Ende.«

Menschow schwieg, und Jagens war ihm dankbar dafür. Er brauchte seine volle Konzentration für die vor ihm liegende Aufgabe. Rasch überdachte er die Situation. Wenn sie Schiwa nicht in ein paar Stunden abgelenkt hatten, war alles egal. Dann würde es zur Kollision kommen, und selbst wenn Schiwa die Erde nur streifte, würde es doch ein Streifschlag titanischen Ausmaßes sein. Was sie in den nächsten Stunden taten, würde über das Schicksal der Menschheit entscheiden.

Die diagnostischen Systeme waren auf feinste Strahlungssensitivität abgestimmt. Nun galt es zu überlegen, was als nächstes zu tun war.

Bei einer atomaren Explosion treten etwa achtzig Prozent der totalen Energie zunächst als Strahlung auf. Nach der Explosion hat die Materie der Bombe eine Temperatur von mehreren zehn Millionen Grad; der Druck beläuft sich auf viele Millionen Atmosphären. Im Hundertstel einer Mikrosekunde, also einer Hundertmillionstelsekunde entsteht ein Feuerball aus vollständig zertrümmerten Atomen – Ionen plus Elektronen. Der größte Teil der Strahlung tritt als weiche Röntgenstrahlung aus.

Durch die Strahlung würde die Energie auf Schiwa übertragen werden, was zur Folge hätte, daß die Materie des Asterioden selbst zu strahlen beginnen würde. Eine Schockwelle würde entstehen und die Materie der Bombe nach außen schleudern. Sie würde eine ziemlich dünne Schale von hoher Dichte bilden, die sogenannte »hydrodynamische Front«. Diese Front würde wie ein Kolben wirken und die komprimierte Druckwelle zur steilen Schockwelle umstrukturieren.

In Gedanken ging Jagens nochmals die längst auscomputerisierten Zahlen durch. Bei Detonationen nahe der Oberfläche entsprach die Kratertiefe etwa dem halben Kraterradius. Ein derartiger von einer Schockwelle erzeugter Krater würde die Nahtzone des Asteroiden aufreißen. Um Schiwa mit Sicherheit zu zerstören, wäre ein Krater erforderlich, dessen Radius gleich dem Durchmesser Schiwas ist, überlegte Jagens. Aber wenn Schiwa fester Fels ist und einen Kilometer Durchmesser hat, könnte er nur mit einer 10.000-Megatonnen-Bombe »gekillt« werden. Und das war selbstverständlich unmöglich. »Killen« konnten sie den Asteroiden nicht. Also war das aussichtsreichste Vorgehen die Ablenkung durch den gezielten Schuß einer einzelnen Waffe. Stirnrunzelnd überdachte Jagens die Schätzungen des Forschungsteams. Es kam darauf an, daß die erhitzte Materie in der Nähe der Detonation aus dem heißen Krater herausgeschleudert wurde, als Rückstoß wirkte und den Asteroiden in Bewegung setzte. Wurde also Schiwa genügend erhitzt, so würde er sich selbst wegstoßen.

Es war unerläßlich, daß die Detonation in nächster Nähe erfolgte. Innerhalb von fünfzig Metern, wenn möglich. Jagens lächelte bitter. Fünfzig Meter! Aber eine so nahe Explosion würde eine Geschwindigkeitsänderung von circa vierzig Metern pro Sekunde ergeben. Carl schüttelte den Kopf. Dieser Wirkungsverlust! Im Vergleich zu der Wirkung, die sich erzielen ließe, wenn man die Explosionsenergie direkt in eine Veränderung der kinetischen Energie Schiwas umwandeln könnte, betrug der Wirkungskoeffizient der riesigen Sowjetbombe etwa drei Prozent.

Jagens vergegenwärtigte sich den Mantel Bolschois und suchte im Geist nach möglichen Schwachstellen. Der Mantel enthielt auch die Isolation gegen Schock und Hitze. Die Endplatten des nuklearen Systems waren am Kopf des Treibsatzes festgenietet. Das war gleichzeitig die Verbindung mit dem Montageflansch aus rostfreiem Stahl, der in Längsrichtung über den Nutzlastteil der Außenschale verlief. Die Außenhüllen waren abgefedert und gegen andere elektromagnetische Impulse als solche, die durch die Außenantennen kamen, vollständig isoliert. Diese Antennen saßen am hinteren Ende des Treibsatzes, damit sie nicht durch Meteore weggeschoren werden konnten.

Carl checkte das Sprengkopfsystem mittels Kontrollschaltern durch. Zündung, Sicherheitsarm, Destruktions-Subsysteme, Umhüllung. Wenn Bolschoi vor der Detonation auf Schiwa aufschlagen würde, ginge das Ganze in 0,01 Millisekunden in Stücke. Die Auslösungszeit für die Uranpatrone, die ihrerseits die Wasserstoff-Thermonuklearkapsel zündete, betrug eine ganze Millisekunde. In Anbetracht der Unsicherheitsfaktoren mußte die Bombe mindestens zwanzig Meter über dem Asteroiden detonieren, um optimale Wirkung bei tolerablem Risiko zu erzielen.

Also mußten sie sicher sein, daß Bolschoi nicht durch irgendeinen Zufallsmoment ausgelöst wurde. Sogar ein Fehler von wenigen Millisekunden war schon zuviel. Um eine vorzeitige Detonation auszuschließen, mußte das System der Sicherungsarme erstklassig arbeiten. Carl verzog das Gesicht. Das Gesetz der Schwerkraft konnten sie besiegen, aber nicht das Murphy-Gesetz.

Das Herzstück des Sicherungssystems war eine drehbare Scheibe, die einen Stopfen in einen Zylinder schob und dadurch ein Qantum Knallquecksilber fixierte, das mittels eines Überbrückungsdrahtes gezündet wurde. In erster Linie kam es auf die Redundanz sämtlicher Systeme an. Doch alles war noch neu und unerprobt.

»Funkspruch«, meldete Menschow. Jagens warf einen Blick auf den Anzeiger für komprimierte Übermittlung, aber der nur Mikrosekunden dauernde Empfang war bereits beendet. Es handelte sich um die endgültigen Anweisungen für die Annäherung. Jagens überprüfte sie und fütterte sie dann in das Navigationssystem ein.

Es war soweit.

 

Die Staubwolke, Schiwa genannt, schimmerte vor der Sonne. In ihrem Innern sah man dunkle Striche und Streifen – die Schatten, welche die größeren Stücke vorauswarfen. Ein alles beherrschender dunkler Balken lief schräg hindurch: der Schatten von Schiwas Kern.

Jagens rannte das Teleskop auf normale Länge aus und konnte so einen schwachen Umriß ausmachen. Der fliegende Felsen rotierte langsam; Carl erkannte glitzernde, blitzende Stellen auf der unregelmäßigen Oberfläche. Doch sein Antlitz hatte Schiwa noch nicht gezeigt.

Jagens rückte beiseite und ließ General Menschow durchs Teleskop sehen. Verstohlen beobachtete er ihn: was für ein Gesicht würde er wohl machen? Er war enttäuscht; die Miene des Russen veränderte sich nicht. »Es wird schwierig sein, da hindurchzukommen«, sagte er sachlich. »Das ist nicht nur Staub. Das sind Steine aller Größen.«

»Muß irgendwann einmal eine Kollision gegeben haben«, erwiderte Jagens, »die diese Stücke abgesprengt hat. Aber Sie haben recht, wir können da nicht so ohne weiteres hinein.« Er drehte den Schalter des Erdkanals.

»Kontrolle Houston, hier Alpha I.«

»Sprechen Sie, Alpha I.«

»Wir haben die Wolke gesehen – und es ist tatsächlich eine Wolke. Sehr dicht. Wir müssen sie umfahren, unsere Geschwindigkeit mit ihr abstimmen und uns dann hineinschlängeln.«

Es war Dink Lowell anzuhören, daß er damit nicht ganz einverstanden war. »Das kostet eine Menge Zeit, Carl, und Zeit haben wir nicht mehr viel.«

Der Mann denkt in Gemeinplätzen, fand Carl. Gut, daß sie ihn rechtzeitig abserviert haben. »Wir müssen, Houston. In diesem Schwarm ist nicht nur Staub, sondern auch alles mögliche andere. Wenn wir die Geschwindigkeit nicht angleichen, werden wir beim Hineingehen regelrecht abgeschält.«

»Warten Sie, bis wir zurückrufen, Carl!«

»Keine Zeit, Houston. Das entscheide ich als operierender Kommandant.«

»Carl, Sie fahren doch kein Kriegsschiff!«

»Das Prinzip ist genau das gleiche.« Carl warf einen Blick auf Menschow und war leicht überrascht, als er diesen zustimmend nicken sah. »Der Copilot ist der gleichen Meinung. Wir leiten die Geschwindigkeitsangleichung ein. Ende.«

»Zum Donnerwetter, Carl, nein – die Entscheidung ist zu weitreichend für einen einzelnen…« Carl schaltete ab. Das Ruflicht blinkte fast sofort wieder auf, aber Carl ignorierte es.

»Leiten Sie die Korrelation ein«, sagte er zu Menschow. Dieser nickte nur und fing an, auf allerlei Knöpfe zu drücken. Nach kurzem Überlegen ging Jagens auf die S-Band-Frequenz von Omega.

»Omega I, hier Alpha I.«

»Alpha I, hier Omega I, sprechen Sie.«

»Omega I, wir gehen auf Position in gleicher Höhe und Geschwindigkeit mit Schiwa, um auf dieser Basis einzudringen.«

»Alpha I, wir haben Ihr Gespräch mit Houston mitgehört.«

Ein gleichgültiges Lächeln auf den Lippen wartete Jagens auf die Ablehnung, die er von der Bander bestimmt zu hören bekommen würde. Als sie nicht gleich antwortete, hob er erstaunt die Brauen. »Omega I, sind Sie einverstanden?«

»Natürlich, Alpha I. Es bedeutet Zeitverlust, aber die Chancen sind besser.«

Jagens’ Wertschätzung für Lisa Bander stieg um ein paar Punkte. Sehr vernünftig von ihr, daß sie die Situation so schnell übersah. Er war auf eine Diskussion und auf eine Kraftprobe gefaßt gewesen. »Wir übermitteln Ihnen unsere Kursdaten, sobald sie vollständig vorliegen. Sie haben ja noch mehr Zeit für eventuelle Korrekturen.«

»Roger.«

Knatternd kam eine andere Stimme über die Frequenz. Es war Colonel Zaborowskij, der Vizekommandant von Omega. »Alpha I, hier Omega II.«

»Sprechen Sie, Omega II.«

»Captain Jagens, kann ich mit General Menschow sprechen?«

Mit leichtem Stirnrunzeln entgegnete Jagens: »Moment bitte, Omega II. Omega I, haben Sie noch Fragen?«

»Keine Fragen. Omega I Ende.«

»General Menschow?«

»Da.«

Es folgte ein Strom von Worten in hastigem Russisch, stark untermischt mit etwas, von dem Jagens annahm, es sei Slang oder Code oder beides. Stirnrunzelnd wandte er sich zu Menschow um, der Zaborowskijs Redefluß mit eiserner Miene abschnitt. In deutlichem Englisch sagte Menschow: »Sie brauchen keine Angst zu haben, Genosse Colonel. Captain Jagens ist ein fähiger Offizier und hat die richtige Entscheidung getroffen.«

Zaborowskij sagte noch etwas von Befehlskette und Bestätigung durch Zentrale. Jagens lächelte sein dünnes Lächeln. Immer dasselbe bei diesen Ruskis. Immer mußten sie beim Großen Bruder rückfragen. Bienenkorb-Hirne. Was mochten wohl Schumacher von der Marine und Short, die in derselben Kapsel saßen, von ihrem russischen Freund denken?

Menschow schaltete seinen Landsmann ab und machte sich ohne weiteren Kommentar wieder an seine Berechnungen. Jagens spähte voraus. Teile des Schwarms, flimmernd vor dem Glanz der Sonne, konnte er jetzt sogar schon mit bloßem Auge ausmachen.

In Omega II warf Lisa einen forschenden Blick auf Nino Solari. »Auf diese Weise verlieren wir Zeit«, sagt sie bedrückt.

»Wir wußten aber, daß das eins der möglichen Verfahren ist«, erwiderte Nino mit ausdrucksvollem Schulterheben. »Warum regen die da unten sich so darüber auf? Jagens hat sich doch schließlich nur für eine der vorhandenen und bekannten Möglichkeiten entschieden.«

»Die da unten sind die, die jetzt gleich eins auf den Kopf kriegen können«, gab Lisa zu bedenken, »und wahrscheinlich brummt ihnen schon der Schädel.«

»Ja, und uns verunsichern sie«, knurrte Nino.

»Sie wollen nur nicht, daß etwas falsch gemacht wird«, wandte Lisa ein. »Schließlich haben wir ja nur den einen Schuß.«

 

»Fertigmachen«, sagte Carl Jagens und klinkte seinen Helm ein. Die Staubwolke war jetzt klarer sichtbar, helle Flecken blinkend und blitzend in ihrem Stolperflug durch den Raum. General Menschow sagte nichts. Er behielt die Zifferblätter der Entfernungsmesser fest im Auge.

Schiwa selbst war lediglich als Schattenstreifen inmitten von Staub und Trümmern zu erkennen. Alpha I hatte eingeschwenkt und flog in gleicher Geschwindigkeit mit dem fliegenden Felsen. Mittels Seitenstrahlern manövrierte Jagens die Kapsel durch den Rand des Schwarms. Sein Adrenalinspiegel war stark erhöht.

»Zwei Grad Steuerbord, einen höher«, sprach Menschow in sein Helmradio.

Hinter ihnen und etwas höher flog Alpha II unter dem Kommando Diegos, mit Ikko Issindo und der Russin Olga Nissen als Besatzung.

Sie verfolgten den Eintritt von Alpha I in den Schwarm über Monitor. Alsbald würden sie folgen. Viel Zeit blieb nicht. Schiwa näherte sich zielstrebig der Erde, und Bolschoi hatte direkten Kurs auf Schiwa. Die Alpha-Schiffe mußten hinter der Hauptmasse Schiwas bleiben, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben. Wie die Dinge lagen, war die ganze Mission in den Augen vieler zu einem selbstmörderischen Unternehmen geworden, diese Mission, bei der es nur zwei Möglichkeiten gab: knapp oder gar nicht. Das betraf sowohl das unmittelbare Überleben der Astronauten als auch die erfolgreiche Ablenkung Schiwas.

Ein Steinbrocken, der ein wenig schneller flog als die anderen, hatte Alpha I gestreift. Hastig blickte Menschow auf die Luftdruckkontrolle. Alles in Ordnung. Eine Beule, aber kein Leck.

»Bolschoi kommt ein«, meldete Issindo von Alpha II. Rasch gab er die erforderlichen technischen Daten über Richtung und Geschwindigkeit, bezogen auf die Masse Schiwas.

»Ein Grad tiefer, ein Grad Ost«, meldete Menschow.

»Wir sind getroffen«, berichtete Diego unbewegt. »Kabinendruck fällt. Halten Geschwindigkeit. Major Nissen flickt das Leck.«

Schnelle Arbeit, dachte Jagens. Die Russen waren gut. Oder es war nur ein kleines Loch. Alle Schiffe hatten Heftpflaster für kleinere Lecks: die Schutzschicht abziehen, den runden Fleck auf das Loch drücken, und in ein paar Sekunden war es durch chemische Reaktion ganz hart und fest.

Ping! Pinnng!

Zwei weitere leichte Treffer auf Alpha I. Sie befanden sich jetzt tief im Schwarm, Alpha II hinter ihnen.

Bump.

Sie waren gegen einen größeren Brocken gestoßen. Jagens sah ihn wegtrudeln, einen Strom von Partikeln zerteilen, in dem Gesteinsstaub, den so lange, lange Zeit niemand gestört hatte, eine Bugwelle aufwühlen.

Ihnen allen dehnte sich die Zeit. Houston versuchte, Sprechverbindung mit ihnen aufzunehmen, doch sie ignorierten die abgerissenen, durch den Schwarm verzerrten Stimmen. Goldene Lichtstreifen flimmerten in der Kabine auf.

»So«, sagte Jagens, »jetzt sind wir ungefähr auf Position. Meldung, Alpha II!«

»Wir sind euch auf den Fersen, Carl«, sagte Diego, »etwa zweihundertfünfzig Meter von eurem Heck und fünfzig darüber.«

»Halten Sie sich an die Funkverkehrsvorschriften, Colonel Calderon«, erwiderte Jagens kühl. »Wo ist Bolschoi, General?«

»Das Signal ist schlechter zu hören als wir annahmen«, antwortete der Russe gepreßt. »So viel Staub haben wir nicht erwartet.«

Jagens sah aus dem Bullauge. Der Staub war wie dicke Suppe, und dabei glitzernd und wirbelnd. Die größeren Steine warfen breite Schattenstreifen durch die Schichten schimmernder Staubpartikel: Jagens mußte an Fischschwärme in den Tiefen des Meeres denken. Nur hundert Meter weiter blockte etwas Riesiges alles Licht ab. Schiwa.

Ein schwarzer Fels, der das halbe Universum auszufüllen schien. An diesem stummen Antlitz mußten sie sich einen unsicheren Schutz suchen. Bolschoi sollte an der anderen Seite Schiwas detonieren. Hier waren sie also vor der Strahlung am besten geschützt. Für einen kurzen Augenblick kam in Jagens’ diszipliniertem Hirn die Angst hoch, die alle Astronauten dieses Unternehmens hatten: daß es ein Selbstmordkommando war, daß Schiwa sie nicht vor dem wirbelnden Chaos schützen würde, das in seiner staub- und steinerfüllten unmittelbaren Nähe ausbrechen mußte. Sie hatten es sich alle versagt, daran zu denken. Das mußten sie auch, sonst hätten sie wahrscheinlich gar nicht weitermachen können.

Die Berechnungen des Studienteams wiesen aus, daß sogar Bolschoi nicht imstande war, Schiwa zu zerschmettern; also würden seine Trümmer wenigstens nicht wie ein Hagel auf Alpha fallen. Wenigstens nicht direkt. Doch wer wußte, was geschehen würde, wenn dieser Schwarm, der seit Äonen durch den Raum flog, in der Explosion auseinandergerissen wurde? Die durch Bolschoi bewirkte Ablenkung reichte aus, um Schiwa möglicherweise in Sekundenschnelle in eins der Alpha-Schiffe zu rammen. Deshalb waren Bordnavigation und Strahler so programmiert, daß sie Schiwas neuen Vektor augenblicklich kompensierten, und zwar schneller, als es jeder Pilot hätte tun können.

Eine Fliege, die einem Felsbrocken ausweicht, dachte Jagens. Und sie mußten es schaffen, ohne einen brauchbaren visuellen Fixpunkt zu haben. In diesem Staub war alles mehr oder weniger verschwommen. Navigationswichtige Sterne waren verdunkelt oder nur verzerrt sichtbar.

»Die Astronomen haben doch gesagt, wir würden hier etwas sehen können«, sagte der Russe.

»Nichts ist jemals so genau, wie man es sich vorher gedacht hat. Haben wir alles unter Kontrolle, General?«

»Ja, Captain, das haben wir.«

»Und die anderen Geschosse, Alpha II?«

»Gleichfalls, Captain Jagens«, antwortete Issindo.

»Omega I, hören Sie mich?«

»Alpha I, wir hören Sie, aber unterschiedlich, Carl.«

»Achtung! Bolschoi kommt in siebzig Sekunden.«

Niemand antwortete. Es war auch nichts zu sagen. General Menschow beobachtete aufmerksam den Lichtpunkt, der Bolschoi war, auf seinem Radarschirm. Auf dem nächsten Schirm standen die programmierte Flugbahn und der angenommene Detonationspunkt; darüber verlief die tatsächliche Flugbahn. Bis jetzt waren beide Linien identisch.

In der engen Kapsel von Alpha I herrschte tiefes Schweigen. Die mechanischen Systeme murmelten und klickten. Die Männer konnten das unter ihren Helmen nicht hören, doch spürten sie die leichten Vibrationen.

Ping! Ping! Partikel aus Schiwas Schwarm prallten vom Schiff ab. Bonk! Tink! Die Männer merkten es nicht. Ihre Augen hingen an der dunklen Oberfläche des fliegenden Berges aus Stein und Eisen, nur ein paar hundert Meter vor ihnen. Sie hielten Schritt mit ihm, nur ein wenig hinter und seitlich von ihm, direkt gegenüber der vorgesehenen Aufschlagzone.

Jagens merkte nicht, daß er den Atem anhielt. Er sog noch mehr Luft ein, behielt sie unbewußt bei sich, wartete.

Zwischen dem Eintritt Bolschois in den äußeren Rand des Schiwa-Schwarms und der Detonation lagen nur Sekundenbruchteile. Für einen Menschen wäre es unmöglich gewesen, die Detonation genau im richtigen Zeitpunkt auszulösen. Das konnte nur der sorgfältig programmierte Bordcomputer.

Menschow gab Bolschoi das letzte Kommando, indem er die endgültigen Navigationsdaten einfütterte. Jetzt war Bolschoi selbständig. Die Besatzungen beider Schiffe bereiteten sich auf die gefährliche Erschütterung vor. Jagens sah an Menschow vorbei auf den grünen Bildschirm mit der quer darüber verlaufenden gelben punktierten Linie. Längs der Linie bewegte sich ein roter Punkt.

»Abruf, General!« befahl er.

»Zwölf… elf… zehn…«

Hatten sie den richtigen Kurs, fragte sich Carl. Haufenweise Staub, keine Steine von gefahrdrohender Größe, und doch…

»Sieben… sechs… fünf…«

So vieles konnte schiefgehen. Das Murphy-Gesetz galt immer noch, auch in dieser ungeheuren Entfernung von der Erde.

»Zwei… eins…!«

Bolschoi schoß durch den Schwarm wie ein Hai durch einen Sardinenschwarm. Ein Stein, nicht größer als eine Babyfaust, riß einen wichtigen Bestandteil der achterlichen Navigationsscheibe weg. Ein anderer Stein, nicht größer als das Baby selbst, war eine ganze schicksalsträchtige Sekunde lang im Weg der Bug-Radarscheibe. Die Bordcomputer entschieden in einem Dialog von Millisekundendauer, daß Schiwa eine Winzigkeit näher war als vorausberechnet. Die Zündleitung empfing einen Befehl und gehorchte blindlings, ihrer Programmierung entsprechend.

Licht! Plötzliche, schneidende Helle sprang auf, erfüllte den Weltraum, von Milliarden Partikeln zurückgeworfen. Die Schockwelle pflügte durch die dicken Staubschichten, verschleuderte faustgroße Steine und Splitter. Den Bruchteil einer Sekunde erzitterte Schiwa, seines kiesigen Mantels von Staub und Steinen beraubt. Die größeren Begleitsteine wirbelten hinweg, prallten aneinander und zerbarsten.

Die Schockwelle durchflutete Schiwa und wrang ihn wie einen Lappen. Ein Ohr, an die glühende Oberfläche gepreßt, hätte einen tiefen, minutenlangen Glockenton vernommen, einen akustischen Tremor gleich der Stimme eines wütenden Gottes. Doch dieser Berg aus massivem Eisen zerbarst nicht.

Eine riesige sphärische Schockwelle rollte an. Sie breitete sich um Schiwas Rand aus und trieb mit Steinsplittern durchsetzten Staub vor sich her. Wäre Bolschoi wie geplant an der anderen Seite Schiwas detoniert, so wären die beiden Alpha-Kapseln geschützt gewesen. Aber der mächtige russische Sprengkopf war zu früh detoniert, direkt vor dem Asteroiden, so daß sich die Alpha-Schiffe nur wenige tausend Meter unterhalb von Schiwas Horizont befanden. Die Schockwelle lief um Schiwa herum und brandete an die empfindlichen Kapseln.

Erst Leuchten, dann Krachen.

Wären die Helme nicht eingeklinkt gewesen, dann wären alle an Bord augenblicklich taub geworden. Der Schall kam mit einer Kraft, die sie in die gepolsterten Sitze hineintrieb und ihnen die Köpfe zur Seite schleuderte.

Die Schiffe schwankten. Gyros und Stabilisierungssysteme setzten ein. Bei jedem der Schiffe, das die hinter der Schockwelle laufende Strömung abritt, verlief die Korrektur anders. Aber sie suchten verzweifelt, der Tendenz zur Rotation um alle drei Achsen entgegenzuwirken.

Sowohl Alpha I als auch Alpha II waren zerlöchert und angeschlagen. Äußere Sensoren waren ausgefallen, wichtige Teile waren abgerissen oder beschädigt. Mächtig lief die Schockwelle durch den Schwarm.

