2. Mai: Kollision minus 24 Tage

 

Toghrul Arslan hütete seine Schafe an den Ufern von El Furat in der Mittleren Türkei. Er war ein ruhiger Mann ohne Phantasie, mit seinem Hirtenberuf zufrieden und noch mehr mit dem Opium, das seine Frauen anbauten. Weder wußte er, noch kümmerte es ihn, daß der träge Fluß, an dem er entlangschritt, einst Euphrat geheißen hatte und daß seine Ufer die früheste Kultur der Menschheit gesehen hatten. Was vergangen war, war vergangen; was die Zukunft bringen würde, stand an ihrer Stirn geschrieben. Er wußte nichts von Schiwa, doch er hatte Gerüchte gehört über Kästen, die in der Luft herumflogen und Bilder einfingen.

Zauberei, dachte er. Von Zauberei kommt nie was Gutes. Als Knabe hatte er am Feuer gesessen und den Geschichtenerzählern zugehört. Die sprachen oft von Wundern, so groß, daß sie nur auf Zauberei beruhen konnten, so großer Zauberei, daß sie nur böse sein konnte.

Es wurde heißer. Langsam, mit gesenkten Köpfen, trippelten die Schafe vorwärts. Ein warmer Wind kam aus der Syrischen Wüste und brach sich weit hinten am Ost-Taurus. Toghrul setzte sich in den Schatten eines Felsblocks, und die Lider wurden ihm schwer.

Heute würden wieder eine Anzahl neuer Bälle eingedickten Roh-Opiums zum Verkauf und Verbrauch bereit sein. Seine dritte Frau war verhältnismäßig neu, noch geschmeidig und feucht. Seine beiden Söhne wurden groß und stark. Er war reich und zufrieden.

Der Meteor zerriß den Himmel mit donnerndem Krachen. Das Blöken der Schafe und sein eigener Schrei gingen im Donner unter. Im Osten ein blauweißer Lichtblitz. Dann nichts mehr.

Blinzelnd starrte Toghrul Arslan in die Luft. Was war das für ein Ding? Die Ohren sausten ihm; sein rasches Hirtenauge sah Schafe am Boden liegen, andere schwankend im Kreise laufen. Mühsam stand er auf und vernahm das tiefe Grollen. Der Boden bebte und wurde ihm unter den Füßen fortgerissen. Felsbrocken prasselten den Hang hinunter. Er sah Blut im Grase, dann drehte sich die Welt nach oben, und er fiel, rollte weg, klammerte sich verzweifelt an die graugrünen Grasbüschel. Das Erdbeben hörte nicht auf. Der Donner war ohrbetäubend, doch der Schrecken noch um ein vieles beängstigender.

Nie wieder würde die Erde für Toghrul Arslan etwas Festes und Ewiges sein. Die Erdbeben seiner Jugend waren nichts im Vergleich zu diesem. Er dachte an seine dritte Frau, dort unten in der Hütte aus mörtellosen Steinen, und er weinte um sie.

 

Lily St. Germain streckte die ringgeschmückte Hand aus und winkte mit dem leeren Champagnerglas. Sofort griff José Villareal mit seinem Strahlendweißesten Lächeln nach der Flasche. Der Wind von Minorca her kräuselte die Seide des kleinen überdachten Gartenhauses. Der gutaussehende junge Maler goß ihr das prickelnde Getränk ein und stellte die Flasche in den mit knirschenden Eisstückchen gefüllten Kühler zurück; dann ergriff er ihre andere Hand. Sehr zart und doch voller Leidenschaft küßte er das feine Netz der Fältchen und hob seine großen Augen zu den ihren.

Doch ihr Blick war verschwommen, und José fluchte innerlich: kaum Mittag, und sie war schon borracho. Nicht der richtige Tag, um sie zu fragen, ob sie den wunderbaren neuen Lancia mit Alkoholmotor kaufen wollte. Allein die Luxussteuer für dieses Monstrum betrug mehr, als er in einem Jahr mit seinen trübseligen Bildern verdiente. Doch keiner dieser Gedanken war seinem hübschen Gesicht abzulesen. Es behielt den Ausdruck immerwährender, stillglühender Leidenschaft. Der stand ihm am besten.

Lily nippte an ihrem Sekt, löste ihre Hand langsam aus Josés Griff und langte nach einer Pflaume. Da wurden ihre Augen auf einmal ganz weit.