Ikko Issindo hing bewußtlos in seinen Gurten, sein Gesicht war blutig, ein Arm schwang schlaff in der Null-Gravitation. Blutströpfchen füllten die Luft wie ein feiner Nebel. Calderon schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, und drehte sich nach der Russin um.

Schlaff hing ihr Kopf im Helm. Ihre weitgeöffneten Augen starrten leer. Sie hatte sich das Genick gebrochen.

Diego kontrollierte den Luftdruck. Er war gesunken und sank schnell weiter ab. Er sah sich um und folgte mit den Augen den Blutströpfchen, die aus Issindos eingeschlagenem Helm schwebten. Hinter ihm, etwas über Kopfhöhe – ein kleines Loch. Diego schlüpfte aus seinen Gurten, griff nach einem »Heftpflaster« und zog die Schutzschicht ab. Er schwebte zum Leck, klatschte das Pflaster auf und stieß sich wieder ab.

Er blickte in Issindos Helm und zuckte zusammen. Der Mann war tot oder lag im Sterben. Da war nichts mehr zu machen. Diego zog sich wieder in seinen Sitz, schaltete die Klimaanlage ein, damit sie die herumschwebenden Blutströpfchen absaugte, und faßte nach dem Radioschalter.

»Alpha I, hier Alpha II – bitte kommen.«

Er wartete und wiederholte dann den Anruf. Keine Antwort.

»Omega I, hier Alpha I – bitte kommen!«

Keine Antwort. Verzweifelt versuchte er es mit Houston. Ebenfalls keine Antwort. Sein Radio mußte ausgefallen sein.

Durch das kleine Bullauge konnte er Schiwa sehen. Er war noch da, immer noch leise taumelnd. Hatten sie ihn abgelenkt? Zerstört hatten sie ihn jedenfalls nicht. Er mußte mit irgend jemandem Verbindung aufnehmen und herausbekommen, was los war.

Hastig zog er die Betriebselemente des Bordradios aus den Sockeln und überprüfte sie so gut es ging. Es war alles in Ordnung… eben Plastikstreifen mit aufgedruckten Chips. Es mußte also an den diversen Außenantennen liegen. Er schaltete auf die Empfangsantenne, aber auch dort kam nichts herein. Entweder waren Alpha I und beide Omega-Schiffe weg, und der Schwarm verhinderte den Funkverkehr mit der Erde – oder seine beiden Antennen waren weg.

Wieder sah Diego hinaus. Er kam nicht näher an Schiwa heran, sondern war eher ein Stück weiter ab. Er beugte sich vor und begann, an der Unterseite des Armaturenbretts herumzuwühlen.

 

Auf einem braunen, kahlen Hügelabhang in Südkalifornien stand Diegos Mutter und beobachtete, wie die bleiche Morgenröte dunkelrot wurde. Dort, wo die Sonne stand, geschah es, sagten die Leute. Da draußen, ganz nahe bei dem schrecklichen Ding, war ihr Sohn. Dann mußte er doch auch ganz dicht bei der Sonne sein, ganze nahe an ihren verzehrenden Flammen? Hoffentlich nicht. Die Kinder sagten einem ja nie, was sie taten. Sie lebten in einer anderen Welt.

Sie scharrte mit den Füßen über den kalten Boden. Das trockene Gras raschelte. Der Osthimmel wurde heller, porzellanblau, wie in ihrer Jugend. Jetzt, wo soviele Fabriken stillstanden und kaum noch Autos und Lastwagen fuhren, war der Himmel wieder klar. Sie wartete und spähte.

Und dann auf einmal war es da. Ein Blitz, so hell, daß sie zurückschrak und ihrer trockenen Kehle ein Schmerzenslaut entfuhr. Ein harter weißer Schein. Sie sah weg, doch das Bild blieb in ihren Augen. Aus der einen Ecke ihres Gesichtsfeldes nahm sie wahr, daß das Ding zu Dunkelrot verwelkte und dann erstarb. Doch in ihrer Netzhaut pulsierte es weiter.

Mit dem Aufblitzen und Verdämmern schwand die letzte Hoffnung. Ihr Sohn hatte eine kleine schnelle Sonne in den Himmel gebracht. Wie konnte jemand, der nur ein Mensch war, Feuer in den Himmel bringen und am Leben bleiben? So etwas konnte niemand überleben. Nicht einmal ihr Diego.

Nein, so etwas bedeutete sicheren Tod. Als Diego das letzte Mal bei ihr gewesen war, hatte sie gemerkt, daß er sich bemüht hatte, nicht davon zu sprechen. Er wußte, daß er sterben würde, sie hatte es wohl gesehen. Und nun war das Ding da. In der Morgenfrühe hatte sie dort oben Sternenfeuer erblühen sehen. Sie bekreuzigte sich, fühlte sich schrumpfen, spürte die Einsamkeit in sich hineinkriechen.

Sie fiel auf die Knie und betete. Ein Totengebet.

 

Kingsley Martin hatte seinen einsamen Lunch beendet und trat hinaus in den gelben Londoner Sonnenschein. Es waren praktisch überhaupt keine Geschäfte mehr geöffnet, aber daß der Gay Hussar offen haben würde, hatte er gewußt. Es war ein altmodisches Restaurant, das sich durch nichts von seinen Geschäftsusancen abbringen ließ. Das bulgarische Beefsteak war erstklassig gewesen. Er hatte dem Wirt die letzten sechs Bänder der Strauss-Serie in Tausch für die Mahlzeit gegeben; die ersten sechs hatte er gegen das gestrige Abendessen eingetauscht.

Kingsley schlenderte über Soho Square, an den roten Ziegelhäusern vorbei, die immer noch etwas von der Anrüchigkeit hatten, die Soho in alten Zeiten besaß, die aber heute nur noch künstlich erhalten wurde, fast wie ein Wahrzeichen.

Er hatte sich entschlossen, die letzten paar Stunden hier zu verbringen, im Herzen Londons, dem Brennpunkt einer langen Spanne seines Lebens. Jetzt war es an der Zeit, auf die ganz große Sensation zu warten.

Nach Trafalgar zu fand er die Straßen praktisch leer. Offenbar waren die meisten Leute draußen auf dem Lande; dort fühlten sie sich vielleicht sicherer. Gewiß, wenn die Lebensmittelversorgung noch schlechter wurde, konnte man überhaupt nicht mehr in der Stadt leben. Oder vielleicht waren sie in den Kirchen oder saßen vor den Fernsehschirmen und lauschten den endlosen Kommentaren der Medienreporter.

Als er sich Charing Cross näherte, hörte er das ferne Brausen einer Menschenmenge. Hier waren mehr Leute auf den Straßen; manche gingen sehr schnell, ihre Schuhe knirschten auf den Glasscherben von der letzten Plünderung. Als er an der National Gallery vorbeikam, verglich er seine Uhr: Es war noch reichlich Zeit.

Als er wieder aufsah, blieb er unvermittelt stehen. Trafalgar Square war voller Menschen aller Rassen und Klassen. Sie schwenkten Fahnen und Kreuze. In der Mitte, direkt hinter der hohen Säule mit der Nelson-Statue, brannte ein riesiges Holzkreuz. Der Wind sprang um und brachte Ölgeruch; er mußte die Augen zumachen, als er in den Qualm sah, der von jenem Kreuz hochwirbelte.

Hing dort oben ein Mann? Er konnte es nicht genau erkennen und ging weiter. Jemand rannte an ihm vorbei, stieß gegen seine Schulter und eilte weiter.

Kingsley blieb am Rande der Menschenmenge, im Streit mit sich selbst, ob er hierbleiben sollte. Menschenansammlungen waren ihm unsympathisch, besonders solche, die feindselige Schwingungen ausstrahlten. Aber Versammlungen auf dem Trafalgar Square hatten Tradition, also war nicht zu verwundern, daß die religiösen Typen stark vertreten waren. Er arbeitete sich durch die dichter werdende Menge auf eines der Londoner Bauwerke zu, die er am meisten liebte, die Kirche St. Martin-in-the-Fields.

Die Kirchenmauer war mit roter Farbe bespritzt.

Aber – war es wirklich rote Farbe?

Kingsley arbeitete sich durch die Masse der anbrandenden Menschenleiber näher heran, kam jedoch nicht durch und mußte in Richtung auf die National Gallery zurückweichen.

Ein anglikanischer Geistlicher stieß ihn grob beiseite und murmelte dann eine hastige Entschuldigung durch die zusammengebissenen Zähne. Kingsley sah, daß die beiden Springbrunnen auf dem Square nicht in Betrieb waren; Leute in ihren schmutzigen grauen Roben mit langen flatternden Ärmeln tummelten sich dort. Als er nach Süden blickte, sah er, daß der Strand voller Menschen war.

Dann sah er riesige Banner. Sie waren am Dach der National Gallery angebracht und hingen hinunter, bedeckten den größten Teil der Gebäudefront und blähten sich in der leichten Brise, hellblaue Streifen mit einem großen weißen Kreis in jedem. In den Kreisen überlebensgroße Gesichter: Jagens, Menschow, Lisa Bander.

Kingsley starrte in ihr Gesicht. Es war ihr nicht sehr ähnlich, doch irgendwie hatte der Maler den Schatten eines Lächelns um ihre Mundwinkel getroffen. Er sah es sich genau an und wandte sich dann ab. Die Banner machten ihn nervös; es war, als starre sie ihm direkt ins Gesicht.

Die Menschenmenge wurde immer erregter. Er blickte zum Himmel auf. Hier in England würde es mittlerer Nachmittag sein, wenn Bolschoi detonierte. Die Menschen im Westen der Vereinigten Staaten würden ihn bei Morgengrauen sehen, und den Sowjets würde ihre Armageddon-Bombe als ferne Abenddämmerung aufleuchten.

Kingsley verließ den Trafalgar Square und wandte sich, Gruppen parolenschreiender Menschen ausweichend, zur National Gallery. Auf einmal verstummte das Geschrei, plötzliche Stille fiel ein, nur ein zischender Laut war zu hören, als Tausende gleichzeitig tief Luft holten.

Und dann, hoch in der Schale des Himmels, brach ein kleiner gelber Blitz auf. Ein Brüllen aus der Menge antwortete. Der Feuerball verblaßte und verschwand. Hier und da kamen Hurrarufe aus der Menge, aber neben freudig erregten auch wütende Rufe. Die Stimmung war geteilt. Um die Besitzer von Transistorradios drängten sich Trauben von Zuhörern. Ein Murmeln stieg aus der Menge und brandete auf in einzelnen Schreien: »Es war nichts!« Wieder Freudenrufe, aber viele stöhnten verzweifelt. Es kam zu Schlägereien, einem Mann wurde mit einem rostigen Bajonett der Bauch aufgerissen; seine Gedärme, ein graugrünes Gewirr, hingen heraus. Blindwütig schlugen die Menschen aufeinander ein, die Massen wogten hin und her, rissen sich um, trampelten sich tot. Männer fluchten, Frauen schrien. Kingsley spürte etwas unter seinen Schuhsohlen: er stand auf dem Arm eines Menschen. Eine zurückflutende kreischende Gruppe riß ihn fast um. Ein tiefes, drohendes Grollen wogte über dem Square. Kingsley wollte so schnell wie möglich aus diesem Gewühl heraus; mit wütenden Stößen kämpfte er sich durch die Masse. Wieder fühlte er etwas Weiches unter seinen Füßen, aber er sah nicht hinunter.

Als er einen Augenblick nicht weiterkam, sah er einen Mann irgendwo hochklettern, doch es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was dort vor sich ging. Eine Anzahl Männer und Frauen hatten sich am Fuße der National Gallery zusammengerottet. Einer hatte das erste Stockwerk erklommen und knüpfte eins der Taue los, die jene riesigen blauen Banner hielten. Als er es freibekommen hatte, fiel es schlaff herunter und reichte fast bis aufs Straßenpflaster. Ein Mann packte es, riß prüfend daran und begann zu klettern. Er stemmte die Füße gegen die Granitmauer und zog sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit hoch. Als er über der Menge war, konnte Kingsley sehen, daß er ein Sweatshirt mit den Initialen der Armageddoniten-Sekte trug. An seinem Gürtel hing eine Flasche.

Kinsley sah sich um – wo mochte wohl die Polizei sein? Er horchte – wo blieb das schrille Jaulen der Sirenen? Er konnte keinen einzigen Polizisten erblicken, nicht einmal auf den Dächern. Vielleicht stimmte das Gerücht, daß die Polizisten streikten. Alles streikte ja.

Betroffen blickte er wieder hin, und da sah er, daß der Mann direkt unter Lisas Banner hochkletterte. Er erschrak. Gewiß, es war Unsinn, daß er erschrak: das Banner war keine Landesfahne, das Tuch war auch nicht Lisa. Doch das Erschrecken blieb.

Brüllend blickten die Massen zu dem Mann hoch. Der erste Mann beugte sich vor, um den Kletternden anzufeuern, und arbeitete sich auf dem Sims voran, ihm entgegen. Der zweite war jetzt beinahe oben. Deutlich trat durch die Anstrengung sein Bizeps heraus. Er erreichte den oberen Saum des Lisa-Banners und zog sich über die Simskante. Er winkte denen unten zu, tat ein paar tänzelnde Schritte, und die Masse brüllte Beifall.

Der Mann löste die Flasche vom Gürtel und schwenkte sie triumphierend. Wieder jubelten ihm die Massen zu. Kingsley wurde plötzlich klar, was geschehen würde: In der Flasche war irgendeine brennbare Flüssigkeit. Der Mann wollte das Banner in Flammen setzen. Der erste Mann war jetzt nicht mehr zu sehen; der Kletterer sonnte sich in der Spannung der Massen.

Brannte Lisas Banner, so würden die anderen ebenfalls Feuer fangen, und in kürzester Zeit würde die gesamte Front der National Gallery in Flammen stehen. Die Gallery war aus solidem Stein gebaut, aber die Stützkonstruktion konnte brennen, ganz abgesehen von dem Schaden an den Kunstschätzen im Innern.

Diese Menschen wissen nichts davon, dachte Kingsley, oder es ist ihnen ganz egal, sie wollen bloß das Image der Astronauten vernichtet sehen.

Wild knurrend schob sich Kingsley weiter vor. Andere drückten ihm entgegen oder wollten sich nicht wegschieben lassen. Durchschlüpfend, Grobheiten austeilend, schiebend und stoßend, ohne sich um Proteste oder einen gelegentlichen unbedeutenden Schlag zu kümmern, gelangte er an den Rand, wo die Menschen nicht mehr so drängten, und auf einmal stand er frei, am Fundament der Gallery. Zuletzt hatten ihm sogar einige ermutigend auf die Schulter geklopft. Fast alle starrten empor, mit verzerrten Gesichtern und offenen Mündern.

Ein Mann im Talar, mit stoppeligem Gesicht, kam auf ihn zu und sagte irgend etwas, das zornig klang, aber im lauter werdenden Stimmengewirr unterging. Er packte Kingsley beim Arm. Kingsley riß sich los und stieß den Mann so heftig zurück, daß dieser stürzte. Er hatte einen plumpen Stock aus unbearbeitetem Naturholz bei sich gehabt, vielleicht weil er meinte, so etwas passe zu seinem biblischen Image. Kann ich prima gebrauchen, dachte Kingsley, und nahm ihn auf.

Sofort stürzten zwei Männer auf ihn zu, mit vorgestreckten Händen und wutverzerrten Gesichtern. Im Lärmen der Menge ging jeder Einzellaut unter. Kingsley faßte den Stock mit beiden Händen, hieb ihn dem Vordersten blitzschnell und heftig über den Schädel. Der zweite blieb stehen, sah erschrocken zu seinem Genossen hin und stürzte sich dann mit erneuter Wut auf Kingsley. Der wich zur Seite aus und rammte ihm das andere Ende seines pseudo-biblischen Wanderstabes in den Magen. Der Mann stolperte, fiel und riß Kingsley mit zu Boden.

Kingsley sah hoch. Eben goß der Mann auf dem Sims Benzin über Lisas Banner. Man roch es. Die Menge brüllte und klatschte Beifall. Einige in der Nähe beschimpften Kingsley fäusteschüttelnd, als dieser sich freimachte und aufstand. Der Mann, dessen Stab er hatte, rappelte sich ebenfalls hoch, wich aber vor Kingsley zurück, der mit schlagbereitem Stock auf ihn losging. Aus der Menge kamen Hohnrufe, und der Mann im Talar straffte sich und ging mit einem Schrei auf Kingsley los. Doch er war unsicher, bog ab und wollte von der Seite angreifen; da bekam er mit dem spitzen Ende des Stabes einen heftigen Stoß in den Magen. Nach Luft schnappend, ganz grün im Gesicht, krümmte er sich. Wieder schwang Kingsley den Stab und versetzte ihm einen Hieb über den Schädel. Der Talarträger fiel zu Boden.

Unsicher kamen die beiden anderen auf die Füße und blieben stehen. Sie schienen Angst zu haben, und Kingsley sah wieder zum Sims hinauf. Der Mann dort oben verspritzte noch immer Benzin.

Die Menge hätte Kingsley leicht zertrampeln können, doch sie hatte keinen Führer, und niemand wollte den ersten machen. Sie fluchten und schimpften zwar, doch ihr Interesse galt dem Mann auf dem hohen Sims der Gallery.

Kingsley starrte jedem, der ihn ansah, so wütend ins Gesicht, als wolle er sich mit ihm persönlich messen. Das wirkte: jeder wandte den Blick ab und wich ihm aus. Unbehindert kam Kingsley bis zu dem baumelnden Seil. Der Armageddonit war in seine Tätigkeit vertieft; doch um die zustimmenden Rufe der Menge auszukosten, ließ er sich Zeit dabei.

Kingsley sah, daß der Mann dort oben auf dem engen Sims, der sich eben vorbeugte, um das letzte Benzin auszuschütten, die Füße in einer Schlinge des Seils hatte. Kingsley packte das Tau und riß es zur Seite. Der Mann stieß heftig mit den Füßen, um sich zu befreien, doch er war zu sehr verstrickt. Er faßte nach den Ornamenten über dem Sims und ließ die Flasche fallen, die unten in der Menge zerschellte. Benzindämpfe verbreitend. Wieder ruckte Kingsley am Seil und lief dann die Stufen entlang, mit aller Kraft ziehend. Tastend suchte der Mann nach Mauervorsprüngen, die ihm jedoch wenig nützten. Er verlor den Halt auf dem Sims, die Augen quollen ihm hervor, Kingsley sah, wie er den Mund aufriß und schrie, doch der Schrei ging im Gebrüll der Menge unter.

Tod – das war etwas für sie, besonders ein so dramatischer. Sogar jetzt, da die ganze Welt von Blut triefte. Tod – den liebt der Mob immer.

Und sie bekamen ihn. Wirbelnd, Hals über Kopf schlug der Mann auf dem Pflaster auf; trotz allen Lärms konnte Kingsley hören, wie er aufplatschte.

Kingsley ließ das schlaffe Seil fallen und sah sich in der Menge um. Noch vor Sekunden war dieser Mob voller Wut und Kraft gewesen. Die rotgelbe Explosion am Himmel hatte die Menschen wild gemacht. Doch jetzt, obwohl sie noch nicht einmal wußten, ob die große Bombe ihre Wirkung getan hatte, war es anders.

Er blickte in die Gesichter: das waren ja Kinder. Vielleicht sahen sie sich selber auch so. Der Lärm ebbte ab, die Menschen begannen sich zu zerstreuen. Sie hatten die Astronauten und Techniker, die Schiwa aufzuhalten versuchten, beschimpft und bedroht. Doch jetzt, nachdem Bolschoi detoniert war, wurde es auf dem Trafalgar Square stiller und stiller. Er merkte, wie die Stimmung umschlug; es war zu spüren wie Sonne nach einem Regen. Der Absturz des Brandstifters hatte ihnen den Wind aus den Segeln genommen.

Kinder. Ein Haufen ungezogener Gören, die Gesichter mit gemauster Schokolade beschmiert, abgestumpft und stumm nach einer lärmenden Party.

Gott soll schützen, dachte er, noch vor Monaten war ich nicht viel anders. Die Angst nimmt seltsame Formen an. Er sah sich um, spähte hoch, ob der erste Mann zu sehen sei, der seinen Sieg immer noch zunichte machen konnte. Doch von ihm war keine Spur. Am Rande der Menge war jetzt ein Bobby erschienen. »Weitergehen, bitte!«

Ein seltsames Gefühl der Sicherheit durchrann ihn. Ob Bolschoi es nun geschafft hatte oder nicht – die Menschen hatten endlich wieder angefangen, vernünftig zu werden. Vielleicht gab es jetzt Hoffnung für alle.

 

Über eine Milliarde Menschen sahen das Drama auf ihren Fernsehschirmen. Es hätten auch mehr sein können, aber es fehlte an Strom. So drängten sie sich zusammen und beobachteten den Fleck am Himmel, der immer größer wurde.

 

Tief im kalten Tunnel der Teller Air Force Base, tief im Innern eines Berges in Colorado, saß die Ministerin für Erziehung, Gesundheit und Wohlfahrt, Monica Alice Ashby jun. starrte auf eine Spritze Morphium und bemühte sich, genügend Mut aufzubringen, um sie in die Hand zu nehmen. Reines Morphium und in ausreichender Dosis. Sie wollte nicht am Leben sein, wenn Schiwa kam. Außerdem tat ihr Magengeschwür scheußlich weh.

 

Von seinem Balkon herab spendete der Papst den Gläubigen seinen Segen.

 

Gilbert McNellis, der Außenminister, lag in seinem Blute vor einem Haus in Georgetown. Ein leergeschossener Smith & Wesson-Revolver lag neben ihm. Auf der Vortreppe lagen zwei der drei Eindringlinge, die er getötet hatte. Seine Familie hatte grade Zeit genug gehabt, durch die Hintertür und Senator Dunns Garten zu fliehen.

In der Wisconsin Avenue hatten sie bei einer auf dem Marsch befindlichen Einheit der Armee-Reserve Schutz gefunden. Die Leibwache des Secret Service war schon seit Stunden nicht mehr da.

 

In der N Street, nicht weit von dem Hause, wo John F. Kennedy gewohnt hatte, duckte sich Theotis Dudley, Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, hinter einem großen Haufen von nicht abgefahrenem Müll. Er hatte seinen Maßanzug aus der Savile Row mit Jeans und einer Armee-Drillichjacke ohne Rangabzeichen vertauscht. Seine Taschen waren mit Geld und Schmuckstücken vollgestopft, die alle sein Eigentum waren, und ein Revolver Marke Ruger Blackhaw, Kaliber 0.44 stak in seinem Gürtel. Sobald die Armee nach Wisconsin abgerückt war, wollte er nach Osten durchbrechen, sich dann nach Süden wenden und über die Pennsylvania Avenue zum Weißen Haus gelangen.

Er hatte Paß und Ausweis; sie würden ihn hineinlassen. Das mußten sie ja. Es war eine der wenigen Stellen, die noch sicher waren.

Selbstverständlich würden sie ihn hineinlassen.

 

Senator Buford Dunn stand in der Statuary Hall des Capitols. Die Beleuchtung war trübe, die Nischen lagen im Schatten, alle Geräusche klangen hohl verstärkt. Hier konnte man, wie John Quincey Adams[x] seinerzeit entdeckt hatte, jedes Wort hören, das am anderen Ende des Saales geflüstert wurde. Damals, vor 1857, hatte in diesem Saal das Repräsentantenhaus getagt. Jetzt standen dort Statuen auf großen Sockeln, eine für jeden Staat, Darstellungen der großen Männer und Frauen des betreffenden Staates. Dunn hatte sich immer ein bißchen darüber geärgert. Selten nur wurde ein solches Denkmal durch das Abbild eines Mannes ersetzt, der sich vielleicht noch größere Verdienste erworben hatte. Dunn fühlte sich frustriert, weil er nicht erreicht hatte, was ihm seiner Ansicht nach gebührte. Er hatte sich damit abgefunden, daß er nie Präsident werden würde, und an der unfruchtbaren Stellung des Vizepräsidenten lag ihm nichts.

Aber er war ein guter Senator gewesen, der beste vielleicht, den sein Staat je nach Washington entsandt hatte, in die Stadt, von der Kennedy gesagt hatte, sie besäße die Tüchtigkeit des Nordens und den Charme des Südens. Er hatte gedacht, vielleicht – ach nur vielleicht! – würde er mehr erreichen, als daß nur eine blöde High School nach ihm benannt wurde. Irgendwie hatte er sich in den Kopf gesetzt, eine Statue im Kapitol zu bekommen. Hier drin, zwischen Will Rogers und Ralph Nader. Nichts allzu Modernes, aber im besten Anzug, ein Buch in der Hand, ein altmodisches Buch, nach Norden blickend, zum Sitzungsraum des Senats.

Seufzend sah er sich nach einer Sitzmöglichkeit um. Es gab keine. Hallend flüsterte der Saal. Es klang wie Papier im Winde, wie ferne Menschenmassen, wie raschelnde Seide. Er wartete, doch nichts geschah. Er wußte auch nicht genau, was geschehen sollte. Schließlich wandte er sich um und schritt auf die Rotunde zu, dann durch die Säulen und hinaus auf die Treppe an der Ostfront. Dort blieb er stehen und prüfte die Luft. Ein schöner Abend, abgesehen von den Bränden im Süden. Ein Duft von Kiefern war im Wind.

Vielleicht sollte er hinübergehen und sich im Lincoln Memorial hinsetzen. Es war nicht allzu weit. Er war noch nicht so alt, wenn er auch nicht glaubte, daß er viel älter werden würde.

 

Der russische General löste seine Sitzgurte, richtete sich halb im Sessel auf und zerrte Carl Jagens in den seinen zurück. Die Stirn des amerikanischen Kommandanten war blutig, auch die Innenseite seines Helms war blutverschmiert. Der Luftdruck in der Kabine stimmte wieder, also klinkte Menschow Carls Helm auf und nahm ihn ab.

Schlaff lag Carl in seinem Liegesitz. Menschow brach das Erste-Hilfe-Päckchen auf und legte ihm einen Stirnverband an. Kopfwunden bluteten immer stark, aber diese sah gar nicht so schlimm aus. Sie waren nach der Detonation ziemlich wüst herumgeschleudert worden, und Jagens’ Kopf war irgendwie an die Innenwand seines Helms geprallt.

Als der Verband fertig war, fuhr Menschow fort, die Funktion des Schiffes zu kontrollieren. Das Radio war ausgefallen. Die Steuerungsdüse an Steuerbord arbeitete nicht. Die Tür des Verpflegungsdepots war abgerissen, und alle möglichen Packungen schwebten herum. Der Sender zu den zweiundzwanzig 20-Megatonnern war noch intakt, und Menschow dachte kurz darüber nach, ob er es für den Verkehr mit der Erde adaptieren könnte.

Als er mit der Kontrolle durch war, hielt er Ausschau nach Schiwa. Falls sie ihn beschädigt hatten, konnte er es von dieser Seite aus nicht sehen. Er setzte sich und prüfte die Außenbordcomputer durch. Sie waren intakt, und er gab die Sensorendaten in beide ein. Dann lehnte er sich zurück und starrte auf die gelben Buchstaben auf dem dunkelgrünen Schirm.

Sie hatten Schiwa gebremst, aber die Ablenkung war minimal.

Bolschoi war zu früh detoniert.

Ping!

Menschow duckte sich automatisch. Schon vorher hatte es ein paar ganz leichte Aufschläge gegeben, doch er hatte sie ignoriert. Dieser hier war ziemlich kräftig. Er kontrollierte den Luftdruck: in Ordnung.

Ping! Bomp!

Stirnrunzelnd nahm Menschow eine rasche Positionskontrolle vor. Der Schwarm flog Schiwa voraus und entfernte sich von dem abgebremsten Asteroiden. Die Explosion hatte auch zahlreiche Trümmer aus dem Schwarm geschleudert und damit die uralte Flugordnung durcheinandergebracht.

Er mußte Verbindung zur Erde bekommen. Umfassende neue Berechnungen würden erforderlich sein.

Ping! Bomp! Wumm! Pop!

Menschow griff nach dem Akzelerator und gab dem Schiff eine leichte Beschleunigung. Er wollte nicht aus dem Schwarm heraus, sondern sich dicht vor Schiwa setzen, damit dieser Berg aus Nickeleisen sein Heck schützte. Die Kapsel schlingerte mehrmals, bevor Menschow das Schiff in Lee des Asteroiden bringen konnte. Dort ging er auf die Geschwindigkeit des der Erde zufliegenden Felsens und sah sich dann nach Carl Jagens um.

Der Amerikaner kam langsam zu sich, blinzelte und war wieder bei Bewußtsein. »Was ist? Haben wir ihn kaputtgekriegt?«

Menschow schüttelte den Kopf und schilderte ihm die Situation in ein paar einfachen Sätzen. Carl versuchte, sich aufzurichten, doch ein heftiger Schmerz verzerrte sein Gesicht, und er fiel keuchend zurück.

»Hier – nehmen Sie!« Der Kosmonaut reichte Jagens ein paar schmerzstillende Tabletten und eine Saugflasche mit Wasser. Carl nahm sie mit vor Schwäche zitternder Hand, schluckte die Pillen und verzog das Gesicht. Nach einigen Augenblicken fühlte er sich besser.

»Captain, ich glaube nicht, daß Sie dienstfähig sind«, sagte Menschow. »Ich werde lieber…«

»Nein«, stieß Carl wütend hervor und starrte den Russen an. »Ich bin hier, ich bin am Leben, ich habe das Kommando!« Doch die Anstrengung schwächte ihn, und sein Mund wurde schlaff vor Schmerzen. Er sah alles doppelt, aber er riß sich zusammen.

Menschow zuckte die Achseln. »Sie sind körperlich außerstande, Ihren Dienst zu versehen, Captain. Laut Artikel 19 Absatz 3 des Pakts zur gegenseitigen Unterstützung, den Ihr Präsident und unser Sekretariat erst vor vier Wochen unterzeichnet haben, übernehme ich hiermit offiziell das Kommando.«

»Mein Präsident und Ihr Sekretariat können mich am Arsch lecken. Sie Roter! Ich habe das Kommando dieser Mission!«

»Captain, wenn Sie wieder in Ordnung sind, übergebe ich Ihnen das Kommando wieder, und…«

»Ach was, Sie denken ja gar nicht daran, Sie ruhmsüchtiger Hund! Von Anfang an habe ich Sie im Auge gehabt! Ihr Russen seid alle gleich! Ihr habt das Telefon erfunden und was weiß ich noch! Aber dieses Kommando reißen Sie sich nicht unter den Nagel!«

»Captain Jagens, hiermit übernehme ich…«

Mit schmerz- und wutverzerrtem Gesicht griff Carl nach ihm. Er packte Menschow an der Metallnaht seines Raumanzuges und zog, von seinem Gurt festgehalten, den überraschten Russen zu sich heran. In der Schwerelosigkeit flog der Russe mit dem Gesicht in die Hebel der Video-Übertragung. Er schrie beim Aufschlag nur einmal kurz auf. Tierisch brüllend zog Jagens ihn zurück, riß ihn aus den Hebeln, die sich in sein Gesicht gebohrt hatten. Dann rammte er den Kosmonauten wieder und wieder mit Wucht in die scharfen Kanten der hervorstehenden Stifte und Hebel.

Carl stieß einen knurrenden Laut aus und schleuderte den Russen zur Seite. Menschow trieb durch die Kabine, prallte von den schwarzen Kästen des gegenüberliegenden Schotts ab und schwebte wieder auf Carl zu. Schlaff baumelten seine Arme, und er verströmte schwebende Blutstropfen. Carl packte ihn und stopfte ihn grob in seinen Sitz. Er klinkte seinen eigenen Gurt aus, suchte den Helm des Russen, rammte ihn über die blutige Haut und klinkte ihn fest. Flüchtig schlang er die Sitzgurte um den Körper und ließ sich mit einem Grunzen in seinen eigenen Liegesitz fallen. Seine Finger krallten sich in die Oberarme, bis die Knöchel weiß wurden. Blicklos starrte er aus dem Bullauge.

 

Schiwa war jetzt so nahe an der Erde, daß Einzelheiten bereits mit einem kleinen Balkonteleskop zu unterscheiden waren. Bolschoi hatte Schiwa gebremst und den Schwarm zerstreut, der von der Erde aus gesehen ein silbriger dünner Nebel war. Die von Bolschoi herausgeworfenen Fragmente flogen etwas abseits.

Der Schwarm würde die Erde noch vor Schiwa erreichen, und jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Glücklicherweise waren einige der größten Trümmer durch die Explosion so weit weggeschleudert worden, daß sie die Erde verfehlen würden. Viele der kleineren Stücke und der gesamte Staub würden in der Atmosphäre verglühen.

Doch der Schwarm würde immer noch große Schäden anrichten; das war unvermeidlich.

Auf seinem jetzigen Kurs würde Schiwa selbst in Kürze die Luftdecke der Erde aufreißen und sich für immer in den Planeten eingraben.

Dunkel, schwarzgebrannt von seinen Reisen nahe der Sonne, kam der Asteroid der Erde näher und näher.

 

Übelkeit und Schwächezustände kamen und vergingen. Für den toten Russen hatte Carl keinen Blick mehr übrig. Er war ein Meuterer auf dem wichtigsten Flug in der Geschichte der Raumfahrt gewesen. Was Carl getan hatte, war nur recht. Zu einem vorschriftsmäßigen Verfahren hatte die Zeit gefehlt. Zeit hatte man überhaupt nicht. Sie reichte vielleicht knapp, um Schiwa aufzuhalten.

Fieberhaft überprüfte Jagens die Radioanlage. Nur die Frequenz zu den Geschossen war noch intakt. Dann sah Carl den Geigerzähler.

Der Zeiger stand im roten Feld.

In der Zeit schwebend starrte er auf die Scheibe. Er war exponiert gewesen. Als das Schiff ins Taumeln geriet, mußte es aus dem Strahlenschatten Schiwas gekommen sein, in die Emission der zerstrahlten Bombenmaterie. Dann hatte Menschow das Schiff vor den Asteroiden gebracht, um es vor dem Schwarm zu schützen, der von achtern aufkam; doch damit hatte er es weiterer Strahlung ausgesetzt.

Wahrscheinlich bedeutete das den Tod.

Während einer langen Sekunde fühlte Carl Jagens nichts. Nur eine leichte Verwunderung. Dann tat sich, wie bei einem Dammbruch, ein schmaler Riß auf. Dann tröpfelte etwas durch. Dann kam in mächtigem Strom die Freude.

Er war frei.

Eine seltsame Reaktion auf sein Todesurteil! Ein stiller, unterbewußter Teil seines Ich, der Teil, der immer kalt, immer fürchterlich logisch und unemotionell gewesen war, war über diese Entwicklung hochbefriedigt.

Großer Mann, du wolltest ein Held sein. Hier ist deine Chance. Ganz gleich, was du tust, du überlebst es doch nicht, also hast du nichts zu verlieren.

Nur deinen Ruf. Nur deine Legende.

Legende.

Alle kommenden Menschengenerationen würden von ihm sprechen, wenn er es schaffte. Wenn nicht, war es auch egal. So oder so würde er tot sein.

Es gibt verschiedene Arten zu sterben. Aber nicht für Carl Jagens. Für ihn gab es nur eine Art: nach Durchführung der Mission.

Er brauchte sich nicht einmal um das Sterben an Strahlenverseuchung Sorgen zu machen, was ein langsamer und besonders scheußlicher Tod ist. Er würde tun, was zu tun war und dann einfach die Luftschleuse öffnen. Nein, erst würde er die Kapsel in eine Art Orbit bringen – ein Mausoleum im Weltraum. Oder sie auf Kurs in die Sonne setzen. Das war alles nicht so wichtig.

Wichtig war nur, daß Schiwa gestoppt wurde. Schaffte er das nicht, war er umsonst gestorben. Er würde vergessen werden. Und vergessen sein hieß, nie existiert zu haben.

Erst einmal Bilanz machen, dachte er. Positiva:

Alpha I war einigermaßen intakt. Das Schiff war radioaktiv, aber intakt.

Zweiundzwanzig Geschosse und die Mittel, sie zu leiten und zu kontrollieren.

Und was ist mit den anderen Astronauten dieser Mission? Keiner antwortet, also sind sie entweder tot oder aktionsunfähig. Er mußte es allein tun.

Die in Alpha II mußten tot oder strahlungsexponiert sein, außer sie waren im Schutze Schiwas geblieben. Es spielte auch keine Rolle. Es war sowieso immer nur auf ihn angekommen.

Rasch errechnete er für eins der Geschosse den Kurs durch den Schwarm. Dann schwenkte er auf die vom Detonationsgebiet abgewandte Seite. Der größte Teil des Schwarmes lag voraus, doch im Radar zeigte sich, daß der Schwanz des Schwarms immer noch aufkam. Er mußte sich beeilen.

Das Geschoß strich hinein und detonierte heftig an der Felsenwand Schiwas. Es tat ihm nichts; das war auch nicht der Sinn des Schusses gewesen. Dieses Geschoß war nur ein Anführer, ein Test, ein Pfadfinder durch die Trümmer.

Er begann, die restlichen einundzwanzig Geschosse zu programmieren. Sie sollten Schiwa gleichzeitig treffen. Einundzwanzigmal zwanzig Megatonnen. Dabei mußte schließlich etwas herauskommen.

Diego war auf nichts gefaßt. Die Explosion warf ihn aus seinem Liegesitz und schleuderte ihn gegen das metallene Schott. Wild taumelte die Kapsel in der Druckwelle. Diegos Arm schlug gegen das Geschoß-Kontrollbord, wobei er neun Schalthebel verriß und auf Handbetrieb umstellte, so daß die Verbindung zu Alpha I unterbrochen war. Diego wurde schwarz vor Augen, doch der Schmerz durchzuckte ihn brennend rot. Er hatte sich den Arm gebrochen.

 

Jagens blinzelte ungläubig, als neun Kontrollampen erloschen. Er fluchte auf den Computer, doch er konnte machen, was er wollte – sie leuchteten nicht wieder auf. Unmöglich konnten doch alle neun Geschosse zugleich detoniert oder durch die Explosion des ersten zerstört sein! Sie waren viel zu weit weg, viel zu fest in Redundanzen gewickelt. Sie waren nicht zerstört, dachte er, sie waren abgeschaltet!

Jemand ist dort draußen noch am Leben, ein anderer!

Alpha II, dieser verdammte Calderon! Der hat meine Raketen geklaut, dachte Jagens voller Wut. »Dieser Bastard!« knirschte er, »dieser mexikanische Bastard!«

Blieben also ein Dutzend. Zwölf zwanzig Megatonnen. Vielleicht reichte das. Er hatte keine Idee, wieviel Abweichung beim erstenmal, bei der Detonation Bolschois erreicht worden war. Etwas gewiß, aber nicht viel. Vielleicht wäre es mit einem weiteren Stoß zu schaffen.

Er machte sich wieder ran die Programmierung von zwölf Geschossen, alle auf ein Ziel gerichtet, alle im Abstand von einer Millisekunde oder so detonierend, auf dem richtigen Punkt des Asteroiden. Erwischte man diesen richtigen Punkt der Rotation, traf man ihn genau richtig, so konnte man die Rotation des Asteroiden so verstärken, daß Stoßwirkung eintrat.

Aber es war eine knappe Sache. Wenn ihm bloß nicht mehr der Kopf so dröhnen würde! Doch das konnte er ignorieren, solange das Programmieren dauerte. Helden haben es nie leicht.

 

»Warum hat er die kleine Rakete detoniert?« fragte Solari.

Lisa Bander zuckte die Achseln, ernst, nachdenklich und betroffen. »Vielleicht war es eine letzte überflüssige Geste, vielleicht wollte er einen Weg durch den Schwarm bahnen – was weiß ich.« Sie versuchte weiter, mit den anderen Schiffen Funkverbindung zu bekommen. »Alpha I, Alpha II, hier ist Omega I, bitte kommen! Alpha I, hören Sie mich? Bitte kommen!«

»Gib’s auf, Baby«, sagte Nino. »Die sind entweder tot, oder ihr Radio ist durchgeknallt.«

Sie seufzte, versuchte es aber weiter: »Alpha II, hier ist Omega I. Diego? Diego, hier ist Lisa. Komm bitte!«

»Omega I, hier Kontrolle Houston, bitte kommen!«

»Gehen Sie aus der Leitung, Houston, wir haben zu tun!«

»Omega II, hier Houston. Sind Sie…«

Eine andere Stimme mischte sich ein. »Lisa, hier ist Dink. Was ist passiert? Die OAO sagt, ihr habt Schiwa gebremst, aber nur beschissen wenig abgelenkt.«

Lisa lächelte trübe. »Wir – wissen nicht, was passiert ist, Dink. Ich glaube, bei Alpha I sind die Radios ausgefallen. Vielleicht lebt keiner mehr an Bord. Ich…« Sie riß sich zusammen und schloß die Augen. »Ich weiß nicht. Jetzt müssen wir eingreifen. Wir haben neunzehn Geschosse, mit denen wir Schiwa treffen können, und die kriegt er alle an den Kopf!«

»Colonel Bander, wenn Bolschoi keine ausreichende Ablenkung erreicht hat, werden Sie es mit Ihren Geschossen höchstwahrscheinlich auch nicht schaffen.« Lisa kannte die Stimme, konnte sie aber nicht identifizieren. Einer von den Wissenschaftlern.

»Wieder mit nach Hause bringen kann ich sie sowieso nicht«, antwortete sie leise, fast flüsternd. »Muß es wenigstens versuchen.«

Dink Lowell hatte sich wieder eingeschaltet. »Vielleicht zusammen mit den Alpha-Geschossen, wenn sie alle gleichzeitig auftreffen…«

»Prima, bloß ich kann Alpha nicht erreichen. Weder I noch II. Ich schalte jetzt ab. Ich muß versuchen, näher an das verdammte Ding heranzukommen.«

»Omega I…«

Sie schaltete die Erdfrequenz ab. Notfalls konnte sie ja wieder einschalten. Die Verbindung bestand. »Also rein!« sagte sie zu Nino Solari.

Schmerz.

Der Schmerz holte Diego aus der Schwärze zurück. Gleich bei der ersten Bewegung wurden die Schmerzen schlimmer, und er schrie auf. Er schwebte in der vollgestopften Kabine, ein Fuß war in irgendeinem Gerät eingeklemmt und hielt ihn fest. Sein Gesicht war eine Handbreit entfernt von Olga Nissens starrenden toten Augen.

Eine Welle von Übelkeit zwang Diego, sich zu krümmen, und der Schmerz beim Bewegen des Armes warf ihn in die Bewußtlosigkeit zurück. Es war der linke Arm. Anscheinend war der Unterarm gebrochen.

Er kam wieder zu sich, drehte sich vorsichtig herum, den verletzten Arm in der Schwebe. Wenigstens verhinderte die Schwerelosigkeit, daß der Arm an der Bruchstelle abknickte. Er brach das Siegel des Erste-Hilfe-Kastens und zog eine der Schienen heraus. Stöhnend legte er sie sorgfältig um den Arm. Er atmete tief, versuchte vergeblich, seinen eingeklemmten Fuß freizubekommen, dann nahm er die schlaffen Finger seiner linken Hand in die Rechte.

Wieder atmete er ein, wartete einen Herzschlag lang und zog. Er stieß einen knurrenden Laut aus, denn der Schmerz fiel ihn wieder an, so stark, daß er fast wieder bewußtlos geworden wäre. Er hatte nicht gewagt, seinen Raumanzug abzulegen, denn er würde vielleicht nicht wieder hineinkommen, und mit größter Wahrscheinlichkeit würde er ihn brauchen. Hastig drehte er an der kleinen Patrone und ließ die komprimierte Luft in die Schiene strömen. Sie schloß sich fest um seinen Unterarm, und er verzog das Gesicht, denn es tat weh.

Hoffentlich hatte er keinen ernsthaften Blutverlust erlitten! Er machte sich daran, das Schiff neu zu trimmen und wieder auf Kurs zu bringen. Beständig war er dabei nahe daran, ohnmächtig zu werden, doch er kämpfte dagegen an. Schmerztabletten würden seine Reaktionsfähigkeit zu sehr beeinträchtigen. Damit mußte er warten.

Sein Schiff bewegte sich von Schiwa weg, fiel jedoch nicht achtern ab. In einigen Sekunden hatte er über Computer einen Kurs abgesetzt, der ihn hinter den Steinklotz bringen würde. Erst nachdem er den Kurs in den Navigationscomputer eingefüttert hatte, nahm er ein paar Schmerztabletten.

Was nun? Mit tränenverschmierten Augen beobachtete Diego den langsam rotierenden Felsblock. Mit jeder Sekunde kam er der Erde um Kilometer näher. Was war zu tun? Wenn Bolschoi ihn nicht gestoppt hatte – was hatte er, Diego, dann für Möglichkeiten?

Nun, zunächst einmal, Calderon, sprach er zu sich selbst, zieh Bilanz: Was kannst du nicht, was hast du Positives? Er führte eine regelrechte Statusprüfung durch.

Zuallererst sah er auf den Geigerzähler. Das Schiff hatte etwas Strahlung abbekommen, aber sie lag tief unter der gefürchteten tödlichen Dosis. Schiwas Masse hatte die unsichtbaren Todesstrahlen größtenteils abgeblockt.

Er fuhr mit dem Rückruf-Auswertungsprogramm fort und reparierte die Schäden am Schiff, so gut es ging.

Carl Jagens starrte auf Schiwas Steinmassen, und ein unerhörtes Hochgefühl überkam ihn. Die letzte Herausforderung! Für diesen Augenblick habe ich alles überlebt, dachte er, was sie mir an den Kopf geschmissen haben: Luftkämpfe, das ganze Raumtraining, die Sache auf dem Mond, den langen Marsflug. Ich habe die endgültige, die allerwichtigste Selektion überstanden. Nein! Mehr als das – ich wurde zum Führer auserwählt!

Ich habe die vorzeitige Detonation dieser verpfuschten Russenbombe überlebt, die Meuterei dieses Roten.

Jawohl, ich sehe dem Tod ins Gesicht, nicht zum erstenmal – nein, nur zum letztenmal. Aber ich habe alles durchgestanden, all die freudlosen Jahre, in denen ich meinen Weg gemacht habe, mit Lächeln, Intrigieren und schwerer Arbeit, alles nur, um dieses eine zu tun. Mein ganzes Leben war auf diesen einen, einsamen Moment ausgerichtet, diesen letzten Höhepunkt des Erlebens. Nur Gott kann mich hierhergeführt haben, aller Unwahrscheinlichkeit, allen Widerständen und Unvollkommenheiten zum Trotz. Es muß ein Wille dasein, der mich, koste es was es wolle, tun läßt, was ich tue, was ich getan habe.

Mein Leben ist verwirkt, doch das ist ein geringer Preis für ewigen Ruhm.

Seine Finger lösten sich von den Armlehnen der Beschleunigungsliege, und er streckte die Hand aus, um auf den Knopf zu drücken, der die kleine Flotte von Geschossen in Bewegung setzen, zerstörende Energie auf Schiwa regnen lassen würde.

 

Licht erfüllte die Kabine.

Lisa und Nino Solari waren geblendet, gelähmt durch diese plötzliche wellenartige Serie von Explosionen.

»Was zum Teufel ist denn jetzt los?« keuchte Nino und rieb sich die Augen.