Betroffen von ihrer veränderten Miene blickte José ebenfalls aufs Meer hinaus. Über den nahen Dächern Mallorcas sah er einen Streifen weißglühenden Lichts, dann blühte die Helligkeit noch stärker auf. Ein mächtiger, erst bläulichweißer, dann grauweißer, dann rotgelber Ball wuchs über dem nördlichen Horizont empor.

»Jesus Maria! Was war das?«

Lily St. Germains Lider flatterten, ihr vernebelter Geist bemühte sich zu fassen, was das bedeutete – aber das konnte doch nicht wahr sein! Hier würde doch kein Meteor einschlagen, hier auf Mallorca doch bestimmt nicht!

Sie starrte auf die hochsteigende Dampfwolke und fühlte, wie Josés Finger sich in ihren Arm bohrten. »Sieh doch nur! Mutter Gottes – sieh doch!« Draußen am Horizont, unter der noch immer aufsteigenden Wolke, zeichnete sich eine Linie ab.

Flutwelle!

Lily fuhr auf, warf den Champagnerkübel um. Die Flasche zersplitterte auf den heißen Fliesen, Schaum floß um ihre Füße, durchtränkte die Kante des Perserteppichs.

»Nein!« kreischte Lily. Sie packte José, so daß er das Gleichgewicht verlor. Er schüttelte sie ab und rannte zur Treppe.

Nur weg von hier!

Er rannte die Stufen hinunter, stieß den schwach protestierenden Grafen beiseite. Angela Fontaine stieß er direkt vor ihren berühmten Busen und rannte zum Tor. Er riß das schwarze eiserne Gitter auf und stolperte hinaus auf den Kiesweg. Schon konnte er hören, wie die Flut donnernd näherkam. Er rannte zum Strand. Ein Boot, ein Floß, irgend etwas, das schwimmt! Am Leben bleiben!

José raste an Menschen vorbei, die offenen Mundes, mit den Fingern zeigend, dem Donnern entgegenstarrten. Er schlug einen Bogen um ein Touristenpaar und wandte sich nach Osten. Er stolperte und fiel, fluchte, als sein Ellbogen auf das Kopfpflaster schlug und rappelte sich wieder hoch. Er hielt sich den Arm, wagte nicht hinzusehen, rannte weiter.

Lily St. Germain stand an der Brüstung; ihr Modellkleid von Falcone war zerrissen, sie hielt eine Flasche Dom Perignon in der Hand. »Komm ran, du lausiges Miststück!« kreischte sie, hob die Flasche, schleuderte sie in die See und verlor dabei das Gleichgewicht. Stolpernd fiel sie rücklings hin, doch glücklicherweise in ein Nest von Kissen.

Das Donnern war jetzt ohrbetäubend. Sie lag unter der Höhe des Geländers und konnte die haushohe Welle nicht sehen. »Geschieht dir ganz recht, du Bastard!« schrie sie in den Himmel. »Davon kriegt Barcelona auch was ab, du mieser Hurenbock!« Sie zog sich in kniende Stellung hoch und blickte nach Nordwesten. Sie wollte sehen, wie es ihren Ex-Gemahl in Barcelona erwischte, doch die spanische Stadt lag über hundert Meilen entfernt unter dem Horizont.

Aber die Woge sah sie kommen. Sie lachte, ein leeres Lachen mit zusammengepreßten Lippen. Sie würde dem Tod entgegentreten, wie sie im Leben so vielem entgegengetreten war: betrunken.

Die Wasserwand stürzte über der Insel zusammen, begrub sie unter Schaum und zerschmetterte alles Menschenwerk. Als die Wasser endlich abflossen, war die fünfundsechzig Kilometer lange Insel blankgefegt. Nur noch ein paar Felsen und ein paar Stümpfe – vielleicht Beton.

Hoch oben in den Bergen trieb eine Champagnerflasche in einem Teich. Das Etikett war abgeweicht, das Glas zerschrammt. Dann flog der Kork heraus, eine goldgelbe Flüssigkeit sprühte in den Teich, vermischte sich und verschwand. Die Flasche drehte sich, lief voll, versank.

 

Die Allgemeinheit reagierte erst mit Überraschung, dann mit immer stärkerer Empörung. Die Wissenschaftler hatten doch vorausgesagt, daß es noch Wochen dauern würde, bis es wirklich schlimm kam. Auf diese Tatsache hatte sich die Welt eingestellt, und nun fuhr dieser neue Schlag durch die dünne tröstende Decke, in die die meisten Leute sich und ihre Leben eingewickelt hatten. Die da oben werden schon irgend etwas tun, hatten sie einander versichert; die Regierung wird ihn aufhalten. Jetzt fühlten sie sich irgendwie betrogen. In jedem Parlament wurden ärgerliche Fragen gestellt, ein neuer Ton von Mißvergnügen klang bei den Medienkommentatoren auf, es gab Rücktritte und Amtsniederlegungen zu Hunderten und hitzige Diskussionen an den Straßenecken.