»Jemand hat seine Geschosse auf Schiwa abgefeuert«, sagte Lisa und versuchte wieder, mit dem Alpha-Team Verbindung zu bekommen. »Alpha, hier ist Omega, bitte kommen!«

»Omega I, hier ist Houston. Was ist? Herr des Himmels, macht gefälligst Meldung! Wir kriegen hier schon die ersten Einschläge! Vor einer Stunde war ein Einschlag vor der uruguayischen Küste, und die Flutwelle hat Montevideo weggewaschen!«

»Dink? Verdammt, ich habe keine Zeit zum Quatschen!«

»Lisa, wir hören grade, San Bernadino ist nur noch ein Krater. Erdbeben längs der ganzen San Andreas-Falte.[xi] Tschengtschou in der Provinz Szetzuan ist weg. Und in der Ru’al Khali-Wüste ist ein gottverdammter See aus flüssigem Glas!«

»Dink, laß uns in Ruhe!«

»Verdammt, das schießt hier wie mit Schrotflinten! Was macht ihr denn da oben? Melbourne wird grade von einer Flutwelle getroffen und…«

»Dink! Wir tun, was wir können. Ich kriege keine Verbindung mit Alpha. Ich habe keine Ahnung, wer noch lebt und wer nicht. Eben hat jemand Schiwa mit einem Haufen Sprengköpfe angeschossen. Paß auf: Lassen wir das mit dem Ablenken und versuchen wir’s mit Bremsen. Schadensmeldungen vom Raumschiff Erde kann ich nicht gebrauchen. Wir können hier oben doch gar nichts dagegen machen, verstanden?«

Lisa wartete die Antwort nicht ab, sondern sprach sofort weiter. »Ich brauche ganz schnell ein paar Daten. Wie hat es sich auf Schiwas Kurs ausgewirkt? Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt erst einmal versuchen, ihn abzubremsen. Aber verschafft mir ein paar Zahlen, pronto!«

»… Äh, ja, Lisa – hör zu, es wird schon durchgerechnet. Wir haben Ärger mit dem Bostoner Institut gehabt. Hatten keinen Strom mehr, aber dann kam ein Bataillon mit mobilen Generatoren; die genauen Resultate kommen in Kürze durch und…«

»Zum Teufel, Houston, was soll ich mit Lokalnachrichten? Wie ihr’s macht, ist mir egal, aber macht es! Daten – und zwar schnellstens! Ist es besser, wenn wir ihn soweit abzubremsen versuchen, daß er die Erde verfehlt, oder sollen wir lieber nochmals versuchen, ihn abzulenken? Beeilt euch!«

»Roger, Omega I, wir… ah, hier ist ja Chuck…«

»Omega I, hier Houston Control, Bradshaw.«

»Houston Control, hier ist Omega I. Haben Sie was für uns?«

»Jawohl, Omega I. Boston sagt, die erreichte Ablenkung ist nur etwa halb so groß, wie wir sie brauchen.« Solari stöhnte verzweifelt. »Hm… 61 Prozent, um genau zu sein. Habt ihr mit allem hingehauen, was ihr hattet?«

»Nein, Houston, das kam von Alpha, wir wissen nicht genau, was sie gemacht haben. Mit allem oder nur mit einem Teil – wir wissen es nicht. Die Radarbilder sind noch unscharf. Hier oben schwimmt immer noch ein Haufen Müll herum.«

»Na ja – ganz gleich, was ihr habt – haut es ihm sobald wie möglich rein. Mit jeder Sekunde wird es schwieriger.«

»Verstanden, Houston. Wir holen schon eine ganze Zeit auf. Sowie wir in Schußposition hinter Schiwa sind, richten wir unsere Geschosse.«

»Hm…« Bradshaw schien noch etwas einwenden zu wollen, schloß dann aber: »Also… viel Glück, Omega.«

»Verstanden, Houston. Omega I Ende.«

Lisa blickte zu Solari hin, doch dessen Augen hingen am Radarschirm, wo er versuchte, die Spreu vom Weizen zu scheiden.

Ping! Ponng!

Kleine Steintrümmer von den letzten Explosionen prallten an Omega I ab. Sofort versuchte Lisa, die hinter ihnen befindliche Omega II zu warnen. »Omega II, hier Omega I. Aufkommende Trümmer. Ich wiederhole: aufkommende Trümmer.«

»Kenntnis genommen«, erwiderte Colonel Zaborowskijs tiefe Stimme.

»Omega II, achten Sie auf…«

Sie zuckte zusammen. Wieder eine taghelle Explosion. Irgendwer hatte Schiwa mit einer weiteren Atombombe getroffen.

»Lisa, um Gottes willen, wir können doch nicht noch weiter herangehen, wenn hier dauernd Atombomben detonieren!

Und die Geschosse können wir auch nicht da hineinjagen, wenigstens nicht, ehe wir sicher sind, daß die Explosion sie nicht kaputtmacht!«

Lisa nickte. »Omega II, haltet eure Position. Wir müssen weitere Explosionen verhindern und unsere Maßnahmen koordinieren.«

Eine volle Minute lang versuchte Lisa, mit den Alpha-Schiffen Verbindung zu bekommen, aber vergeblich.

Resigniert blies sie die Wangen auf und sah Solari an. »Nun – dann müssen wir eben doch näher ran, mein Freund.«

»Ja«, erwiderte der Astronaut trocken; »ich habe mir gleich gedacht, daß es nicht mehr lange gutgehen würde.«

»Wir müssen herausfinden, welches Schiff überlebt hat und wer diese Raketen abfeuert.«

Solari sah Lisa eindringlich an. »Das… hm, das könnte Jagens sein… und in diesem Falle…«

»… ist Diego wahrscheinlich tot«, ergänzte Lisa. Sie schüttelte den Kopf, und ihr kurzgeschnittenes Haar blieb in der Null-Gravitation ein Weilchen fächerartig stehen, ehe es sich wieder an ihren Kopf legte. »Daran möchte ich grade jetzt lieber nicht denken.« Später, sagte sie sich. Später. Privat.

»Probier mal, ob du so was wie einen telemetrischen Fixpunkt kriegst. Die müssen doch die Geschosse auf bestimmte Ziele programmiert haben.«

»Ich werde mit Omega II triangulieren«, erwiderte Nino und hatte die Finger auch schon an den Knöpfen.

Ping! Ponk! Lisa hob den Kopf. Bonk.

Ting!

Jetzt geraten wir in die ganze große Schweinerei, dachte sie.

 

Wieder wurde Diego unruhig. Die zweite Detonation erwischte ihn auf der Liege, aber das Herumwälzen tat so weh, daß er wieder die Besinnung verlor. Nochmals geriet die Kapsel ins Taumeln. Die Blutströpfchen, die in der Kabine herumschwebten, trieben auf ein feines Loch in der dünnen Metallwand des Schotts zu. Wäre einer der Kabineninsassen bei Bewußtsein gewesen, so hätte er ein feines Zischen gehört.

»Da!« sagte Lisa und deutete zum Bullauge. Aus dem Asteroiden strömte etwas Langes, Dünnes heraus. Verwundert starrte Solari hin. Eben kam wieder so ein Faden. Die Fäden verschlangen sich und zogen als langer Gasschweif hinter Schiwa her, von der dahinterstehenden Sonne angeleuchtet.

»Wasser und Methan«, sagte er, »die Explosion muß den ganzen verdammten Steinklotz aufgeheizt haben. Mein Gott, da!«

Der kometartige Schweif wurde dichter und schimmerte jetzt in mehreren Farben. Immer mehr Gas trat aus dem erhitzten Stein aus – ein langer, farbenprächtiger Schweif.

»Gern sag ich’s ja nicht«, meinte Nino, »aber es ist schön.«

»Die dort ist auch schön«, erwiderte Lisa und deutete auf einen der Bildschirme: die Erde – eine klar erkennbare blauweiße Scheibe.

Die Zeit lief weg.

 

Carl fluchte auf die neun toten Lampen. Neun! Neun würden schon reichen. Warum hatte er die neun nicht kriegen können? Hatte die Zahl etwas zu bedeuten? Eine ganz besondere Zahl. Die neun Musen. Nein, das war nichts! Was hatte dieser Dummkopf, damals auf der Party – was hatte der gesagt? Die neun Kleinodien, der höchste Zustand geistiger Entwicklung bei den Okkultisten. Vielleicht war doch etwas an der Astrologie, dieser verkorksten Wissenschaft? Nein, abgelehnt, unwichtig, vergiß es. Quatsch. Moment – war da nicht etwas mit den Neun Geheimen Namen? Irgendetwas aus diesem saublöden Satanisten-Kult? Aber wenn Satansverehrung nun kein Blödsinn wäre, wenn…

Stop.

Nimm dich gefälligst zusammen.

Ruhe.

Du bist auserwählt.

Was du tust, ist das Richtige.

Kein Schwanken.

Entscheide.

Dann tu es.

Stirnrunzelnd sah Carl auf die dunklen Quadrate. Sie waren ausgefallen. Dafür konnte es nur einige wenige plausible Gründe geben. Denk nach! Was besagt die Wahrscheinlichkeitsregel? Vielleicht liegt es nur an der Elektronik. Die Geschosse waren mit den anderen losgegangen, nur die Kontrollampen brannten nicht. Nein, die Leitungen im Schiff waren so gut wie narrensicher, alle auf molekularer Basis. Daß beim ersten Anflug ein einzelnes Geschoß nicht reagiert hatte, mußte auf einem Programmierungsfehler beruhen. Er hatte es dann hinterhergejagt, stinkwütend und enttäuscht.

Eine andere Möglichkeit war, daß die neun Geschosse zerstört waren. Aber wodurch? Sie waren zu weit entfernt, um durch die Detonation beschädigt zu werden; und daß sie alle neun, alle auf einmal durch einen Trümmeraufprall zerstört worden waren, war ebenfalls unwahrscheinlich. Also mußten sie noch vorhanden sein.

Aber es gab noch eine Möglichkeit: Sie waren über die Hauptleitung manuell abgeschaltet worden.

Calderon.

Calderon in Alpha II.

Er hatte es getan.

Aber wie kam er dazu? Er war nicht der Auserwählte. Er mischte sich unbefugt ein. Er gab die Erde der Vernichtung anheim.

Carl schwenkte den Radarschirm soweit vor, wie es ging. Wo war dieser Bastard?

 

Langsam kam Diego Calderon wieder zu sich. Der Schmerz half dabei. Er war etwas, woran man sich klammern konnte. Eine Realität in diesem Nebel der Ungewißheit. Schmerz gab es, und Schmerz würde es immer geben. Schmerz war etwas, worauf man zählen konnte.

Irgend etwas Langes, Farbiges strömte und wallte durch die Schwärze. Er kniff die Augen zusammen: jetzt war Schiwa ein Komet! Er kommt mit fliegenden Fahnen. Diego hatte die vage Idee, daß man etwas dagegen tun müsse.

Die Geschosse. Schiwa nochmals anschießen.

Er sah auf das Kontrollbrett. Neun grüne Lichter. Drei und drei und drei. Sonst brannten auf diesem Brett keine Lampen mehr. Die anderen waren erloschen, tot. Detoniert.

Jagens hatte sie alle gegen Schiwa eingesetzt. Aber hatten sie etwas genutzt? Was für eine Ungewißheit! Er, Diego Calderon, beinahe blind und taub, ohne Verbindung zur Erde oder zu den anderen Schiffen – ausgerechnet er mußte handeln. Nach eigenem Ermessen. So gut er konnte. Und wenn er etwas falsch machte? Koordination war dabei von größter Wichtigkeit. Hoffentlich waren die anderen nicht so abgeschnitten wie er.

Aber er hatte neun 20-Megatonnen-Geschosse. Wenn alle die anderen Alpha-Geschosse Schiwa nicht abgelenkt hatten – was konnten die paar Dinger schaffen?

Doch versuchen mußte er es.

Da sah er die Traube roter Tröpfchen am Schott. Ein Loch! Mühsam erhob er sich von der Liege und holte sich einen Pflasterstreifen aus dem Reparaturdepot.

Tink!

Stöhnend vor Schmerz zog er die Schutzschicht ab und mühte sich wieder zu dem Leck. Dabei kam ihm auch schon eine Idee, wie er diese neun Raketen für den gleichzeitigen Abschuß programmieren mußte.

Ping!

Pop!

Er klebte das Pflaster über das Loch und glättete es, wobei er die Blutstropfen zerstrich. Erschöpft hangelte er sich wieder auf den Liegesitz zurück.

Ponk!

Neun auf einen Streich! Sein Sonntagsstreich! Sein einziger Streich.

Pinng!

 

»Ich hab ihn«, sagte Solari. »Das muß er sein, Carls Signal. Er hat den Entfernungsmesser in Betrieb gelassen für Geschosse, die er gar nicht mehr hat.«

»Könnte es nicht… Alpha II sein?«

Nino schüttelte den Kopf. »Nee. Jedes Schiff hat doch sein eigenes Signal. Das hier ist Alpha I.«

»Paß auf, daß du es nicht verlierst. Und jetzt hinein!«

Ting.

Nino grinste. »In deinem Raumanzug siehst du manchmal aus wie ’ne Schildkröte!«

Doch Lisa lächelte nicht zurück. Omega I nahm Fahrt auf. Vor ihnen war Schiwas langer farbiger Schweif, deutlich sichtbar, immer größer.

In Houston überreichte ein Assistent Chuck Bradshaw eine Meldung aus dem Ferndrucker. Er zuckte zusammen und gab sie an Dink Lowell weiter. Kalkutta, Tientsin und Hokkaido hatten schwere Meteorenschäden erlitten. Äthiopien und die saudiarabische Wüste kochten unter massiven Einschlägen. Der Flugverkehr auf der ganzen Erde war eingestellt. Mailand und Detroit brannten unaufhaltsam. »Wunder«, Aufstände, Massen von Toten wurden gemeldet.

Dink warf den Zettel in den Papierkorb. Davon brauchte er den Astronauten nichts zu erzählen. Die Vorhut des Schwarmes schlug ein. Das Ende war nur noch eine Frage der Zeit.

Wenn kein Wunder geschah.

Einer der Fluglotsen bekreuzigte sich, schob seinen Stuhl sorgfältig unter den Arbeitstisch und ging hinaus. Ein Ersatzmann kam nicht. Sein Bildschirm flimmerte vor sich hin.

 

Carl Jagens starrte auf einen bestimmten Leuchtpunkt auf seinem Schirm. Er war etwas heller, jedoch nicht größer als die Abbilder der diversen Brocken, die Schiwa immer noch begleiteten.

Metall. Alpha II. Mußte es sein.

Fast unbewußt brachte Jangens sein Schiff in die Richtung des winzigen Lichtflecks.

Calderon.

Er hatte die neun Geschosse. Carl mußte hin, diesem Narren das Kommando über die Geschosse entziehen und sie Schiwa an den Kopf donnern.

Dann würde er…

Eins nach dem anderen. Zu Alpha II. Die Geschosse übernehmen. Notfalls Calderon töten. Wäre sogar poetische Gerechtigkeit. Dann stünde er, Captain Carl Jagens von der US-Kriegsmarine, allein an der Front. Das unfähige Omega-Team war bedeutungslos. Er würde Schiwa ablenken.

Er allein.

Das Schiff stieß einen Feuerstrom aus und nahm Kurs auf die ferne, winzige Kapsel von Alpha II.

»Kommt auf«, sagte Nino. »Kannst du ihn schon sehen?«

»Nein, verdammt. Da ist immer noch…«

Ping!

»… soviel Staub. Nein, Moment! Nein! Ja! Da, da ist er. Siehst du die Lichter?«

»Hm – ganz deutlich.«

Geschickt adjustierte Lisa den Kurs auf die beiden roten und grünen Positionslichter.

»… hier ist… Kontrolle, bitte kommen! Omega I…«

»Was ist denn?« fuhr Lisa auf. »Verständigung ist nicht besonders. Vermutlich zu starke Interferenzen durch den Staub und Schiwas Eisen.«

»… euer Signal. Euer Radarbild deckt sich mit dem von Schiwa… und… NASA glaubt… ihr… Alpha… Ende.«

»Houston, der Spruch kommt unvollständig. Wir können euch nicht verstehen«, antwortete Nino.

»Egal«, sagte Lisa und schaltete Houston wieder ab. »Wir gehen längsseits an Alpha I.«

»Das wird ziemlich schwierig. Er ist auf abweisendem Kurs…«

»Für Leichtes werden wir ja nicht bezahlt«, murmelte Lisa und behielt den kleinen, undeutlicher werdenden Fleck von einem Schiff fest im Auge.

Ping!

Tong!

 

Bonk!

Carl Jagens achtete nicht auf die kleinen Steine, die das Schiff trafen; nur ab und zu blickte er routinemäßig auf den Luftdruckmesser. Er würde ein paar Beulen abbekommen, aber sobald er wendete und mit dem Schwarm flog, würde das aufhören.

Ponk!

Ping!

Die Kapsel dröhnte im Widerhall der Aufpraller; dazu kam noch das dumpfe, hohlkratzende Geräusch derer, die in stumpfem Winkel trafen.

Auf seinem Schirm erschien ein neuer Radarfleck. Er runzelte die Stirn. Noch ein Schiff?

Omega.

Was wollten die denn hier?

Das war seine Mission! Er wollte schon nach dem Radioschalter fassen, da schüttelte er den Kopf. Nein – gar nicht drum kümmern. Sie konnten seinen Ruhm nicht teilen. Er würde die Erde retten.

Halt!

Die hatten ja die Geschosse. Neunzehn Geschosse!

Er griff nach dem Akzelerator. Das Schiff verlangsamte die Fahrt. Er setzte sich auf Parallelkurs und beobachtete, wie sie längsseits kamen. Es zwang ihm sogar Bewunderung ab, wie geschickt Omega I sein Schiff berührte.

Bump.

Er wollte sie nicht an Bord des Schiffes haben und wollte auch nicht das Kommandantenschiff verlassen.

Direktkontakt natürlich! Rasch berührte er Omegas Rumpf mit dem Stumpf seiner Außenantenne.

»… hier Omega I. Dort alles klar? Ende.«

»Omega I, hier Alpha I. Selbstverständlich ist alles klar bei mir. Radioantenne ausgefallen, weiter nichts.«

»Carl, wo ist Diego?«

»Omega I, bitte beachten Sie die Funkverkehrsordnung. Ich habe Sie schon einmal darauf hingewiesen.«

»Carl, wo ist Diego?« Zorn und Angst klangen aus ihrer Stimme.

»Tot. Alle tot. Der Russe auch. Wollte meutern. Können Sie sich das vorstellen? Meuterei!«

Lange schwieg Omega; dann kam wieder Lisas Stimme: »Alpha I, woher wissen Sie, daß Colonel Calderon tot ist?«

»Er ist tot. Das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig sind die Geschosse. Übergeben Sie sie mir auf Kanal eins null acht zu meiner weiteren Verfügung. Ich übernehme auf…«

»Carl, wir können Sie zur Erde durchschalten. Die Verständigung ist schlecht, aber die können Ihnen sagen, was am besten ist.«

»Am besten? Gibt’s nicht. Es geht nur auf eine Art: Schiwa alles aufknallen, was wir haben.«

»Ja, aber im richtigen Punkt, mit der richtigen Verteilung…«

»Ich befehle Ihnen, mir die Geschosse unverzüglich zu übergeben!«

»Captain Jagens«, unterbrach Solari hastig, »hier ist Houston, Sir.«

»…trolle Houston, wie steht’s bei… wenn… Boston schätzt…«

»Übergeben Sie mir die Geschosse, Omega I!«

»… Ablenkungsversuch ist durchgeführt und… nur eine siebenundzwanzigprozentige Cha… es… ungewiß… funktioniert… Sprengköpfe wirken in opti…«

»Nein!« brüllte Carl. »Nur ich! Ich allein kann die Verläßlichkeit des Systems richtig abschätzen! Mein Plan! Das ist mein Plan! Er wird gelingen! Ich setze die Geschosse ein! Ich werde Schiwa ablenken! Mein Plan wird gelingen! Die Russen sind schuld! Zu früh detoniert! Diese Bombe der Roten hat nichts getaugt! Aber ich führe es durch! Omega I! Sie werden mir sofort die Kontrolle Ihrer Geschosse übergeben! Das ist ein Befehl.«

 

Lisa starrte Nino Solari an. Carl Jagens mußte ja völlig von Sinnen sein. Sie drückte auf die Taste. Ein Flammenschub brachte sie ein Stück von Alpha I weg, die Funkverbindung war damit abgerissen. Kontrolle Houston sprach immer weiter, schlug mehrere Manöver vor, doch Lisa kümmerte sich nicht darum.

»Nino, programmiere alle Geschosse auf einen Punkt hinter dem Perimeter des Schwarms!«

»Die Zeit, Lisa, die Zeit! Vielleicht sollten wir lieber – bumms! – direkt draufhalten.«

»Ich weiß«, nickte sie, »mit jeder Sekunde kommt er näher. Aber es muß stimmen. Mach schon, ich spreche inzwischen mit Houston.«

Sie ging wieder auf den Erd-Kanal.

»Houston, hier Omega I. Ich brauche ein Programm, um mit allen meinen neunzehn Geschossen eine maximale Ablenkung zu erreichen. Ende.«

»Omega I, hier Bradshaw. Lisa, wir… wir haben soeben von OAO gehört, daß ein ziemlich großer Brocken genau auf uns zukommt. Wird irgendwo zwischen hier und Beaumont einschlagen. Vielleicht kommt er sogar soweit südlich, daß er Galvestone trifft. Wir evakuieren.«

»Chuck…!«

»JPL wird übernehmen. Ich fliege sofort hin. Sie haben ein ganz gemeines Erdbeben gehabt, aber sie sind betriebsfähig. Wir müssen uns beeilen. Ende.«

»Chuck!« Aber die Welle war verstummt.

Totenbleich sah Lisa zu, wie Nino die Frequenzen absuchte. Plötzlich grinste er sie triumphierend an. »Ich hab sie!«

»… hier ist Jet Propulsion Laboratory, bitte kommen. Omega I, wir übernehmen Bodenkontrolle. Empfangen Sie uns? Wir übertragen… die… in Goldstone… wo…«

»Verdammt!« fluchte Nino. »Erst kamen sie ganz gut rein, und nun auf einmal – pffft…« Nervös drehte er am Knopf.

»… wir… durch… Omega… die… Propulsion… Eins… Bodenkontrolle Ende? Omega…«

»JPL, hier Omega I, die Verständigung ist lückenhaft, aber machen Sie weiter.«

»Omega I… verstehen Sie…«

»JPL, wir brauchen ein Programm für den gleichzeitigen Abschuß aller neunzehn Geschosse zwecks maximaler Ablenkung!«

»Haben Ihr… monitoriert… Houston, Omega… arbeiten es aus… paar Minuten… die Hölle los… hier in der Gegend… Strom ist… das Beben… der Gouverneur hat…«

»JPL, JPL, hier Omega I!«

»… weiter, Omega!«

»JPL, die russische Bombe hat Schiwa abgebremst… vielleicht können wir ihn noch weiter abbremsen; das könnte eher klappen als die Ablenkung. Dann geht er vielleicht ganz an der Erde vorbei. Könnt ihr das ungefähr abschätzen? Was wäre aussichtsreicher? Ablenken oder bremsen?«

»… rufen euch wieder… paar… Minuten… bis wir ihn angepeilt… dann…«

»Hört sich an wie so ein gottverdammter Kristalldetektor«, murmelte Nino erbost.

Vereinzelte Kleintrümmer machten Omega I immer noch zu schaffen. Lisa nahm Verbindung mit Omega II auf und ließ sich den dortigen Statusreport geben. Dann meldete sich das Jet Propulsion Laboratory wieder: »Omega I, hier ist… und… haben die Möglichkeiten durchgerechnet… nehmt eure neunzehn… schaffen das und…«

»JPL, JPL, hier Omega I. Bitte wiederholen!«

»Omega I, hier JPL… eine Wahrscheinlichkeitsberechnung, die ihr auswerten… schätzen, daß eure neunzehn nicht ausreichen, aber… Radaranalyse… daß da noch fünf vorhanden sind… bis acht… möglicherweise unter Kontrolle von…«

»Was denn, Alpha hat noch Geschosse?« fragte Nino.

»Jawohl, Omega I. Nach Schätzung von Tiefenradar… bis acht möglicherweise bei…«

»Wie kriegen wir die?« murmelte Lisa. »Wenn Diego tot ist…«

Diego tot… sie schüttelte sich.

Ping!

Ponk! Ping! Bonk!

Ting!

Zischen. Es wurde schriller, jaulend. Lisa spitzte die Ohren. Mit der einen Hand griff sie nach einem Pflaster, während sie mit der anderen schon ihre Sitzgurte löste. Verdreht, halb aus dem Sitz hängend, zog sie die Schutzschicht vom Pflaster und klatschte die Haftscheibe auf das Loch. Sie war zu klein. Am Rande strömte noch Luft aus, doch ohne eine überflüssige Bewegung machte sie ein zweites Pflaster zurecht und klebte es auf. Das Zischen verstummte. Sie sank wieder auf die Liege und atmete erleichtert aus.

»Omega I, hier Omega II, Julius Short. Wir sind getroffen… mehrere Lecks… die meisten haben wir geklebt, aber unser Navigationscomputer ist größtenteils im Eimer.«

»Omega II, was ist mit der Besatzung? Schumacher und Zaborowskij?«

»Colonel Zaborowskij ist ziemlich schwer verletzt. Splitter beim Treffer in den Computer. Tom ist auch verletzt. Handgelenk gebrochen, ein paar Rippen, was am Auge. Sind beide zur Zeit dienstunfähig.«

»Und Sie selbst, Julius?«

»Semper fides, Lisa. Anscheinend kann ich meine untere Hälfte nicht bewegen, aber ich kann das meiste von meinem Platz aus erreichen. Durch den Luftverlust sind die meisten Blutungen festgefroren, nehme ich an.«

»Mein Gott, Julius«, sagte Nino heiser, »können Sie nicht auf Navigation über Bodenkontrolle umschalten?«

»Negativ, Major Solari. Der… und Metall… sind weg.«

»Bitte wiederholen Sie, Major Short«, sagte Lisa. »Omega II, bitte kommen.«

»Komplikationen«, murmelte Nino.