Die technische Erklärung war einfach, aber für die Medien zu umständlich. Man brauchte eine Antwort – eine schnelle, beruhigende Antwort. Offizielle und inoffizielle Sprecher lieferten weitschweifige Kommentare.

In seiner langen Geschichte hatte Schiwa vermutlich in seinem Orbit Fragmente hinterlassen, Steintrauben, die langsam vom Zentrum der Masse abgezogen wurden, der schwachen Gravitationsverlockung von Sonne und Planeten folgend. Ein Teil dieser Himmelsscherben mochte in Schiwas Orbit treiben, doch ihm etwas voraus, mit den gegenwärtigen technischen Mitteln so gut wie unerkennbar.

Die langsame Hinneigung von Schiwas Orbit auf die Ekliptik hatte diese Trümmer in das Schwerefeld der Erde gebracht. Im schwarzsamtenen Meer des Weltraums hatten die Teleskope, die nach Schiwa suchten, diese Stücken vollkommen verfehlt. Sie waren ja schließlich – nach astronomischen Maßstäben – relativ klein.

Dies erklärte ein Sprecher des Griffith-Observatoriums mit dürren Worten vor der CBS-Kamera und löste damit vielerorts blinde Wut aus. Nur ein paar Stunden später brannte eine Bande Teenager unter den Augen der gleichen Kameras das Observatorium völlig nieder.

Aber diese Steine waren nur hors d’oeuvres, Schiwas Samen. Der Große Zerstörer war noch Wochen entfernt.

Abecher im östlichen Tschad, 21.506 Einwohner, verschwand in einem Flammenpfuhl.

Stowall, Mississippi.

Ein winziges Städtchen, Piapoco im weiten Hochland von Columbien, wurde fast direkt getroffen. Es dauerte Wochen, bis jemand auch nur etwas davon erfuhr.

Nancy Darrin, unterwegs von Houston nach Florida, wurde von einer Bande tobender Prädestinenser vergewaltigt und verblutete in einem Sumpf bei Good Hope, Louisiana.

 

»Colonel Morgan auf Leitung 3, Sir.«

Bradshaw nahm das Handaggregat auf und drückte den Knopf. Der Sichtschirm flimmerte auf, der grauhaarige Offizier erschien im Bilde. »Colonel?«

»Mr. Bradshaw, wir haben die endgültige Schadensmeldung zur Desertion von McDonnell und Stanley. Ich bedaure, melden zu müssen, Sir, daß neun Rollen Computerbänder fehlen sowie vier Handbücher, drei integrierte Blocks – «.

»Ach du lieber Gott!«

»Wir suchen natürlich alles durch, Sir, und finden vielleicht noch die vermißten Artikel…«

»Wenn sie nicht alles vernichtet haben, was wahrscheinlich der Fall ist.«

»Wir sind allerdings zur Zeit ein wenig unterbesetzt. Ich hatte ein verstärktes Regiment aus Fort Bragg erwartet, aber da ist etwas schiefgelaufen, und ich habe nur eine knappe Kompaniestärke bekommen.«

»Wenn sie die Bänder mitgenommen oder vernichtet haben, dann haben sie auch gewußt, welche Bänder sie nehmen müssen, Colonel. Ich kümmere mich sofort persönlich darum.«

»Gewiß, Mr. Bradshaw. Wenn Sie mich brauchen, ich bin im Hubschrauber. Red Leader IV.«

»Danke, Colonel.«

Bradshaw setzte den Apparat nieder, und der Schirm wurde dunkel. Er seufzte, dann drückte er die Schultern zurück und starrte Lyle Orr finster an. »Na – worauf warten Sie? Scheren Sie sich rüber in Ihr Büro und starten Sie Gegengerüchte. Säuberungsaktion ist nicht. Verstanden?«

»Jawohl, Sir.« Er zögerte. »Sage ich damit die Wahrheit, Chuck, oder schwindle ich?«

Bradshaw sah auf seinen Schreibtisch hinunter. Er drehte die Hand um und blickte in die Handfläche, als stände die Antwort dort geschrieben. »Keine Ahnung, Lyle. Ich hoffe nicht.«