»Omeg… hier ist… empfangen… um… Radio größtenteils… und wir können Sie nur kon… Sie uns mit der Erde?«

»Jawohl, Omega II«, sagte Nino, »wir geben Ihr Signal durch.« Zu Lisa sagte er: »Hoffentlich geben sie Redundanz, dieser Staub versaut den ganzen Funkverkehr.«

»Hm, ja. Omega II, können Sie ihren Auftrag weiter erfüllen?«

»Omega I, hier… und dann… aber daß wir jetzt noch Taumeln korrigieren können, ist ausgeschlossen… Müssen… über… erbitten Erlaubnis betreffend… Ende.«

Lisa hatte die taumelnde, leckgeschlagene Kapsel vor Augen, mit drei Schwerverletzten als Besatzung. Sie dachte an die alten Bänder von Apollo XIII, mit dem explodierten Tank, der das zerbrechliche Schiff taumelnd durch den Raum geschossen hatte. Sie hörte den berühmten Funkspruch Apollos: »Houston, wir haben ein Problem…« und wie stolz sie auf diese Männer gewesen war. »Erlaubnis erteilt, Omega II.«

Fast im selben Augenblick hatte sie Omega II völlig vergessen. Wichtigeres stand an, und alle Mitglieder dieser Besatzung waren Leute mit hohem Überlebenskoeffizienten.

»…weiter… wird schon gehen… NASA und… weiter weg von Schiwa… viel Glück, und…«

»Viel Glück, Omega II«, entgegnete Lisa gelassen.

Pong!

Ting! Tonk! Bomp!

Pinnng!

 

Diego Calderon geriet auf seiner Beschleunigungsliege ins Rollen. Die Kontrollgeräte schlugen Wellen vor seinen Augen. Die Striche und Kurven auf den Bildschirmen sah er doppelt, verstärkt, verschwommen.

Tonk!

Wie ein riesiges zackiges Stück Finsternis stand Schiwa vor dem Bullauge des Schiffes. Langsam rotierte er um seine Achse, funkelnd spielte das reflektierte Sonnenlicht an einzelnen Stellen seiner Oberfläche. Hinter ihm, aus den Narben der Explosion und uralten Rissen strömend, zog der vielfarbige gasige Wasserdampf – und Methanschweif.

Ping! Ponk!

Drump.

Krrz. Ping!

Eine grüne Kontrollampe erlosch. Nummer vier war weg. Diego starrte auf das Brett. Wahrscheinlich von einem Steinbrocken weggerissen. Nicht einmal detoniert, bloß kaputt.

Achtmal konnte er noch zuschlagen.

Pinnng!

Drump. Bomp, ting, ping. Wamm!

Wieder begann der Innendruck zu fallen. Diego suchte nach dem Leck und griff nach einem Pflaster. Über ihm, leicht zu erreichen, nur…

Nur konnte er sich nicht gut bewegen. Seine Hand zitterte, der Kopf pulste dröhnend, sein Arm war tote Last.

Das Zischen wurde lauter.

Wieder schwanden ihm die Sinne. Das Leckpflaster in seiner Hand wurde hart und unbrauchbar.

 

Grimmig lächelnd nahm Carl das Auge vom optischen Teleskop. Er konnte die Auspuffflammen der Geschosse sehen, die sich in Position manövrierten. Das waren Omegas »geparkte« Geschosse, die sie mit relativer Nullgeschwindigkeit in Richtung des Schwarmes flogen, auf Position, in Erwartung des Abschusses. Carl Jagens schickte sich an, näher heranzugehen.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte er leise.

 

Jemand reichte Chuck Bradshaw eine neue Ferndruckermeldung. Er warf einen Blick darauf, ohne sie richtig zu lesen. Irgendwas von der kanadischen Ostprovinz, Neufundland, Grönland. Angmagasalik von geschmolzenem Eis überschwemmt – weiß der Teufel, wo das lag. Satelliten meldeten Einschläge in Sibirien, im Kaukasus und in der Osttürkei. Algerien hatte es nochmals erwischt. Treffer in Kasongo, dem neuen afrikanischen Staat. Überflutung, Brand, Aufruhr.

Carl hatte das fliegende 20-Megatonnen-Geschoß eingeholt, einen langen, grauweißen Hai. Beim Ausstieg zerrte er den toten General Menschow mit hinaus, ließ ihn treiben, ohne noch einen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Jagens klinkte eine Sicherheitsleine ans Schiff und sprang auf das Geschoß. Wegen des Fahrtdruckes durch die korrigierenden Feuerstöße mußte er sich fest anklammern, doch Zoll um Zoll kroch er vorwärts, zog den Spezialschraubenschlüssel aus seiner Werkzeugtasche und öffnete die Klappe über den Kontrollschaltern. Eine Hebeldrehung – und nur noch Jagens hatte Gewalt über das tödliche Geschoß.

Dann schob er ein Code ein, der es unter seine Kontrolle brachte, und sprang von dem gekidnappten Flugkörper wieder auf sein Schiff über.

Jetzt, da der tote Russe weg war, hatte er mehr Platz. Kleine rötliche Kristalle – gefrorenes Blut – waren das einzige, was noch an ihn erinnerte. Carl glitt wieder in seinen Liegesitz, machte sich aber nicht die Mühe, den Druck in der Kabine zu regulieren. Er beugte sich auf das optische Teleskop und suchte nach dem nächsten Geschoß.

 

»Lisa!« schrie Nino Solari so erregt, daß sie ihre Inspektion der Himmelsschwärze unterbrach und sich zu ihm umwandte. »Ein Geschoß ist weg!«

»Detoniert? Getroffen worden?«

Er schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Einfach tot. Signal einfach ausgefallen – pffft! Wie abgedreht. Aber es kann natürlich auch getroffen worden sein. Immerhin ist es ziemlich weit draußen.«

»Wenn wir es optisch verifizieren könnten – aber es fliegt soviel Dreck herum, da ist es schwierig zu – «

Dicht an ihrem Ohr klatschte ein Gigant in die Hände.

Die Kapsel wurde herumgerissen, Schiwa und die Sterne vollführten einen wilden Tanz. Lisa versuchte, die Rotation zu stoppen und klinkte ihren Helm fest. Ein rascher Blick zu Solari: Er war verletzt. Pumpend, blubbernd, schäumend kam das Blut aus seiner Seite, wurde hochgeschleudert und von einem zackigen Loch direkt über dem Steuerbordbullauge eingesogen. Sie faßte nach hinten, schloß ihm den Helm und klinkte ihn ein. Nino war bleich und stand unter schwerer Schockeinwirkung; bewegungslos hing er in den Gurten und schnappte bereits nach Luft.

Lisa brachte das beschädigte Schiff wieder unter Kontrolle, schaltete den Autopiloten ein und wand sich aus ihren Gurten, um an das Reparaturmaterial heranzukommen. Sobald sie das Einschlagleck verpflastert hatte, drehte sie sich in der vollgestopften Kabine um und suchte das Austrittsleck.

Das Stück Nickeleisen war durch die Kabine, durch Major Solari und seine Liege und durch ein redundantes Telemetriesystem geschossen, war zerschmolzen und hatte sich zu Tröpfchen zersprüht, die überall herumgeflogen waren. Sie fand sechs kleine Löcher und ein ziemlich großes. Und ein navigatorisches Zusatzsystem war zerstört.

Erst nachdem Lisa alle Lecks geflickt hatte, kämpfte sie sich durch die schwebenden Blutschaumblasen zu Nino hin. Er war bleich und ohne Bewußtsein. Sie versuchte, seinen Raumanzug und die Schichten der Unterkleidung abzureißen, doch der Stoff war zu widerstandsfähig. Sie verlor kostbare Sekunden bei der Suche in der Medizinkiste nach einem Skalpell, und dann dauerte es noch eine Weile, bis sie Ninos Hüftwunde bloßgelegt hatte.

Was ihm geschehen war, konnte sie nicht genau feststellen; sie sah nur, daß er erheblich verletzt war. Sie nahm den größten Verband heraus und brach die innere Hülle auf, wodurch das Gewebe mit einem Antiseptikum und einem Gerinnungsmittel getränkt wurde. Sie drückte den Verband über die Wunde. Dann gab sie ihm eine Spritze gegen den Schock, und eine zweite, um ihn eine Zeitlang ruhigzustellen.

Dann versiegelte sie den Raumanzug so gut es ging mit Klebeband. Und währenddessen flogen ständig Staub und Kleintrümmer gegen die Kapsel.

Es überlief sie kalt, als sie wieder auf die Beschleunigungsliege kletterte. In diesem letzten Akt des großen Dramas wurden die Akteure immer weniger.

Myron Murrays Limousine wurde mit Steinen beworfen, als sie zwischen parkenden Tanks und behelmten Soldaten durch das Tor des Weißen Hauses kam. Dumpf, die Augen schwer vor Müdigkeit, starrte er auf den Mob da draußen. Er wußte um den Zorn und die Enttäuschung dieser Menschen, er fühlte sie mit. Sie hatten Angst und wollten, daß jemand etwas tat. In Amerika war dieser Jemand stets der Präsident gewesen, die Regierung.

Murray verstand sie und war allen jenen dankbar, die bei der Stange blieben, Befehle entgegennahmen, ihre Arbeit taten, das dünne Gewebe der Zivilisation irgendwie in Ordnung hielten.

Der ganze Umkreis des Weißen Hauses war von bewaffneten Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen besetzt. Tanks standen an den Ecken und an den Eingängen. Weitere Tanks und Truppentransporter parkten in den Nebenstraßen. Patrouillen hielten die Massen in Schach, manchmal schafften sie es nur mit Gas. Doch es gab Baseballspieler darunter, die einen Stein ziemlich weit werfen konnten. Polizisten in Zivil streiften durch die Menge, achteten auf Handgranaten und Schußwaffen, Radios im Ohr, mit wachsamen, ruhelos schweifenden Augen. Die Pillen, die Murray eingenommen hatte, begannen jetzt zu wirken. Er bekam glänzende Augen. Die Limousine hielt beim Südportal. Oben, auf dem Truman-Balkon, sah er etwas, was er nie zu sehen gedacht hatte: Sandsäcke und Maschinengewehre. Raketenwerfer, ausgesuchte Scharfschützen an Gewehren, Funker mit taktischem Nachrichtengerät waren auf dem Dach.

Das Weiße Haus im Belagerungszustand.

Murray stieg aus und ging eilig in den Diplomaten-Empfangssaal, wo er von Steve Banning, dem Präsidial-Pressesekretär, begrüßt wurde.

Auch er hatte glänzende Augen und abgehackte Bewegungen, wie man sie bekommt, wenn man sich durch Stimulantien aufrechterhält.

»Ist es wahr, Myron?«

Myron nickte. »Kalinin ist verschwunden. Seit Stunden sieht und hört man nichts mehr von ihm. Im Pentagon ist man überzeugt, daß er liquidiert worden ist – wäre nicht das erste Staatsoberhaupt, dem das passierte –, aber der CIA denkt, er sitzt in irgendeinem Versteck im Ural.«

Sie schritten miteinander den Korridor im Erdgeschoß entlang bis zu den Lifts. »Was macht…«

Banning zuckte die Achseln. »Immer noch entschlossen, es hier durchzustehen, verdammt!« Er verzog das Gesicht.

Murray grinste müde. »Ja, ja – ganz Ihrer Meinung. Wenn man nach Westen auswiche, wäre man die da los.« Mit einer Armbewegung wies er auf die Massen, die anscheinend Tag und Nacht nicht von der Stelle wichen, nur daß die Individuen von Zeit zu Zeit wechselten. »Ich weiß nicht, was zum Teufel die von uns wollen. Wir tun doch alles, was wir können.«

Banning drückte auf den Liftknopf. »Wir sind das Mirakel-Haus, Sie wissen es ja, Myron. Hier können alle Probleme gelöst werden. Sogar Schiwa.«

»Hm. Na, wie geht’s?« fragte er den postenstehenden Marine-Infanteristen.

»Bestens, Sir!«

»Möchten wohl auch lieber woanders sein, wie?«

Der junge Mann tat schockiert. »Nein, Sir!« erwiderte er mißbilligend. »Hier werde ich gebraucht.« Er deutete mit dem Kinn nach draußen. »Die werden ganz unangenehm.«

»Und Sie sind abwehrbereit?« Die Lifttür ging auf.

»Jawohl, Sir, selbstverständlich.« Er grinste flüchtig, wodurch er noch jünger wirkte. »Marine-Infanterie ist immer kampfbereit, das wissen Sie doch.«

Mit einem trüben Lächeln klopfte Murray dem blauuniformierten Soldaten auf die Schulter und trat in die Liftkabine. Banning drückte auf einen Knopf. »Er ist immer noch im Familientrakt.« Sie wechselten Blicke, und Banning zuckte die Achseln. »Ja, ja, immer noch.«

Als sich die Lifttür in der obersten Etage öffnete, hörten sie bereits das Banjo. Murray ging hinter Banning her zum Wohntrakt des Weißen Hauses. In der Halle befanden sich eine Anzahl Soldaten und die Männer vom Secret Service, wie immer in grauen Anzügen. Die Sicherheitsvorkehrungen an der Tür waren streng, was Murray einerseits beruhigte, andererseits traurig stimmte. Seit der Verkündung des Schiwa-Planes war siebzehnmal versucht worden, Knowles umzubringen. Ein Hubschrauber war vom Dache der Schatzmeisterei aus von einer Rakete mit Wärmesucher abgeschossen worden, doch der Präsident war nicht darin gewesen. An die Familie und die Regierung des Premierministers von Kanada, der sich auch unter den Insassen befand, hatte man Beileidstelegramme geschickt, aber bei den Unruhen im Lande waren sie verspätet zugestellt worden.

Im Familientrakt hörte man das Banjo noch lauter. Steve Banning deutete auf den Salon, und Murray trat ein, während Steve draußen blieb, um mit Grace Price zu reden.

John Caleb Knowles saß auf einem Stuhl vor dem Kamin, ein Bein übergeschlagen, seine Finger flogen über die Banjosaiten, er hatte den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Er lächelte.

Barbara sah von ihrer Couch auf und lächelte Murray zu, dann bedeutete sie ihm, neben ihr Platz zu nehmen. Sie trug einen langen schimmernden Kaftan, der sich eng an ihren Körper schmiegte. Tatsächlich zum erstenmal bemerkte er, wie sinnlich sie wirkte. Oder vielleicht war es nur die Art, wie sie dasaß, mit untergeschlagenen Beinen und offenem Haar. Er setzte sich neben sie und dankte mit einem Kopfschütteln für den Drink, den sie ihm wortlos anbot.

Knowles beendete sein Spiel mit einem schwungvollen Finale, öffnete die Augen und sah Barbara an. »Da! Mein Onkel Abraham hat mich gelehrt – oh, Myron!« Er lehnte das Banjo an einen Stuhl und beugte sich vor, um Murray die Hand zu schütteln. Anscheinend freute er sich ehrlich, seinen Assistenten zu sehen, und dieser fand, daß der Präsident besser aussah als je in letzter Zeit.

»Geht’s Ihnen gut, Myron?«

»Mir ja, Mr. Präsident. Aber Premier Kalinin nicht.«

Knowles hob die Brauen, und Murray wiederholte rasch, was er vom CIA und den Spitzen des Pentagon gehört hatte. Knowles’ Lächeln verging, und er nickte. »Ich schätze, nach dem Versagen von Bolschoi haben sie ihn zum Sündenbock genommen. Und andere Erfolge in dieser Sache hat er ja auch nicht aufzuweisen. Es ist ja schließlich unsere Hardware da oben, nicht ihre.«

Doch Knowles’ Aufmerksamkeit schweifte ab. Er nahm sein Banjo wieder auf, sah sich aber nach Murray um. »Überlassen Sie das den Fachleuten, Myron. Und schlafen Sie sich aus. Das ist ein Befehl.« Unvermittelt lächelte er wieder. »Haben Sie schon mal den ›Tennessee Mountain Rag‹ gehört, Myron?« Ohne die Antwort abzuwarten, begann der höchste Beamte der USA zu spielen. Mit geschlossenen Augen warf er den Kopf im Takt hin und her.

Murray stand auf und sah Barbara Carr an. Sie lächelte strahlend – zu strahlend für seinen Geschmack. Und dann diese Spannung um die unnatürlich glänzenden Augen. Drogen. Alle nahmen ja welche, in der einen oder anderen Form. Eine Kapsel Vergessen. Glück in Pillen.

Leise ging er hinaus und faßte Steve Banning beim Ellbogen. »Wo ist Reed?« fragte er.

»Draußen im Westen«, entgegnete Banning achselzuckend. Gorman Reed war Vizepräsident der USA, jedoch in Washington hielt man nicht viel von ihm. Er war ein beliebtes Objekt für die Witze von Nightclub-Entertainern, aber das war prominenten Politikern schon immer so gegangen. Heutzutage war es meist Galgenhumor.

»Ist er auf dem laufenden?«

»Er bekommt jeden Tag den Standard-Lagebericht. Warum?«

Murray wandte sich nach der bewachten Tür zum Wohntrakt um. »Vielleicht wird er gebraucht«, antwortete er finster.

Auch Banning sah sich rasch und verstohlen um. »Sie meinen, hm…« Blinzelnd hielt er inne. Er hatte Angst weiterzusprechen. Murray nahm ihn wieder beim Arm und zog ihn die Halle entlang bis fast zum Schlafzimmer der Königin. »Ob er sich mit Barbara Carr im Bett herumsielt oder nicht, darum scheren sich die Leute einen Dreck. Es könnte ihm sogar ein paar Stimmen einbringen, wenn es bekannt würde. Aber er hat keine Chance mehr zu kandidieren, Steve.«

»Ach, Myron, Sie…«

»Hören Sie, Steve, es ist mein Ernst. Er versinkt in seiner eigenen kleinen Welt. Eine sehr erfreuliche Welt: Musik, Sex, keine Sorgen. Er rennt nicht wie Nixon in der Halle herum und spricht mit den Porträts. Er säuft nicht wie Grant. Er ist kein religiöser Eiferer geworden wie Scott. Aber er bricht zusammen.«

»Das darf keiner wissen«, fiel Banning hastig ein.

»Gorman Reed muß es erfahren. Mathison und Hopkins auch. Wenn sie es nicht schon wissen.« Wieder sah er sich nach der Tür um, und Banning nickte. Der Führer der Senatsmehrheit und der Sprecher des Repräsentantenhauses verfügten über ein dichtes Nachrichtennetz innerhalb der gesamten Bürokratie der USA. Eindringlich und argwöhnisch sah er Murray an. »Wollen Sie damit sagen, wir müßten an Artikel 2 denken?«

»Nein – an Artikel 20. Absatz 3 und Artikel 25, Absatz 2.«

Bei jedem Wort wurde Bannings Miene betroffener und besorgter. »Meinen Sie, wir…«

»Nein, natürlich nicht. Wir müssen nur die geeigneten Persönlichkeiten darauf hinweisen, daß…« Murray blickte den Korridor hinunter und zog Banning noch weiter von dem Posten weg. »… daß ein solches Vorgehen notwendig werden könnte. Wir müssen den Obersten Richter verständigen, außerdem Reed, Hopkins, Mathison, den Secret Service.«

»Jesus Christus, Murray…« Banning wischte sich das Gesicht mit der fleischigen Hand. »Die Medien werden uns kreuzigen, wenn sie denken, daß wir…«

»Das tun wir nicht. Und vergessen Sie Ihre verdammten Medien, Steve! Sie sind kein Moderator mehr, sondern Beamter des Weißen Hauses mit der Pflicht zur Loyalität der Präsidentschaft gegenüber.« Er grub seine Finger in Bannings Arm. »Der Präsidentschaft, Steve, nicht dem Präsidenten.«

Banning nickte widerwillig. Er kam sich wie in der Falle vor. »Jesus Christus, wer zum Teufel will denn Reed an der Spitze haben? Der ist doch ein blöder Cowboy!«

»Ein Weststaatler, kein Cowboy, Steve. Das ist ein großer Unterschied, und ich finde, darüber sollten Sie sich jetzt gleich klarwerden.«

Banning nickte verkniffen. Seine Augen schweiften umher.

»Er bricht zusammen, Steve. Alles deutet darauf hin. Es ist ein Wunder… es ist ein Wunder, daß er so lange durchgehalten hat.«

»Sie waren lange bei ihm, nicht wahr?«

Murray nickte. Man sah ihm an, wie nahe es ihm ging. »Das ist jetzt unwichtig. Wichtig sind nur das Land, und die Welt.« Er atmete tief ein. »Ich gehe nach Teller.«

Stirnrunzeln blickte Banning ihn an. »Sie wollen sich in diesen Berg verkriechen?«

»Nein. Ich will persönlich den Vizepräsidenten ins Bild setzen.«

»Ein bißchen Maulwurfs arbeit, Murray?« fragte Banning mißtrauisch.

»Zu einem verfassungsmäßig einwandfreien Vorgehen wie bei dem ersten Johnson[xii] oder wie sie es damals bei Nixon gemacht haben, ist einfach keine Zeit mehr. Ich tue meine Arbeit, weiter nichts.«

 

»Ihre Aufgabe ist, das durchzuführen, was der Präsident durchgeführt haben will.«

»Ja – wenn er nicht…« Murray brach ab. Wieder holte er tief Atem. »Ich tue, was getan werden muß.«

»So was steht dann hinterher in allen Geschichtsbüchern«, sagte Banning und ging mit hängendem Kopf.

 

»JPL, JPL, hier Omega I. Ende.«

»Eins… verstehen Sie… und es… Ende.«

»JPL, die Verständigung ist hier furchtbar. Vielleicht können Sie über Computer was rausholen, ich spreche also weiter.« Lisa warf einen raschen Blick auf Nino. »Major Solari ist noch bewußtlos. Mit Alpha I oder Alpha II kann ich keinen Kontakt kriegen. Ich habe mich entschlossen, noch einmal zu versuchen, Alpha I zur Kooperation zu bewegen. Ich gehe außenbords – Wiederholung: gehe außenbords –, um den Schneid-Laser als Signalgerät zu montieren. Verstehen Sie mich, JPL?«

»EU… drit… wir haben vor… Kooperation… NASA wird… Verbindung mit Bradshaw… Summton… Laser als… Sie mit Summerton…«

Lisa seufzte. Der Empfang war so schlecht, daß jetzt beinahe nichts mehr zu verstehen war. Es gab Computerprogramme, mit denen man einen gesendeten Impuls von seinem Störfeld aus statischer Elektrizität ablösen konnte, aber die waren noch nie über solche Entfernungen ausprobiert worden. »Ihre Übertragung ist verzerrt, JPL. Ich gehe vor wie geplant, sobald unser Gespräch beendet ist. Omega I, Ende.«

»… Summer… ega I, wir… aufnehmen… drit… Summer…« Lisa überprüfte erst Ninos Helm, dann ihren eigenen. In Sekunden zischte die Luft aus der engen Kabine und wurde im eisigen Vakuum des Raumes zu Schnee. Lisa schwebte empor, klinkte ihre Leine ein und holte den Schneidlaser aus seinem Behälter. Er war mitgenommen worden für den Fall, daß Sprengköpfe direkt auf dem Asteroiden implantiert werden mußten. Sie rollte das Kabel aus, schloß es an die Stromquelle der Kapsel an und schwebte ins Leere hinaus.

Das wurde ihr nie über. Alle Astronauten waren ganz wild danach. Es war herrlich und schaurig zugleich. Aber heute vergaß sie zum erstenmal, bei der Tätigkeit außerhalb des Schiffes eine Minute lang mit ehrfürchtigem Staunen auf die blaue Kugel der Erde zu blicken. Diesmal sah sie nur kurz hin, um sich zu orientieren. Die Erde war immer noch klein, nur wenig größer als sie sie zuletzt gesehen hatte.

Sie befand sich mitten in einem glitzernden Mantel aus Staub. Schattenbalken liefen dem Schwarm voran, schräg vor der dahinterstehenden Sonne. Am Anfang jedes dieses dunklen Balken befand sich ein Felsbrocken. Der größte Balken führte direkt zu Schiwa. Der mächtige, langsam rotierende Asteroid blinkte und glitzerte im Widerschein der Sonne auf seiner unregelmäßigen Oberfläche, doch sein Antlitz blieb im Finstern.

Die mit der Kapsel dahinschwebenden Gesteinsbrocken ständig im Auge behaltend, montierte sie das Lasergerät. Sie spürte eine Erschütterung und sah beim kurzen Aufblicken einen faustgroßen Stein langsam wegtrudeln. Die relative Geschwindigkeit war geringfügig. Nur ein leichter Stoß, doch so ein Aufprall war immer gefährlich. Mit chemischem Haftband befestigte sie die Grundfläche des Laser an der Basis des Telemetriemastes. Auf diese Weise konnte sie das Gerät bis zu einem gewissen Grade von der Kabine aus drehen und richten.

Wieder spürte sie ein Zupfen: In der Radioscheibe war auf einmal ein zackiges Loch – nicht groß, aber einen Moment lang glaubte sie das gleiche Loch in ihrem Körper zu sehen. Eiligst schlüpfte sie in die Kapsel zurück und klinkte das Luk zu. Dann schickte sie mit dem Laserstrahl einen Morsespruch ungefähr in die Richtung, wo Carl Jagens’ Schiff sein mußte.

Es war eine Chance von eins zu tausend, doch sie mußte es versuchen.

 

Carl Jagens sah den blinzelnden roten Punkt aus dem Augenwinkel.

Stirnrunzelnd betrachtete er ihn ein Weilchen, dann begriff er, was er zu bedeuten hatte.

Ein Lasergerät, auf diese Entfernung als Schneidewerkzeug nutzlos, wurde zum Signalisieren benutzt. Er bekam einen Teil des Spruches mit: BRAUCHE IHRE KOOPERATION CARL WIR MÜSSEN…

Er sah nicht weiter hin. Gar nichts mußte er, nur die Erde retten. Er schwenkte das Schiff auf den nächsten 20-Megatonner ein.

 

Ping! Ponk! Tick! Bonk.

Langsam schwamm Diegos Bewußtsein wieder heran. Verdammt – er war ohnmächtig gewesen! Er hatte starke Schmerzen, doch zunächst sah er auf die Uhr. Etwa elf Minuten waren vergangen. Der Luftdruckmesser? Noch ausreichender, aber langsam sinkender Druck. Unter Schmerzen zog er sich herum und musterte die Geschoßkontrolle. Acht hatte er noch. Würden die ausreichen? Gab es nach Bolschoi überhaupt noch etwas, das ausreichte?

Diego beugte sich zur Seite, um aus dem Bullauge zu sehen und seine Position in bezug auf Schiwa festzustellen. Er verfolgte das dicke schwarze Schattenband zurück bis zu dem mächtigen Gesteinsblock; dann sprang sein Blick zu einem glänzenden, rückwärtig erleuchteten Gebilde zurück, das soeben dieses dunkle Band passiert hatt.

Ein Raumschiff.

Angestrengt starrte er in den Staub, fand die Kapsel wieder und identifizierte sie rasch als Alpha I. Was hatte Jagens vor?

Und als Diego sich diese Frage stellte, wußte er auch schon die Antwort.

Ich habe kein Geschoß verloren – Jagens hat es mir weggenommen. Und die anderen will er auch. Er will sie Schiwa eins nach dem anderen aufknallen – und wird sie verkleckern! So schafft er überhaupt nichts.

Rasch ortete Diego das Geschoß, auf das es Carl anscheinend abgesehen hatte, und nahm mit seinem eigenen angeschlagenen Schiff Kurs darauf.

Pong! Ping!

Wie kann ich ihn aufhalten? Er muß daran gehindert werden. Oder man muß ihn überzeugen. Diego kratzte sich die unrasierten Wangen. Er ist intelligent, er wird Vernunftgründen zugänglich sein.

 

Jagens sah Alpha II aufkommen. Nur Calderon war vermutlich noch am Leben. Er oder dieser japanische Bastard. Die Russin? Nein, sogar Calderon würde die inzwischen erledigt haben. Ein kleiner Unfall – kein Mensch brauchte davon zu wissen. Wäre doch blöd, ihnen den Ruhm zu lassen, oder – noch schlimmer! – die Möglichkeit, etwas zu verpatzen!

Doch Carl war irritiert. Diese dumme Kuh, die Bander, saß ihm auf den Hacken, blinkte ihn an wie eine blöde Verkehrsampel, bat und bettelte. Dämliches Frauenzimmer. Eine Frau hat im Weltraum überhaupt nichts zu suchen. Der bringt ihren Zyklus durcheinander. Und jetzt war auch noch in Alpha II jemand aktionsfähig.

Kühl überdachte Carl seine Möglichkeiten. Er wählte die beste und nahm Kurs auf Alpha II. Parlamentieren wir also, Calderon. Hm, ja, tun wir das, kleiner brauner Bruder. Laß mich in deine Kabine. Wo die Abschußschalter sind.

 

Er will mit mir sprechen, dachte Diego. Gut. Er war immer ein vernünftiger Mann. Einsichtig. Wir alle wollen ja, daß die Sache klappt. Funkverbindung bekam er nicht, da hat er wahrscheinlich gedacht, wir seien alle tot, und hat sein Bestes tun wollen. Na klar – in Kürze sind wir längsseits.

Ein Licht blinkte aus dem Bullauge, und blinzelnd nahm Diego den Spruch auf. ALPHA II FREUE MICH DASS SIE AM LEBEN SIND MÜSSEN MITEINANDER SPRECHEN FUNKANLAGE HIER AUSGEFALLEN KOMME LÄNGSSEITS ZEIT IST KNAPP. Und dann der Schluß: JAGENS KOMMANDANT ALPHA TEAM.

Kleine Gedächtnisauffrischung, dachte Diego. Na schön, großer Führer, komm längsseits.

Die Luke war gesichert, der Druck stimmte wieder, und Jagens gab Zeichen, die Helme zu öffnen. Als er den seinen hochgeklappt hatte, begann er: »Ich habe nie gern über Helmradio gesprochen.« Er lächelte dünn. »Man weiß nie, wer da mithört.« Er deutete auf Issindo und die Nissen. »Warum schmeißen Sie die beiden nicht raus? Dann hätten Sie doch mehr Platz.«

»Carl, was ist eigentlich los? Wir müssen gemeinsam vorgehen. Ich habe noch acht Geschosse. Ich habe unbeabsichtigt die Anschlüsse verrissen, als Sie die… äh… erste Rakete zündeten. Ich war nicht darauf gefaßt und…«

Jagens unterbrach ihn mit einer Handbewegung, die in dem ungefügen Raumanzug ganz merkwürdig aussah. »Ja, ja, Colonel Calderon. Überstellen Sie mir jetzt die Raketen wieder, dann können wir weitermachen.« Er wandte sich dem Schaltbrett zu, doch Diego hielt ihn zurück.

»He – Augenblick mal, Carl!« Diego stieß sich ab, drehte sich in der Luft, so daß er zwischen Jagens und dem Schaltbrett war.

Wie er flüchtig zur Kenntnis nahm, hatte er die tote Russin angestoßen, so daß sie nun in groteskem Winkel und mit schwebenden Armen aus ihrem Sitz hing.

»Calderon!« rief Jagens mit gebieterischem Augenblitzen, »ich befehle Ihnen hiermit, mir diese Geschosse sofort wieder zu übergeben! Sofort!«

»He – Moment mal…«

»Mit jedem Moment kommt Schiwa näher an die Erde heran, Calderon!«

»Das weiß ich, Carl, aber wir müssen das besprechen. So wie Sie sich das denken, funktioniert das nicht. Wir müssen Schiwa mit allem treffen, was wir haben, und zwar genau an der richtigen Stelle!«

»Sie sind ein Verräter, Calderon! Sind wohl einer von diesen Gabriels, he? Jawohl, genau das – Sie wollen die Aktion verzögern, bis es zu spät ist!«

»Reden Sie doch keinen Unsinn, Carl… ich…«

»Für Sie immer noch Captain Jagens, Sie Verräter! Ich befehlige diese Mission, und ich mache nichts falsch!«

»Carl, Sie müssen…«

»Ich stelle Sie hiermit unter Arrest, Colonel Calderon! Sie haben sich nur noch mit dem Betriebsdienst dieses Schiffes zu befassen. Alle Angriffsoperationen unterstehen mir!«

Diego starrte Jagens ungläubig an. »Carl, Sie sind ja verrückt! Sie reden ja lauter Unsinn. Wir müssen doch…«

»Calderon!«

»… müssen doch erst Zielinformation haben, wo wir am besten…«

Da schlug Jagens zu. Diego flog gegen das Schott, sein Helm hakte aus, trudelte weg, prallte von Geräten, von den Toten ab. Durch den Rückstoß taumelte Carl gegen das Luk und mußte sich an einer der Handschlaufen festhalten. Er sah Diegos Helm und lachte auf.

»Dein Pech, Verräter!« Er klappte seinen Helm wieder vor und klinkte ihn ein.

Diego sah, was Carl vorhatte, und warf sich quer durch die enge Kabine auf ihn. Doch Jagens, der festen Halt hatte, traf Diego seitlich hart am Kopf, und als er ihn zu fassen bekam, stieß er ihn über die Sitze und auf das Kontrollbord. Der Schmerz machte Diego fast bewußtlos, doch wie durch einen roten Nebel trieb er wieder auf seinen Helm zu.

Verächtlich stieß Carl den Helm weg. Er wirbelte durch die Luft, schlug gegen das Abschußbord und prallte ab. Diego griff nach dem Helm, doch da riß Carl den Lukverschluß auf. Mit einem heulenden Wirbel fuhr die Luft hinaus – fast hätte sie Diego mitgerissen. Doch er packte die Beschleunigungsliege, spürte die Eiseskälte und hielt sich in panischer Angst fest.

Wieder schlug Carl zu; Diego wirbelte zur Seite. Mit einem Handschlag warf Carl die restlichen acht Hebel herum, so daß die Geschosse wieder von Alpha I aus gesteuert wurden. Einen Blick warf er noch auf Diego, der keuchend nach Luft schnappte und dessen Helm sich am anderen Ende der Kabine zwischen irgendwelchen schwarzen Kisten festgeklemmt hatte. Verächtlich lächelnd schlüpfte er mit geübter Drehung aus der Kabine, faßte die Sicherheitsleine und zog sich nach Alpha I hinüber. Von ihm aus konnte Diego Calderon krepieren.

Lisa drehte das Teleskop in einen anderen Quadranten und sah hinein. Zwei Schiffe, längsseits aneinander liegend. Alpha I und Alpha II. Also war doch noch jemand am Leben. Jagens hatte vielleicht Diego Calderon gefunden! Vielleicht sogar lebend.

 

Schwärze umfing Diego. Wie ein reißender Tiger fuhr der Schmerz in seinem Arm empor. Doch der schlimmste Schmerz saß in der Lunge. Mit letzter Kraft zog sich Diego aus dem Spalt zwischen den Sitzen, in den Jagens ihn hineingestoßen hatte, und faßte mit der behandschuhten Hand nach seinem Helm. Er packte ihn, zog, und die Glassitkugel trieb hinweg.

Sterne. Lichter. Finsternis. Alles weg? Verwirrend! Seine Hand stieß gegen etwas, zog es heran. Er konnte kaum sehen. In Brust und Kopf pulste der Schmerz wie ein Kolbenhub, ein mächtiger, hohler, leerer Schmerz.

Der Helm.

Den Helm aufsetzen.

Aber richtig! Gleich beim erstenmal!

Über den Kopf.

Drehen.

Nein, noch mal.

Drehung.

So.

Einklinken.

Jetzt die Luft.

Die Leitung – schwer zu erreichen.

Mir wird schon wieder schwarz vor Augen.

Seine Finger drehten am Verschluß… knapp eine halbe Drehung.

Wieder kam die Finsternis über ihn. Deckte ihn zu. Die Gezeiten des Weltraums. Tod.

Er trieb im All.

 

Irgend etwas.

Etwas, das glitzert.

Blink. Blink. Blink.

Die Brust tat ihm weh.

Alles tat ihm weh.

Er schloß die Augen, spannte die Muskeln, sah nochmals hin. Rot. Rot. Rot. Die Plombierung der Luke war los. Die Luke stand offen. Warum war die Luke offen?

Luft. Keine Luft.

Luft im Helm. Dünn, sehr dünn. Aber Luft.

Er faßte nach dem Verschluß, tastete mühsam, kämpfte gegen den massiven Schmerz an, der ihn überfiel. Stärker zischte die Luft ein, und dankbar atmete er sie.

Schöne, unsichtbare Luft!

Jetzt konnte er klarer sehen, doch die Augen taten ihm weh. Der Kopf tat ihm weh. Die Brust hat ihm weh. Sein Arm schmerzte. Der Magen wollte sich im umdrehen. Aber er lebte.

Kraftlos zog Diego sich zur Luke. Dort drüben – eben machte Carl Jagens die Luke von Alpha I auf.

War es erst so kurze Zeit her? Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor.

Diego langte hinunter und öffnete den Zubehörkasten. Er nahm das Laser-Schneidgerät heraus. Automatisch rollte sich das Kabel ab. Er wandte sich um, drückte den Stecker in die Dose und sah wieder zu Alpha I hinüber.

Carl stieg soeben ein. Diego hob den Laser und zielte. Schnurgrade sprang der rote Strahl zu Alpha I, Funken sprühten vom Lukdeckel auf. Carl reagierte: Er wandte sich um. Diego kam es wie Zeitlupe vor. Hinter der Sichtscheibe des Helms konnte er Carls Gesicht nicht erkennen.

»Du Narr!« kam Carls Stimme über Helmradio. »Töte mich doch, du wahnsinniger Esel!«

Diegos Finger spannten sich um den Abzug. Gewiß wollte er ihn töten. Der Raumanzug würde auf diese Distanz wenig oder gar keinen Schutz bieten. Das Abstoßungsvermögen seiner Oberfläche war nicht besonders stark; er war keine schimmernde Wehr. Ein kleiner Druck mit dem Zeigefinger, und der rubinrote Strahl würde den Anzug und Carl glatt durchbohren, die Luft würde herauszischen, das Blut zu winzigen Kristallen gefrieren und mit dem Schwarm ziehen.

»Töte mich, oder ich töte dich!« schrie Carl. Dann lachte er. »Aber du traust dich ja nicht, wie? Hast ja keinen Mumm, du blöder Scheißer!« Verächtlich wandte Jagens sich um und kletterte ins Schiff. Die Luke schloß sich hinter ihm. Das Schiff setzte sich in Bewegung, schwang herum und entfernte sich.

Auf einmal war Diegos Kopf wieder klar. Er ließ den Laser fallen und arbeitete sich mit höchster Eile zur Raketenschaltung hinüber. Er zog sich auf den Sitz und zündete alle seine Antriebsraketen ungeachtet des Schwarms, in dem er mitten drin war.

Ponk! Ping! Ping-pink-ding-pinng!

Der flammende Treibstrahl von Alpha I stach durch den Raum, genau auf die Stelle zu, wo Diego gewesen war.

Bannng!

Das Schiff erzitterte unter einem Treffer, Diego fuhr herum: die Luke hatte ein Loch. Verdammt! Die Luke war hin und das Schiff schon wieder undicht! Immer noch prallten kleinere Steine gegen die Außenwand – das Schiff war jetzt mitten im Schwarm. Er schaltete die acht Geschosse wieder von Alpha I ab, so daß Jagens sie nicht mehr dirigieren konnte. Erst dann wendete er Alpha II und ging wieder auf Parallelkurs mit dem Schwarm.

Innerlich widerstrebend machte er Olga Nissen und Ikko Issindo von ihren Sitzen los und half ihnen hinaus. Für sie war der Weltraum letzten Endes ein passenderer Ruheplatz als ein Kirchhof auf der Erde – falls sie jemals zurückkehren sollten.

Oder falls es überhaupt noch etwas gab, wohin man zurückkehren konnte.

Dann erwog Diego die Möglichkeiten, sich mit Lisa Bander in Verbindung zu setzen.

 

CARL GEISTESGESTÖRT, las Lisa. ER VERFÜGT NOCH ÜBER EIN GE-SCHOSS GEFÄHRLICH BRAUCHEN VERBINDUNG ERDE COMPUTER GENAUE ZIELANGABE AUF SCHIWA FÜR VOLLTREFFER MIT ALLEM. Lisa runzelte die Stirn. Das würde schwierig sein. WERDE VERSUCHEN JAGENS ZU NEUTRALISIEREN.

»Nein!« Lisa faßte nach dem Schalter ihres eigenen Lasergeräts, um Diego zu morsen; doch seine Schlußworte: ALLES LIEBE UND VIEL GLÜCK sagten ihr, daß es vergeblich sein würde.

Nein, zum Teufel, laß ihn, murmelte sie verbittert. Dann holte sie tief Atem und setzte einen Funkspruch zur Erde ab. Vielleicht kamen sie mit einem Spezialverfahren durch – auf Band genommen und mehrfach wiederholt. Sie schaltete auf Erdempfang.

 

Das Erdbeben schleuderte Chuck Bradshaw quer durch den Raum. Geräte schaukelten, Menschen schrien. »Ganz egal«, brüllte Chuck zu Dink Lowell hinüber, »halten Sie auf alle Fälle die Verbindung zu Omega!«

»Versuche ich ja!« schrie Dink zurück und fiel dann selbst hin, als eine zweite zitternde Welle den Fußboden aufriß. Die Lichter erloschen.

Am Westende des San-Fernando-Tales schlug ein vorausgeeilter Brocken des Schiwa-Schwarmes ein. Er wog annähernd vierzig Tonnen, ließ ein gutes Stück von Tarzana in Dampf aufgehen und löste ein größeres Erdbeben aus.

Das Jet Propulsion Labor war vorübergehend funktionsunfähig. Chuck Bradshaw stolperte in den stauberfüllten Tag hinaus, hörte Sirenen und Schreie und setzte sich auf die Kante eines Blumenkastens. Zu seiner Überraschung sah er Tränen in den Staub des Patio fallen.

Es war schon sehr lange her, daß er geweint hatte. Es war sogar wie etwas ganz Neuartiges. Was hast du heute gemacht, Daddy? Ich habe geweint. Wie aufregend! Also hast du doch menschliche Züge?

Doch, die habe ich, dachte er, sehr menschliche sogar. Jedesmal, wenn das Menschengeschlecht stirbt, weine ich.

 

»Mr. Präsident?«

»Ja? Ach, Myron – kommen Sie herein. Möchten Sie was trinken? Sehr guter Chablis.«

»Nein, danke, Sir.« Myron blickte zu Barbara Carr hin. Mit abgewandtem Gesicht lag sie in dem breiten Bett und schien zu schlafen.

»Störe ich?«

»Aber nein, Myron, Sie doch nicht. Wie steht’s?« Harmlosfreundlich blickte John Caleb Knowles seinen Assistenten an. »Läuft alles richtig?«

»Ja, Mr. Präsident, soweit man es erwarten kann.« Er hielt inne. Wie sollte er die Leiche aus dem Zimmer bekommen? Das Tablettenröhrchen lag noch auf dem Fußboden. Eins dieser rotgelbgestreiften tödlichen Dinger lag dicht am Bett, neben einem hochhackigen Schuh. Stumm verfluchte Myron diese Frau, weil sie aufgegeben hatte, in den Tod geflohen war und sich dort versteckt hielt. Ohne Warnung auch noch, so daß er keine Zeit gehabt hatte, etwas zu unternehmen. Auch andere Frauen hatten Selbstmord begangen, doch keine in so unmittelbarer Nähe eines Präsidenten und in so persönlicher Beziehung zu ihm.

»Sir, ich dachte, Sie könnten vielleicht für ein paar Minuten in den Notstandsraum hinunterkommen. General McGahan ist dort, und Minister Warren, General Hornfield…«

»Nein, nein. Schon gut, Myron, ich bleibe hier.« Er zupfte ein paar Noten auf dem Banjo und legte es dann auf die Bettdecke. »Ich glaube, ich spiele Barbara ein bißchen vor.« Liebevoll sah er sie an. »›Jug Band Music‹ oder ›Jesus Joy of Man’s Desiring‹, Liebes?«

Unwillkürlich sah Myron ebenfalls Barbara Carr an, als ob sie antworten würde. »Na gut«, sagte der Präsident, »dann also ›Turkey in the Straw‹.«

Die Töne füllten den Raum, und Myron Murray war vergessen. Caleb Knowles sah beim Spielen richtig engelhaft aus. Murray ging rückwärts hinaus und schloß die Tür hinter sich.

»Nun?« fragte Grace Price nervös.

Murray zuckte die Achseln. »Tun Sie ihm was in die Milch und holen Sie sie heraus, wenn er schläft.«

»Was sollen wir ihm sagen?« fragte der Hauptmann.

Murray sah ihn an. Wie jung er war. Und wie machten es diese Offiziere, daß ihre Uniform immer so proper war? »Sagen Sie dem Präsidenten, sie wäre spazierengefahren oder einkaufen, ein Geschenk für ihn besorgen, irgend etwas Angenehmes, verstehen Sie?«

»Jawohl, Sir.«

Indigniert schniefte die Sekretärin des Präsidenten durch die Nase. »Wissen Sie, es gehört sich einfach nicht«, sagte sie, »daß sie da drin ist, tot oder lebendig. Gott ist mein Zeuge, ich habe mir die größte Mühe gegeben, mit ihr auszukommen, ich habe ihr sogar geholfen, weil ich wußte, wie sie ihm half, sich… nun, sich zu entspannen. Und doch ist es ungehörig, daß sich der Präsident der Vereinigten Staaten benimmt wie ein…«

»Mrs. Price!« Murray schnitt ihren Redefluß so schroff ab, daß sie nach Luft schnappte. Eindringlich beugte er sich vor; diesmal sah man ihm tatsächlich an, wie erregt er war, und sie bekam richtig Angst vor ihm. »Mrs. Price, John Caleb Knowles ist ein kranker Mann. Er hat unter einem Druck gelebt, von dem Sie sich keine Vorstellung machen können. Sie werden ihn gefälligst mit Respekt behandeln, Mrs. Price!«

Grace Price blinzelte erschrocken, fand dann aber zu ihrer würdevollen Haltung zurück. Der Chefassistent hatte recht! Selbst Nixon hatte man einen gewissen Respekt zugestanden. Hochmütig blickte sie auf Murray hinunter. Präsidial-Assi-stenten, wie mächtig sie auch immer sein mochten, kamen und gingen. Sie war seit der Carter-Administration hier, hatte verschiedene Posten innegehabt und ihre Arbeit getan, ungeachtet der Partei, die gerade am Ruder war. Sie war ein fester Punkt, ganz egal, wer im Oval Office saß.

»Mr. Murray?«

Sie sahen einander an, und nach Sekunden wandte sie ihren Blick von seinen brennenden, rotunterlaufenen Augen ab. »Wann wird der neue Präsident eintreffen?«

»Das wird noch eine Weile dauern, Mrs. Price.«

»Sie meinen, Präsident Reed bleibt in diesem… äh… diesem Berg?«

»Ja. Bis Schiwa… bis die Lage endgültig geklärt ist.«

»Aber der Präsident gehört hierher. Hier ist sein offizieller Amtssitz.«

»Er wird auch herkommen.« Wenn hier noch ein Stein auf dem andern steht, fügte er in Gedanken hinzu. Logistische Probleme gingen ihm durch den Kopf – wie er nach Teller kommen, sich bei dem neuen Staatsoberhaupt etablieren würde. Reed hatte einen eigenen Mann, Miller, doch Murray war der Mann des Übergangs, der für den Amtswechsel alle Fäden in der Hand hatte. Das konnte man alles später regeln. Der ganze Oberste Gerichtshof saß dort draußen, bis auf einen der Richter; sie konnten ihren Stempel unter das ganze Durcheinander drücken, alles legalisieren.

Murray sah sich nach dem Lieutenant-Colonel um, der an der Tür saß und mittels eines batteriebetriebenen Funkgeräts Verbindung hielt mit dem Großen Generalstab, dem Pentagon und zwei supergeheimen militärischen Kommandostellen.

»Das hat doch keine operative Bedeutung, nicht war, Colonel?«

»Nein, Sir. Reine Formsache.«

»Na ja. Hat ja auch keinen Sinn, ihm etwas zu sagen, ihm unnötig wehzutun.«

»Nein, Sir.« Die anderen nickten.

»Armer Hund«, sagte der Offizier von der Marine-Infanterie. Alle sahen ihn an, und er wurde rot. »Na, er ist doch ein armer Hund«, verteidigte er sich.

»Arme Hunde sind wir alle«, sagte Murray müde. Er ging zum Sonderaufzug, der auf den Landestreifen für den Hubschrauber führte. Er mußte so schnell wie möglich nach Teller.

»Wir müssen sie hinausschaffen«, sagte Grace Price. »Das paßt sich doch nicht.«

Der Marine-Infanterist nickte ernst.

 

Ein wütender Haufen älterer Leute raste durch das Santa Barbara-Hospital, wo Zakir Shastri in Behandlung lag, und als sie ihn gefunden hatten, schlugen sie ihn tot. Er wäre an Schiwa schuld, rechtfertigten sie sich vor der Polizei.

Corporal Thatcher von der Massachusetts-Nationalgarde wurde wegen Tapferkeit vor dem Feind zum Leutnant befördert. Er betrank sich nicht. Er war schon betrunken.

Bruce Higby, Adjutant im Weißen Haus, kam bei Morgengrauen durch den Kellerausgang und rannte auf den Hubschrauber zu, der eben vom Landestreifen abhob. Durch die offene Tür konnte er General Sutherland erkennen. Die Aufständischen, die das Verwaltungsgebäude besetzt hatten, eröffneten das Feuer. Die Hubschrauberpilotin wartete nicht.

Eiligst startete sie und rasierte dabei die historischen Bäume ab. Ein Ast des Baumes, den Andrew Jackson[xiii] gepflanzt hatte, wurde abgerissen, wirbelte durch die Luft und warf den fliehenden Higby zu Boden. Die Kugel eines Aufständischen endete sein Leben.

Chicago erlitt furchtbare Schäden durch einen Trümmerhagel, der zwischen dem Michigansee und Autora niederging.

Ogallala im Staat Nebraska verschwand vom Erdboden. Träge floß der lehmige Platte River in den Krater und wurde zu Dampf.

Verteidigungsminister Sam Rogers saß am grünen Tisch mit dem Führer der Senatsmehrheit, dem Sprecher des Repräsentantenhauses, dem Leiter der FBI, General McGahan und dem Vizepräsidenten Gorman Reed. Er war mit 34.000 Dollar im Verlust, hatte Kopfschmerzen und Gesichtszucken. Der Vize war der große Gewinner bei dieser Pokerpartie. Der Raum stank nach einem Antiseptikum; am Vormittag hatte sich ein Kongreßmann eine Kugel durch den Kopf geschossen.

»Ich halte gegen den pot«, sagte Powell Hopkins.

 

Bruder Gabriel wußte, daß sein Tod nahe war. Auf einmal spürte er es, ohne zu wissen, warum. Er wußte es eben. Er hatte grade auf der Straße nach Orlando im Staate Florida zu einer Gruppe abgerissener Verwundeter gesprochen. Disney World war nicht weit ab. Er stand auf der schiefen Ebene eines am Straßenrand stehengelassenen Bergungsfahrzeuges, und alle sahen zu ihm auf. Ein Wagen der Staatspolizei raste vorbei, wirbelte zerfetzte Fahnen und erstickenden Staub hoch.

Immer sahen die Menschen zu ihm auf; er konnte sie nicht im Stich lassen. Sie warteten, daß er sie führe, sie errette, sie in das neue Land Eden bringe.

Er wußte, was ihm bevorstand. Er fragte nicht danach, woher er es wußte, oder wie das überhaupt möglich war. Doch der Tod war unterwegs vom Himmel herab, ein Donnerkeil, geschleudert von der eigenen Hand des Herrn.

Bruder Gabriel wandte sich zum Himmel. Es war kalt, der Himmel war von Staub und Qualm befleckt. Seine Robe, die auch nicht mehr weiß war, flatterte im Wind.

»Rette uns, Bruder, rette uns!«

»Führe uns in das neue Land, das verheißene Land!«

Doch Bruder Gabriel schaute nur nach oben. Gesicht und Gestalt waren Bruder Gabriel, doch sein Geist war Douglas Arthur Kress.

Herr, ist es Zeit?

Es ist Zeit, Douglas.

Habe ich es gut gemacht, Herr? Habe ich getan, was Du wolltest?

Du hast es versucht, Douglas. Mehr kann man nicht verlangen.

Also habe ich es falsch gemacht.

Nein.

Aber ich habe es doch nicht verhindern können. Sie haben es ja doch getan. Gotteslästerlicherweise versuchen sie trotz allem, diesen Schiwa aufzuhalten.

Ja.

Wie kann ich Deinen Willen erfüllt haben, trotzdem ich es nicht geschafft habe?

Dadurch, daß du dein Teil getan hast.

Ich habe mein Teil getan, o Herr?

Ja, Douglas.

Ein Lächeln, ein gutes, liebevolles Lächeln zog über sein bärtiges, verdrecktes Gesicht.

Ich habe meinen Teil getan.

Am Plane des Herrn.

Um sie in das Neue Eden zu bringen.

Er war sehr glücklich.

 

Es war nur ein unbeträchtlicher Meteorit.

Er trat über Liberia in die Atmosphäre ein und flog nach Westen, flammend und geschmolzen, einer von hundert, die zu dieser Stunde die Biosphäre durchschnitten. Seine Masse verdampfte größtenteils über dem Nordatlantik. Über Bermuda traf er auf eine Turbulenz, und sein Flammenpfad senkte sich.

In Richtung Florida. Auf Orlando zu. Nicht weit von Disney World auf eine Landstraße zu. Im Fluge sengte er das Haar eines bärtigen Mannes am Straßenrand, der himmelwärts blickte und die Hände ausgestreckt hielt. Doch er tötete den Mann nicht.

Der Feuerklumpen explodierte ein Stück hinter dem Manne, in einem fauligen Sumpf, setzte ein paar Bäume in Brand und schleuderte kochenden Schlamm in alle Himmelsrichtungen. Der Bärtige schwankte, blinzelte. Seine Robe war voller Schlamm. Er wandte sich um und blickte auf den blasenwerfenden Fleck im Sumpf.

Nichts geschah.

Es kam kein zweiter Meteorit. Wenigstens nicht für Douglas Arthur Kress, nicht zu dieser Stunde.

»Mensch, da haste aber Schwein gehabt!«

Blinzelnd, unsicher schwankend wandte Kress sich um. »Ist dir nichts passiert?« fragte ein Soldat, ein Sergeant mittleren Alters. Hinter ihm kam ein jüngerer Offizier herangehinkt, der einen Arm in der Schlinge trug.

»Setz dich lieber ’n bißchen hin, Alter«, sagte der Soldat, nahm ihn beim Arm und half ihm, sich auf die Heckklappe des Bergungsfahrzeuges zu setzen.

Kress blickte sich um. Sonst war niemand da. »Haben Sie Trinkwasser?« fragte der Offizier, und als Kress keine Antwort gab, befahl er: »Sergeant Cooper, sehen Sie in der Fahrerkabine nach!«

»Jawohl, Sir.«

Der Captain lehnte sich an die Seitenwand des Fahrzeugs, rieb sich den verwundeten Arm und verzog das Gesicht.

»Töten Sie mich«, sagte Kress.

»Was?« Erstaunt sah der Captain zu Kress hinunter.

»Töten Sie mich, habe ich gesagt.«

»Mann Gottes«, antwortete der Offizier mit echter Empörung. »Sie haben doch grade die beste Gelegenheit gehabt. Wenn Sie bloß einen Schritt weiter links gestanden hätten…«

»Töten Sie mich!« Immer noch hatte Kress etwas von der alten Kraft in Stimme und Blick. Doch unter dem kalten Starren des Offiziers schwand es rasch dahin.

»Moment mal. Sie sind doch dieser verrückte Gabriel.«

»Töten Sie mich. Sie habe eine Waffe. Töten Sie mich!«

»Hier, Sir«, unterbrach der Sergeant und hielt eine Feldflasche hoch.

»Geben Sie ihm etwas«, sagte Saperstein und deutete auf Kress.

Der Bärtige sah den Sergeanten flehend an. »Töten Sie mich!«

Es klang wie ein verzweifelter Befehl.

Mit erhobenen Brauen sah Cooper seinen Vorgesetzten an. Saperstein zuckte die Achseln und schickte sich an weiterzugehen. Cooper bot Kress zu trinken, doch er lehnte ab. Der Sergeant hing sich die Feldflasche um, rückte sein Koppel zurecht und sah Kress mißtrauisch an. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr, aber Sie sollten sich was suchen, wo Sie sich ’ne Weile ausruhen können. Nachher sieht alles ’n bißchen besser aus.«

Kress starrte ihn nur wortlos an. Cooper verzog das Gesicht und ging hinter dem Captain her.

»Sir, wollen wir nicht mal nach Disney World? Mein Gott, seit zwanzig Jahren bin ich nicht dagewesen.«

»Nach Hause, Sergeant Cooper, nach Hause.«

»Na schön, dann nicht, ich seh’s ja ein. Herrgott, er sah eigentlich gar nicht so bedeutend aus, nicht wahr?«

»Ist er auch nicht«, erwiderte Saperstein kurz. Sie marschierten weiter. Die Augen des Douglas Arthur Kress folgten den beiden, bis sie um eine Ecke bogen und nicht mehr zu sehen waren. Langsam wandte er den Blick wieder himmelwärts. Er konnte ihn mit bloßem Augen sehen. Schiwa den Vernichter. Soeben hatte Schiwa ihn vernichtet.

Jedoch nicht getötet.

 

Nashville. Karachi. Wolgograd. Sardinien. Lyon. Exeter. Scranton. Das Dorf Castellon de la Plaza in Spanien.

Einschläge. Brände. Panik. Aufruhr. Tod.

Teheran, Kreta, Mittelengland, Cincinnati. Küstenstädte von Flutwellen verschlungen. Überall.

Schiwa verteilte seine Visitenkarten.

 

»Acht? Sie haben nur acht – stimmt das?«

Ungeduldig wartet Chuck Bradshaw, bis das Gerät den Text komprimiert und als Explosivimpuls ausgestrahlt hatte. Dann mußte er auf Empfang warten, und dann auf den Computer, der Lisas Antwort von statischen Störungen reinigte.

»JPL… hier… ga I… Jawohl, acht, ich wiederhole: acht.«

»Verstanden acht, Lisa. Unser Computer ist am Rechnen. Wird bald fertig sein. Ende.«

Er sah zu Dink Lowell hinüber. Dinks Kopf war verbunden, und er hinkte beim Gehen. Die Notbeleuchtung warf dunkle Schatten. Seufzend sah sich Dink nach den Mathematikern um, die die Zielwerte für den letzten Schuß errechneten. Eben riß jemand – eine Frau – einen Papierstreifen aus dem Computer und überlas ihn, so langsam und gründlich, daß Bradshaw vor Nervosität mit den Zähnen knirschte; dann ging sie damit erst noch zu einem Kollegen. Endlich brachte sie ihn Bradshaw, der ungeduldig danach griff.

»Das ist es also?« Seine Kehle war so rauh, daß er husten mußte, und er starrte sie böse an. Sie nickte. Er überflog die Ziffern. »Wird sie das verstehen können?«

Die Frau lächelte ein wenig. »Sie nicht, aber ihr Bordcomputer. Sie braucht nur die sich vor Ort ergebenden Daten mit einzufüttern – Veränderungen von Entfernung oder Geschwindigkeit, Steigung, Senkung, Rollen und dergleichen. Dann muß sie nur noch auf den Knopf drücken.«

Bradshaw warf ihr den Streifen wieder zu. »Geben Sie es durch! Aber so, daß sie es auch versteht!«

Gelassen wandte sich die Frau ab und codierte den Spruch für den Explosivimpuls-Sender. Nervös lief Bradshaw auf und ab. Staub und Steingrus knirschten unter seinen Füßen. An der Kante eines umgestürzten Tisches, der zu schwer war, um ihn aufzurichten, kratzte er klebrigen Dreck von seinen Schuhsohlen. Dann setzte er sich. »Was zum Teufel gibt es da zu grinsen?« fragte er Dink Lowell irritiert.

»Ich grinse ja gar nicht.«

»Doch.«

»Das ist mein ganz natürlicher Gesichtsausdruck. Ich bin eben eine heitere Natur.«

»Und ich nicht – wollen Sie damit sagen!«

Dink zuckte die Achseln, Bradshaw atmete tief ein. »Entschuldigung, Dink«, sagte er. Ein neuerliches Achselzucken, und damit war die Sache für Dink erledigt. Bradshaw sah sich um. Überall lag Papier und alles mögliche herum. »Ein rechter Mist ist das alles, nicht wahr?« wandte er sich wieder an Dink. »Zur Zeit ist unser ganzes industrielles Potential im Eimer. Kein Mensch arbeitet mehr – alle beten oder klauen oder bumsen.«

»’ne ordentliche Nummer wäre mir auch lieber.«

Bradshaw nickte verständnisvoll. »Aber bestimmt nicht die letzte.«

»Nein. Ich stelle mir vor, meine letzte müßte so um meinen vierundneunzigsten Geburtstag stattfinden – plus oder minus vierzehn Tage.«

Bradshaw sagte nichts darauf. Er bemerkte, daß der Funkoffizier sich über sein Gerät beugte, und sah genauer hin. Der Computer druckte die Antwort aus: »Information empfangen und verstanden. Werden unser… stes tun, Chuck. Viel Glück euch da unten. Omega I, Ende.«

Viel Glück euch da unten.

Viel Glück brauchen wir alle, oben wie unten.

Bradshaw spürte seine Schultern versacken, und seine Augen brannten schlimmer denn je. Die Pillen machten ihn gereizt und nervös. Seine Arbeit war getan. Aber vielleicht, vielleicht nur, gab es etwas, was er noch tun konnte oder tun mußte. Er mußte durchhalten.

Und wenn er daran krepierte.

Was sonst noch zu tun war, mußten die Bander und Calderon tun.

Und Carl Jagens.

 

Ponng!

Diego duckte sich und stieß sich dabei die Nase schmerzhaft am Helmmikrophon. Er war wütend über sich selbst; Ducken half hier sowieso nichts. Den, der dich fertigmacht, den siehst und hörst du wahrscheinlich gar nicht. Die Erschütterungen drangen durch die Metall- und Plastikteile des Schiffs. Kleine Aufschläge, Schwankungen, Drehungen, Hopser, Kratzer. Das Schiff wurde zu Tode gekratzt und geschabt. Jetzt schon arbeiteten drei Raketenausstroßrohre fehlerhaft, weil sie mehrere Treffer abbekommen hatten.

Diego biß die Zähne zusammen. Es sah schlimm genug aus, fand er. Nach dem was er aus Vandenberg und Cape Canaveral gehört hatte, waren irgendwelche Rettungsexpeditionen wahrscheinlich gar nicht möglich. Vom Kosmodrom Baikonur hatten sie nichts gehört; aber das war man gewohnt – die Russen hielten immer alles denkbar geheim.

Ping! Tonk! Wumm!

Diego suchte den Himmel über sich ab, sowohl mit den Augen als auch mit dem Radar, das glücklicherweise noch einigermaßen funktionierte. Er hatte seine kleine Raketenflotte Lisa übergeben, und sie hatte ihm die Übergabe per Laser bestätigt. Wenn er sich hinter Carl Jagens hermachte, konnte er leicht dabei draufgehen. Aber vor allem mußte jemand Schiwa den Todesstoß versetzen.

Falls dieser trudelnde Berg überhaupt umzubringen war.

Tinnng! Popp, bang, bump, ping!

Er sah auf die Uhr. Nur eine knappe Stunde blieb ihm noch, um Jagens zu finden, ihn zu neutralisieren und hinter Schiwa, an der dem Auftreffpunkt der Geschosse entgegengesetzten Seite, in Deckung zu gehen. Jede Sekunde zählte. Lisa würde sie bereits in Position bringen, sie vorsichtig, mit möglichst geringen Verlusten und Beschädigungen durch den Schwarm lavieren und mit ihm fliegen lassen.

Da!

Klar und deutlich kam auf dem Radar ein scharf umrissener Lichtfleck hinter dem größeren, »weicheren« Bild des taumelnden Felsens hervor.

Carl Jagens.

Entschlossen nahm Diego Kurs auf ihn.

Ponk! Tink, bonk, bang, bump!

Die kleinen Asteroiden in seiner unmittelbaren Nähe würden sicher in der Erdatmosphäre verglühen oder – je nach dem Einfallswinkel – abgelenkt werden. Doch Schiwa würde, wenn er nicht gestoppt oder abgedreht werden konnte, die Erdatmosphäre mit nur minimaler Deflektion durchstoßen. Unter Umständen würde es sich sogar als tödlich erweisen, wenn Schiwa nur knapp an der Erde vorbeiflog: Da dieser Berg aus Nickeleisen den Wendepunkt seiner elliptischen Bahn schon fast erreicht hatte, konnte er leicht drehen und auf der Gegenbahn voll zur Erde zurückkommen. Und dann hätte man überhaupt keine Zeit mehr für Ablenkungsversuche, ganz zu schweigen von den ballistischen Mitteln. Reichte die Ablenkung jetzt nicht aus, so war der Zerstörer in einer Position, aus der er in Kürze wiederkommen konnte: Es gab nur eine einzige Chance. Die Würfel waren gefallen.

Pannng!

Die Kapsel wirbelte herum. Fast genau über Diegos Kopf erschien ein Loch, dann noch eins und noch eins. Aufreißendes Metall durchschnitt eine hydraulische Leitung. Rote Flüssigkeit tröpfelte aus, schwebte in Form von kristallinischen Kügelchen in der Kabine. Diego konterte die Rotation, doch es kostete ihn gefährlich viel Treibstoff.

Er hob den Laser, richtete ihn auf Carls Schiff und begann zu morsen, setzte ihn aber gleich wieder ab, da ihm die Hände zitterten. Er zwang sich zur Stetigkeit, atmete ein paarmal tief und hob den Laser wieder. Der Arm schmerzte scheußlich, und er war so müde!

Carl reagierte nicht auf seinen Morsespruch; er sandte Diego einen zweiten, ohne auf Bestätigung des ersten zu warten:

CARL WIR MÜSSEN UNSERE KRÄFTE VEREINEN SCHIWA AN DEM PUNKT TREFFEN DEN DIE NASA ASTRONOMEN ERRECHNET HABEN BITTE ANTWORT DIEGO.

Nichts.

Ein neuer Impuls auf dem Radar: Lisa Bander, die hinter Schiwa in Position ging.

CARL IN KÜRZE DETONIEREN ACHT GESHOSSE AN IHRER SEITE ANTWORTEN SIE BITTE CALDERON.

Wieder nichts.

Seufzend richtete Diego die Kapsel auf Schiwa. Sein Treibstoff war fast verbraucht. Er beobachtete Carls Schiff, das sich langsam drehte. Da – ein Aufblitzen. Sekunden später ein zweites. Er richtete das Teleskop auf Alpha I und sah hinüber. Die Luke war offen. Carl befand sich außerhalb des Schiffes. Aber wo? Diego wußte es sofort. Er wollte Geschosse entführen!

Diego wollte Laserverbindung mit Lisa aufnehmen, doch ihr Schiff war außer Sicht; es stand hinter Schiwa. Er sah auf den Treibstoffanzeiger. Es reichte, um hinter Schiwa zu kommen, in seinen schützenden Schatten. Oder um Alpha I zu erreichen. Aber nicht für beides.

Diego nahm Kurs auf Alpha I. Er mußte Carl Jagens aufhalten.

 

Lisa Bander blickte auf die umspringenden Zahlen des Zifferblattes. Viel Zeit war nicht mehr. Langsam trieb sie weiter bis dicht an die träge dahinrollende Masse Schiwas. Die blaue Kugel der Erde, die inzwischen noch größer geworden sein mußte, konnte sie nicht sehen. Diego und Carl auch nicht.

Die Raketen waren programmiert und abschußbereit, der Zielpunkt war von den Astronomen und Mathematikern der NASA genau fixiert. Es würde eine sehr knappe Sache werden. Zu gegebenem Zeitpunkt mußte sie die Sprengköpfe zur Detonation bringen, ganz gleich, ob Diego in Deckung war oder nicht. Es mußte sein.

Sie wartete. Blinkend sprangen die Ziffern um.

 

Schiwa lag jetzt vor Diego, doch das Schwanzende des Schwarms trieb rasch vorbei. In Wirbeln und Schlangenlinien brachen sich die Partikel an den scharfen Zacken von Schiwas Oberfläche. Diegos Radar spielte verrückt, war voller großer heller Flecken, verursacht von Wolken von Sternenstaub und Steinbrocken.

Diego manövrierte sich an Carls Schiff heran. Wie er sah, war die Kabine leer. Doch am Himmel konnte er Jagens nicht entdecken. Verloren trieben die beiden Schiffe durch Steinbrocken und Staub, wie Pilotfische des großen Wals Schiwa, der nur ein paar hundert Meter hinter ihnen war.

Dann sah er Carl.

Erst sah er das Aufblitzen im Radar: eines der Geschosse. Dann Carl, der darauf ritt wie auf einem Pferd, oder wie Kapitän Ahab auf Moby Dick. Die Kante der Zugangsklappe zum Steuerungssystem glänzte: sie stand offen, und Carl hatte beide Hände im Innern der Rakete.

Ohne zu überlegen richtete Diego sein Schiff auf Carl. Der Kommandant des Alpha-Teams sah auf. Eine Sekunde lang konnte Diego den Reflex seiner Lenkraketen in Carls dunkler Sichtscheibe sehen. Plötzlich hatte Carl etwas in der Hand. Es blitzte rot. Ein Laser.

Der war auf diese Entfernung kein harmloses Signalgerät, sondern, wie es seiner Konstruktion entsprach, ein starker Schneidstrahler.

Diegos Schiff war in rotes Licht gebadet. Das metallene Frontschild begann zu glühen. Noch heller erglühten die gezackten Ränder mehrerer Löcher. Diego schaltete die Triebwerke aus und wendete das Schiff scharf nach Steuerbord Süd. Sobald die Haupttriebwerke nahe genug heran und auf Carl gerichtet waren, wollte er sie wieder zünden. Die Flamme würde Carl wahrscheinlich veraschen, doch sie könnte auch das Geschoß zur Detonation bringen. In diesem Fall würde er, Diego, zerrissen werden; außerdem könnten dadurch, was noch viel wesentlicher war, Ausbalancierung und Position der anderen in der Nähe befindlichen Geschosse beeinträchtigt werden.

Diegos Hand war ganz ruhig. Er hatte gar keine Bedenken, Carl zu töten. Es mußte einfach sein. Der Mann war wahnsinnig und gefährlich. Er war ein zu großes Risiko.

Außerdem brauchte Lisa die Rakete.

Diego verbrauchte fast seinen letzten Treibstoff zum Bremsen. Das Metall glühte nicht mehr, in der Weltraumkälte verflog die Hitze rasch. Er wand sich durch die Luke, ergriff den Laser, zog den Stecker aus der Leitung und schaltete das Gerät auf Eigenbatteriebetrieb um. Es würde nicht ganz so kräftig sein und nicht sehr lange vorhalten, aber dafür konnte er es mitnehmen. Er stieß sich ab; kaum hatte er er sich Zeit genommen, die Sicherheitsleine einzuklinken. Er hatte noch einen Blick auf die Uhr geworfen: nur noch Minuten, und verflucht wenige.

Eben schloß Carl die Klappe seines Geschosses. Er sah Diego, fuhr herum und drückte noch in der Bewegung ab. Der rote Strahl ging an Diego vorbei. Diego feuerte zurück, doch weil er sich bemühte, nicht das Geschoß zu treffen, verfehlte er Carl ebenfalls. Jagens stieß sich ein Stück von dem Geschoß ab, betätigte dann seinen Eigenantrieb und flog rasch auf sein Schiff zu, von Stößen komprimierter Luft getrieben. Diego feuerte nochmals, fehlte jedoch wiederum knapp. Mittels seines eigenen Kompressorsystems manövrierte er sich an das Geschoß heran.

Carl feuerte nicht, sondern ließ den Laser los; er mußte wohl leer sein. Er zwängte sich in Alpha I hinein und schloß die Luke, als Diego grade das Geschoß erreicht hatte. Nervös tastete er es ab, um die Zugangsklappe zu finden. Es war eine der russischen Raketen, mit denen er nicht gut Bescheid wußte. Carl zündete seine Triebwerke, und Alpha I schoß davon, um, wie Diego annahm, die nächste Rakete zu kapern.

Endlich fand er die Klappe und rüttelte daran. Er hatte kein Werkzeug bei sich. In der Eile hatte er nicht daran gedacht. Kleine Fehler können schlimme Folgen haben…

Er nahm den Schneidbrenner zur Hand und richtete ihn in schrägem Winkel gegen das dünne Metall. Mit einem kurzen Schnitt hatte er die Klappe freigelegt und konnte sie abnehmen. Er wischte die Metalltröpfchen weg und faßte in eine kompakte Masse von Kabeln hinein. Zu seinem Schrecken merkte er, daß Carl Jagens die Rakete umprogrammiert und die Schaltung mit einem leichten Laserstrahl verlötet hatte. Da war nichts zu machen.

Die Uhr in seinem Kopf sagte ihm, daß es gleich soweit sein mußte.

 

Lisa Bander blickte auf die unaufhaltsam dahinzuckenden Ziffern. Sie spähte aus dem Bullauge, sah auf den Radarschirm, dann wieder auf die Ziffern der Digitaluhr. Es war fast soweit. Ihr Herz schlug immer schneller, und ihr wurde schlecht vor Angst.

 

In fieberhaftem Nachdenken saß Diego Calderon rittlings auf dem Geschoß. Jeden Moment konnten die Triebwerke der Rakete aufflammen und ihn gegen Schiwas felsige Wände schleudern.

Die Sowjetrakete zurückprogrammieren – das konnte er nicht. Aber was konnte er tun? Er konnte sie völlig abschalten, sie als leere Hülle treiben lassen. Dann könnte Carl sie nicht mehr zünden, aber sie wäre völlig nutzlos. Und wenn nicht alle Geschosse eingesetzt wurden, reichte es vielleicht nicht ganz. Selbst wenn Schiwa dicht an der Erde vorbeiflog, aber durch die Atmosphäre pflügte, würde das unabsehbare Schäden auf dem ganzen Planeten verursachen; Jahrhunderte konnte es dauern, bis sich die Zivilisation davon erholt haben würde.

Er setzte den Laser an, stieg von dem Geschoß ab und trieb nebenher. Er hielt sich fest und feuerte einen Laserstrahl seitlich in den Flugkörper hinein, dicht unter der ausgeschnittenen Klappe. Ein Aufblitzen; dann verzischte Metall und Plastik. Die Rakete geriet ins Rollen, und Diego wurde mitgerissen.

Er klammerte sich fest und drehte die Rakete ein wenig aufwärts. Wieder setzte er den Laser ein, um Zugang zu einem anderen Teil des Führungssystems zu bekommen. Er spähte hinein und fühlte die Schaltung im Innern ab. Das Gyroskop war beschädigt; lautlos bliesen die Jets ab, der Flugkörper schwang heftig herum, bis er die vom Gyro gesetzte Position eingenommen hatte.

Das Geschoß war jetzt auf Schiwa gerichtet. Diego spähte nach dem rotierenden Felskoloß aus. Er kannte die Stelle, die er treffen wollte und markierte sie im Geiste. Er faßte wieder unter die Klappe, und das Haupttriebwerk zündete. Das Sowjetgeschoß flog auf Schiwa zu.

Doch Diego hatte nicht die Absicht, Kamikaze-Pilot zu spielen – nicht wenn es sich irgend vermeiden ließ.

Heftig riß er die Rakete herum, so daß ihr Schwanz etwas tiefer lag als Schiwa. Er konnte sie nicht genau in den beabsichtigten Punkt bringen, doch ungefähr in die Nähe desselben. Er sandte noch einen Laserstrahl in das Lenksystem der Rakete und zerstörte die Antriebsleitung. Der letzte der roten Strahlen zersprühte das Metall, und er warf die Waffe weg. Das Geschoß trieb in leichter Abwärtsrichtung auf den Asteroiden zu.

Dann stieß er sich von der Rakete ab. Er wußte nicht, ob er auf den richtigen Punkt des rotierenden Felsens zielte, aber die Möglichkeiten waren beschränkt. Das sowjetische Geschoß mußte dicht am Aufschlagpunkt sein, wenn die anderen Sprengköpfe detonierten, seine Kraft mußte sich mit der ihren vereinen.

Während er sich Schivva mit großer Geschwindigkeit näherte, suchte Diego den Himmel nach Carl Jagens ab, der immer noch über ein Geschoß verfügte. Kein Mensch konnte wissen, was er damit anstellen würde.

 

Lisas Finger krümmten sich bereits, doch hielt sie sie mit der anderen Hand fest. Noch nicht. Beinahe war es soweit.

Die leuchtenden Ziffern flirrten über den Schirm.

 

Mit hartem Aufprall stieß Diego gegen Schiwa. Eine fragwürdige Landung. Er glaubte, daß er weit genug von der durch Bolschoi und die anderen Raketen verursachten radioaktiven Strahlungsquelle entfernt war, doch sicher war er dessen nicht. Sicher war überhaupt nichts.

Er packte einen zackigen scharfkantigen Vorsprung und klammerte sich daran fest. Oben kreisten die Sterne. Schiwas Rotation trug ihn weg zum Aufschlagpunkt.

Hoffentlich schnell genug.

 

Ein Piepton kam aus dem Radar, und Lisa fuhr auf.

Ein Geschoß flog auf sie zu.

Carls letzte, wütende Geste.

Ich sterbe, du stirbst, wir sterben. Alle.

Lisa Bander starrte auf den Leuchtpunkt, der sich rasch auf sie zu bewegte.

Ihre Augen gingen zur Uhr.

Noch nicht.

Noch nicht.

Gleich. Durchhalten. Es muß klappen. Die Nerven nicht verlieren.

O mein Gott…

 

Diego sah die Rückstoßflamme von Jagens’ Geschoß vor dem Hintergrund von glitzerndem Staub und Gestein aus dem farbigen Dampfstrom herausschießen.

Nein…!

Carl Jagens war verrückt: Konnte er die Welt nicht retten, so sollte es auch kein anderer tun.

 

Wie hypnotisiert starrte Lisa abwechselnd auf die Uhr und auf den Radarschirm. Nach den Zahlen konnte sie sich nicht mehr richten. Das Geschoß würde vor der errechneten Abschußzeit da sein. Sie würde früher zünden müssen. Schiwa würde nicht in der optimalen Position sein, nicht dort, wo nach Ansicht der Mathematiker eine maximale Ablenkung gewährleistet war.

Die Zahlen waren falsch, ganz falsch.

Sie faßte nach dem Knopf.

Mikrosekunden.

Die Zeit dehnte sich, wurde abgebremst, wurde elastisch. Die Leuchtziffern sprangen um, die Sterne kreisten.

Sie mußte handeln. Besser zu früh als überhaupt nicht. Auf Nummer Sicher gehen. Besser zu früh als zu spät.

Du stirbst.

Denk nicht daran. Sterben müssen alle. Denk an deine Arbeit. Dienst ist Dienst.

Mikrosekunden.

Sie griff nach dem Knopf.

 

Diego sah das Geschoß explodieren. Doch es flog in Stücken auseinander, es war keine atomare Explosion.

Ein Asteroid? Es hatte irgend etwas getroffen oder war von irgend etwas getroffen worden. Es flog zu schnell, zu ungestüm. Etwas, das die Natur vor Äonen auf den Weg gebracht hatte, war sein Tod.

Dann kam die Explosion auf Schiwas anderer Seite.

Der Felsen erzitterte, schleuderte Diego von seinem geschützten Platz. Schlaff, bewußtlos wirbelte er in den Raum.

Licht!

Eine mächtige Kraftwelle teilte den Staub und die kochenden Gase, riß den Asteroiden herum.

Aber er flog weiter.

 

Lisa blutete aus dem Munde. Sie brauchte nicht darüber zu spekulieren, warum Carls Geschoß sie nicht erreicht hatte. Sie versuchte, möglichst viel Blut hinunterzuschlucken, denn die Tröpfchen schwebten im Helm herum und blieben überall an der Innenseite kleben.

Luftdruck: null. Das Schiff war irgendwo leck.

Schiwa?

Ihr Fahrzeug war weggeschleudert worden, und es dauerte einen Augenblick, bis der Navigationscomputer die richtigen Sterne gefunden hatte und sich orientieren konnte.

Mühsam strichen Lisas Finger über die Tastatur ihres Bordcomputers.

Schiwa hatte seine Richtung ein wenig geändert. Langsamer war er geworden, die Richtung hatte er geändert. Aber so geringfügig!

Genügte es?

»JPL, JPL, hier Omega I, können Sie mich hören? Haben wir es geschafft, ich wiederhole, haben wir es geschafft? Bestätigen Sie!« Wir haben nichts mehr, dachte sie. Bestätigt gefälligst, zum Donnerwetter!

Während der Sekunden, die sie warten mußte, bis Computer und Transmittoren ihre Sendung durchgegeben hatten, ging es ihr blitzartig auf: Diego!

Nein, nicht denken.

Dienst ist Dienst. Heulen kannst du später.

Verdammt, antwortet doch!

 

In langsamen Drehungen trieb Diego mit allerlei aus dem Schwarm herausgeschleuderten Objekten durch den Raum. Der weitläufige kometenartige Schwarm überholte Schiwa. Staub, Gestein, kleinere Brocken kamen auf gleiche Höhe mit ihm, durchstießen den vielfarbigen Gasstreifen, prallten auf der sonnenerleuchteten Seite auf, zersprangen oder prallten ab, flogen in den verschiedensten Richtungen weiter. Andere Teile des Schwarms segelten lautlos vorbei, verursachten Turbulenzen im Staub, flogen weiter, ein mächtiger Schrotschuß aus der Zeiten Anfang – sein Ziel: die Wohnstätte des Menschen.

 

»Omega I, hier JPL. Wir hören Sie voll. Die Hochrechnung ist im Gange. Wir geben sie Ihnen gleich durch. Wie geht es Ihnen, Lisa? Hier ist Chuck Bradshaw. Ende.«

»Ich… alles in Ordnung. Ich glaube nicht, daß sonst noch jemand am Leben ist. Ich habe Kabinendruck verloren.

Treibstoff ist fast alle.« Ich werde es auch nicht schaffen, dachte sie.

»Halten Sie durch, Lisa. Eddie Manx ist von Station I gestartet und auf dem Wege zu Ihnen. In schätzungsweise zwölf Stunden wird er bei Ihnen sein. Ende.«

Was nützt das? Dann bin ich schon tot. Für zwölf Stunden habe ich keine Luft mehr. Irgendwas hat den achtern Tank blockiert, und ich habe es nicht einmal gemerkt. Vielleicht sollte ich ihnen sagen, sie sollen sich keine unnütze Mühe machen.

Nein, warte. Es können ja noch andere am Leben sein, Omega II, vielleicht sogar… Diego.

»Erwarte Eintreffen, JPL. Und… danke. Omega I, Ende.«

»Können Sie uns einen besseren Statusreport geben, Lisa? Wir glauben, daß… Moment mal… Lisa! Hier kommt Info! Du hast es geschafft, Baby, du hast es geschafft!«

Eine Welle von Nichts durchflutete Lisa.

Hohles, leeres Nichts.

Alles das… diese Anstrengungen… diese Toten… und nun…

»Gratuliere, Lisa!« Sie vernahm Rufe, Schreie, fernab und wie gefiltert. »Das OAO, Boston, Palomar – alle sagen: Schiwa wird nicht nur an der Erde vorbeigehen, sondern wird mit höchster Wahrscheinlichkeit in eine Erdumlaufbahn einmünden.« Wieder hörte sie Freudenrufe, jemand brüllte etwas Unverständliches ins Mikrophon. »Und zwar soweit außerhalb des Mondorbits, daß er dort keinen ernsthaften Schaden anrichten kann. Ein paar Mondbeben, aber damit werden wir schon fertig. Wenn wir den Schiwa-Schwarm überstanden haben, können wir mit allem fertig werden.«

Lisa fühlte sich ganz klein und kalt und müde.

Und einsam.

Sie schlang die Arme um sich. Ihr Hirn war wie ein Ball aus gefrorenen Splittern. Und tief drinnen war noch ein Ball, ein ganz harter, der immerzu schrie.

Diego…

»Lisa, er rotiert. Und die Langzeitprojektionen weisen aus, daß der Orbit stabil ist. Wir haben einen neuen Mond!… Lisa?«

Sie wandte nicht einmal den Kopf, um aus dem Bullauge zu sehen. Wenn schon – soll er doch rotieren.

»Er rotiert um die Längsachse«, fuhr die aufgeregte Stimme fort, »das heißt, wir können ihn nutzen. Lisa? Ist Ihnen was?« Die Stimme knatterte weiter, doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. »Wenn wir das Innere aushöhlen, haben wir einen rotierenden Zylinder. Eine Raumstation, Lisa, so groß wie wir wollen! Die Zentrifugalkraft wird so sein wie leichte Gravitation. Da haben wir mehr nutzungsfähige Materie zur Verfügung, als eine ganze Flotte in fünfzig Jahren hinaufschaffen könnte!«

Undeutlich hörte Lisa etwas, das wie Lachen klang. Lachen war so etwas Seltsames, Fernes, Bizarres. Es war so lange her, daß sie gelacht hatte. Wenn sie überhaupt jemals gelacht hatte. »Oben können wir ein Loch bohren, damit die Sonne reinscheinen kann; wir können ihn ganz und gar mit Solarzellen bepflastern, Gemüse anbauen, eigene Luft machen, sogar Eisen können wir uns holen, einfach per Gravitationsfähre!«

Stumpf, ganz weit weg, nickte Lisa. Es klickte: eine andere Frequenz. »Lisa, ich habe den Präsidenten am Apparat.« Pause. »Lisa? Omega I, bitte melden!«

»Knowles, meinen Sie?« Lisa war nicht in Stimmung für schöne Reden. Sie erinnerte sich an all den Schwachsinn, den Nixon damals nach der Mondlandung von sich gegeben hatte – es wäre der größte Tag seit der Erschaffung der Welt und so weiter. Aber damals hatte es auch keine Toten gegeben. Wieviel noch größeren Unsinn würden die Politiker über Schiwa verzapfen? Welche noch größere Mengen an Hysterie würden die Medien ausschütten? Lisa stöhnte vor plötzlicher Müdigkeit und Niedergeschlagenheit.

»Nein, Reed, Jorman Reed. Knowles ist… äh… zurückgetreten. Achtung… wir stellen ihn durch…«

Sekunden vergingen. Stumpf und ohne einen Gedanken saß Lisa da und starrte auf ein verpflastertes Leck, bei dem das Pflaster nicht gleich richtig geklebt hatte und etwas ausgebeult war. Ihr Adrenalinspiegel mußte merklich gesunken sein, eine leichte Übelkeit trieb ihr das Blut aus den Wangen.

»Colonel Bander? Hallo?«

Sie antwortete nicht. Etwas schwächer vernahm sie Chuck Bradshaws Stimme: »Es dauert ein par Sekunden, Sir, bis Ihre Stimme dort oben ist, und umgekehrt auch; außerdem braucht der Computer noch etwas Zeit für die Entzerrung.«

»Aha. Also, Colonel Bander, vielleicht sind Sie sich nicht ganz klar darüber, was Sie vollbracht haben. Sie haben brillant improvisiert. Ich habe diese ganze Schiwa-Frage gründlich durchdacht. Ich glaube, Sie haben mehr getan, als Sie selbst wissen.«

Etwas wie Interesse rührte sich in ihr. Doch hauptsächlich, um die bleiche Gleichgültigkeit abzuschütteln, deren Beute sie geworden war, fragte sie: »Wie bitte? Wie meinen Sie das, Mr. Präsident?«

»Schiwa ist ein riesiger Berg aus Eisen und, wie ich höre, auch anderen wertvollen Elementen. Die haben wir jetzt alle in greifbarer Nähe, in einem Orbit, wo wir leicht an sie herankommen. In der Nähe der orbitalen Produktionsstätten. Neue Rohstoffe und in phantastischen Mengen. Im Zuge ihres Abbaus kann Schiwa ausgehöhlt und bewohnbar gemacht werden. Raumkolonien, Lisa, und zwar richtige, die sich selbst erhalten können und über ein ökonomisches Potential verfügen.«

Nachdenklich blinzelnd lauschte Lisa dem Redefluß des Präsidenten: »Mit Schiwas Metallen können wir so viele Schutzschilde produzieren wie wir wollen – gegen kosmische Strahlen, Hochenergieprotonen, Sonnenprotuberanzen – alles mögliche. Wir brauchen die Besatzungen nicht regelmäßig auf die Erde zurückschicken, um die Strahlenbelastung niedrig zu halten. Sie und Ihr Team haben mehr getan, als eine furchtbare Bedrohung abzuwenden. Sie haben uns eine ganz neue Möglichkeit verschafft, aus den Tiefen der Schwerkraft herauszukommen und aufzusteigen, eine Brücke zum Mond, zu den Sternen zu bauen. Und dort zu leben.«

»Wie…?« Dieser Mensch, dieser Unbekannte, der solange im Schatten Knowles’ gestanden hatte – der dachte plötzlich an so etwas? Hatte er das aus anderer Leute Hirn? Nein, dazu war keine Zeit gewesen. Vielleicht hatte er recht. Himmeldonnerwetter, vielleicht hatte er tatsächlich recht.

Piep.

Lisa fuhr auf. Piep? Was hatte hier zu piepen?

Schwerfällig richtete sie sich auf und sah sich um. Auf dem Schirm des Ortungsgeräts erschien ein einzelner Fleck – die Helmradio-Notfrequenz.

Piep.

Piep.

Ganz unvorschriftsmäßig schaltete Lisa die Erdfrequenz ab und legte den Hebel um, der die Scheibe des Orters pirschen und jagen ließ. Sie betete inständig, das Gerät möge noch funktionieren und nicht bloß ein loses Stück Drahtverhau sein…

Piep.

Diego?

Carl?

Piep.

Lisa schwenkte das Teleskop herum, warf einen Blick auf die Koordinaten, sah hinein. Wegen ihres Helms konnte sie mit dem Auge nicht nahe genug herankommen. Ungeduldig schaltete sie das Bild auf den Hauptschirm um.

Irgend etwas Weißes trieb zwischen den Sternen.

Diego.

Piep.

Wild pumpte ihr Herz. Sie wendete ihr Schiff und richtete es auf den weißen Klecks. Die Verständigung über Helmradio mit einem außerhalb des Schiffes befindlichen Gesprächspartner war nie besonders gut, wenigstens nicht ohne Repetitionsantenne, und die hatte sie nicht mehr.

Piep.

Es mußte Diego sein.

Oder Diegos Leichnam.

 

Ping. Ping.

Immer noch prallte Raummüll träge von der Kapsel ab, doch jetzt schon merklich weniger. Der größte Teil des Schwarms hatte den verlangsamten und abgelenkten Schiwa hinter sich gelassen.

Piep.

Sie blickte auf den Schirm. Es sah tatsächlich aus wie Diegos Raumanzug.

Es war Diegos Raumanzug!

Mit vorsichtigen Jetstößen manövrierte sie das Schiff und paßte seine Geschwindigkeit der des Schwebenden an. Sie entfernten sich rasch von Schiwa. Sie brachte das Schiff in etwa dreißig Meter Distanz von Diego zum relativen Stillstand. Dann löste sie ihre Gurte, überprüfte die Kompressor-Jets und ließ sich an einer Sicherheitsleine von zweifacher Länge aus dem Schiff treiben.

 

Die Dunkelheit wich, aber der Schmerz war noch da. Er hörte eine blecherne, ferne Stimme: »Diego! Diego, Liebster!«

Er wandte den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen. Da war irgendwas, ein großes dunkles Auge mit dem verschwommenen Reflex der Sonne. Es kam ganz nahe, berührte ihn. Warum benutzte dieser Mensch nicht das Radio? Immer vorschriftsmäßig!

»Diego! Ich bin’s Lisa!«

Ihr Helm berührte den seinen. Sie trieben in der Schwärze. Er lebte. Alles tat ihm weh, aber er war am Leben – und sie auch!

»Haben wir’s geschafft?« fragte er heiser, hustete sich den Hals frei und fragte nochmals: »Haben wir’s geschafft?«

»Wir haben’s geschafft. Aber wir müssen zum Schiff zurück. Deine Luft ist ja beinahe alle!«

Sie drehte ihn herum, und sein Kopf wurde etwas klarer. Ohne ihre Hilfe manövrierte er sich mit seinen Jets zum Schiff hinüber. Durch die Luke sah er den toten Nino Solari auf seinem Sitz.

Lisa war dabei, die Leiche hinauszuholen, doch er unterbrach sie und schüttelte den Kopf, denn Nino hatte noch Luftreserven in seinem Helm, die man übernehmen konnte.

Lisa beugte sich zu ihm, klinkte sein Radio aus und ersetzte es durch eins von Solaris Helmradios. »Großartig«, seufzte Diego mit einem tiefen Atemzug.

»Ist nicht mehr viel drin«, sagte sie, »bloß noch für ein paar Stunden.«

»Ja«, erwiderte er stirnrunzelnd, »das reicht nicht für uns.«

»Nein.«

Stumm sahen sie einander an. Er berührte ihren Arm, und sie legte ihre behandschuhte Hand auf die seine.

»He«, stieß er hervor, »da war doch irgendwas mit dem Notfallbetrieb – dieses LOX.«

»Flüssiges Oxygen – ja, natürlich!« Sie riß die Augen weit auf. »Das ist in einem Außentank. Zum Manövrieren. Meinst du, wir…«

»Na klar. Ist noch was davon da?«

Lisa drehte sich um und tippte auf ihrem Armaturenbrett den Bestandsanzeiger. »Zeigt immer noch Druck an«, sagte sie, »muß noch eine ganze Menge drin sein.«

»Okay. Dann kochen wir es.«

»Wie denn?«

»Lötlampe. Laser mit Breitstrahl, wenn’s nicht anders geht. Kochen es auf, füllen es in Flaschen und atmen es.«

Lisa überlegte und nickte dann langsam. »Ich glaube, das geht. Ist vielleicht riskant, bei dem hohen Druck. Müssen aufpassen, daß die Verbindungen den Überdruck beim Kochen aushalten.«

»Das kriegen wir ohne viel Mühe hin«, sagte er und lächelte sie an.

Sie erwiderte sein Lächeln. »Na klar. Ich fange gleich…«

»Nein. Ruhen wir uns lieber ein bißchen aus. Wir haben Zeit.«

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Ganz gut – für einen Toten.«

»Und Carl?« fragte sie traurig.

Diego spähte hinaus in den Raum. In der Ferne rotierte Schiwa, ein riesiges, fleckiges Antlitz, tänzelnd vor dem Chor der Sterne.

»Den hat’s bestimmt zerrissen. Er war draußen, als die Raketen losgingen. Ich… ich habe noch gesehen, wie er eine auf dich abgeschossen hat. Seine letzte.«

Stumm nickte sie.

»Blöder Hund«, sagte Diego lakonisch. »Aber Mut hatte er. Bis zum bitteren Ende. Da kannst du mal sehen, was es mit der Tapferkeit auf sich hat. Er war… zu überzeugt von sich.«

Ein paar Sekunden lang schwiegen sie.

»Die da unten sagen, Schiwa geht in den Orbit«, murmelte sie.

»Verflucht und verdammt!« flüsterte Diego voller Bewunderung.

»Wollen mal hören, was es Neues gibt.« Sie legte den Schalter zum Erd-Kanal um.

»… lo Omega I, hier Präsident Reed. Ende.«

»Verstanden, Sir. Ich habe jetzt Colonel Calderon an Bord.«

Sie warf Diego einen raschen Blick zu, und sie lachten beide spitzbübisch, während sie auf die Transmission warteten.

»Was? Mein Gott, das ist aber fein. Wir… wir hatten ihn schon abgeschrieben.«

»Ich auch.« Ihre Augen trafen sich mit einem innigen Blick.

»Ist er verletzt? Sagen Sie ihm, ich habe einen Job für euch beide. Die Leitung der Schiwa-Station. Ihr werdet Verwaltungsbonzen – aber fliegende.«

Stirnrunzelnd sah Diego Lisa an. »Er will tatsächlich eine Schiwa-Kolonie durchboxen?«

Sie nickte und berichtete ihm rasch, was Reed ihr vorhin gesagt hatte.

»Wie kommt es, daß er über die Raumfrage auf einmal so gut Bescheid weiß?« fragte Diego. »Knowles hat darüber gerade soviel gewußt, daß er bei Konferenzen nicht über seine eigene Zunge stolperte.«

Sie zuckte die Achseln.

»Ein heimlicher spacenik.«

»Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Als Senator war er mal Leiter des Benennungskomitees für Marsflüge. Aber hör mal, er redet ja irre. Es dauert doch mindestens zehn Jahre, bis das in Gang kommt.«

»Das wird er schon merken, wenn er sich erst einmal beruhigt hat. Aber die grobe Richtung stimmt jedenfalls.«

»Wir werden ja sehen, nicht wahr. Ich denke, mit den Jet-Tanks werden wir gerade Luft genug haben, bis Eddie Manx hier ist. Aber es wird eine knappe Sache.«

»Dann haben wir wenigstens Zeit, um über diesen fliegenden Schreibtisch-Job nachzudenken«, lächelte Lisa.

Diego schnob durch die Nase, verzog das Gesicht, und schaltete sein Mikrophon auf den Erd-Kanal. »Mr. Präsident, hier Colonel Calderon. Sir, jeden permanenten Schreibtisch-Job muß ich mit allem Respekt ablehnen – vielen Dank.« Er sah Lisa an – sie nickte zustimmend.

Diego blickte aus dem Bullauge auf die schrundige Masse Schiwas. Immer noch strömten Dämpfe aus, gelb, blau, orangerot, und bildeten einen Schweif. Jetzt war Schiwa nur noch ein riesiger, unmanierlicher Haufen Eisen, aber man würde ihm schon Manieren beibringen.

Wo zum Teufel blieb Eddie Manx? Sie hatten eine Menge zu tun.