21. Mai: Kollision minus 4 Tage, 18 Stunden
Verteidigungsminister Sam Rogers, ein schon älterer Mann, trommelte ungeduldig auf der Platte des Konferenztisches und blickte sich nervös im Lagebesprechungsraum um. Er litt ein wenig unter Klaustrophobie, und so tief unter der Erde zu sein, war ihm unangenehm. Er sah auf seine Uhr und verglich sie mit der großen auf die Zeitzone eingestellten Wanduhr. Dann sah er zu McNellis, dem Außenminister. Er beneidete McNellis um seine äußere Ruhe, obwohl er wußte, sie war nur Fassade, die professionelle Maske, die man bei diesem Spiel braucht.
Rogers wandte sich in die andere Richtung und faßte einen der zahlreichen Präsidentialadjutanten ins Auge, die sich immer noch im Weißen Haus herumtrieben. »Higby, wo ist der Präsident?«
Der junge Mann telefonierte soeben. Er nahm die Frage mit einem bestätigenden Blick zur Kenntnis, sprach einige leise Worte in den Apparat, lauschte und gab Rogers zur Antwort: »Auf dem Wege hierher, Sir.«
»Auf dem Wege, auf dem Wege«, brummelte Rogers und wandte sich McNellis und dem General Sutherland zu. »Vakuum an der Spitze, meine Herren. Den ganzen Tag sitzt er herum und spielt sein gottverdammtes Banjo, und nachts…«
McNellis sah ihn gelassen an. »Das ist eine kaum aufrechtzuerhaltende Unterstellung, Sam. Was Mrs. Carr betrifft, so ist gar nichts dagegen zu sagen, finde ich. Muß doch höchst entspannend wirken.«
Sutherland räusperte sich und richtete sich steif in seinem Sessel auf. Seine fundamentalistischen Ansichten über Sex, Politik und Moral waren bekannt. Die beiden Minister ignorierten ihn; für sie war er Angestellter, wenn er auch vier Sterne hatte.
»Aber das Banjo, um Christi willen«, jammerte Rogers. »Ich bin mit ihm durch dick und dünn gegangen – aber wenn das und seine Affäre mit dieser Witwe publik wird – dann gnade uns Gott!«
»Senator Leland ist der einzige, der den Nerv hätte, davon Gebrauch zu machen«, wiegelte McNeill ab. »Die eine Hälfte der Nation betet, und die andere treibt Unzucht – unter diesen Umständen glaube ich kaum, daß es ihm allzusehr schaden wird.«
»Immerhin«, setzte Rogers wieder an, doch Higby unterbrach ihn: »Entschuldigung, meine Herren, aber der Präsident kommt.«
Die drei Männer wandten sich der Türe zu. General Sutherland schob seinen Sessel zurück, um leichter aufstehen zu können. Nicht dem Mann, sondern der Präsidentschaft hatte er Ehre zu erweisen. Sie hörten, wie der Lift aufging, und gleich darauf kam der Vorhutmann des Sicherheitsdienstes herein. Ihm folgte der Präsident. Rogers hielt nach Barbara Carr Ausschau, doch sie war nicht dabei. Die Secret-Service-Männer verließen den Raum wieder und bezogen draußen vor der Tür Posten. Die drei Präsidialadjutanten versuchten, möglichst dienstlich und verläßlich auszusehen.
Gemessen nahm Knowles Platz und legte die Hände flach auf den Tisch. »Also dann, bringen wir’s hinter uns.«
Myron Murray trat mit mehreren Mappen ein und blieb respektvoll an der Tür stehen. Knowles wandte sich an Rogers. »Sam?«
»Folgende Lage, Mr. Präsident: Alpha ist fast auf Position. Noch circa zwei Tage. Omega dicht dahinter. Aber in Cape ist alles durcheinander. Der nächste Abschuß – wenn wir noch einen machen müßten – könnte frühestens in sechs Tagen erfolgen. Vandenberg ist startklar, aber da ist nichts. Wir sitzen in der Klemme.«
»Also nichts Neues auf diesem Sektor«, sagte Knowles und sah McNellis an.
Der Minister des Äußeren räusperte sich. »Sir – die ganze Welt ist rein verrückt. Die Schäden gehen in die Milliarden. Bei uns ist es noch mit am besten, glaube ich. Aber Kerle wie dieser Bruder Gabriel, wie Simon Buckler, wie die Prädestinanten oder die Nachweltler richten den eigentlichen Schaden an. Schiwatänzer und Gesinnungsgenossen – das ist bloße Weltuntergangseuphorie; aber die Gabriels und ähnliche Aktivisten zerstören bewußt unsere gesamte Zivilisation. Es wird eine lausige Arbeit werden, die Dinge nachher wieder in den Griff zu bekommen.«
»Wenn es ein Nachher gibt«, murmelte Knowles. »Und Sie, General?«
Der Offizier stand sozusagen im Sitzen stramm. Er schlug auf die dicke Aktentasche, die vor ihm auf dem polierten Tisch lag. »Die planmäßig erste Phase der Evakuierung hat noch nicht begonnen. Immerhin ist ein Teil des Schlüsselpersonals auf die vorgesehenen Posten verlagert worden. Der Vizepräsident befindet sich in der Colorado-Anlage, ebenso zwei Drittel des Senats und des Kongresses. Die anderen haben sich nach Hause begeben oder…« Geniert brach er ab.
Knowles nickte. »Ja, oder huren in Hotels mit den Sekretärinnen herum… ich weiß schon. Weiter!«
»Wir warten auf Ihre Anweisung zur Aktivierung dieses Planes, Sir. Das Kommunikationscenter ist…«
»Wer gehen will, soll gehen«, unterbrach Knowles. »Das habe ich bereits gesagt. Ich bleibe. Murray, was haben Sie?« Der schroffe Ton des Präsidenten ließ keine Einwände zu. Murray brauchte einen Moment, um zu antworten.
»Mr. Präsident, eine Angelegenheit von höchster Priorität: Das Thales-Center – das ist die Computeranlage der NASA in Boston – ist durch den Bostoner Einschlag beschädigt. Die Notstromanlage ist ausgefallen, und sie haben… hm… einer nahe gelegenen Klinik den Strom weggenommen.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah Knowles seinen Assistenten an.
»Wie das?«
»Mit der… äh… Unterstützung einer Einheit der Nationalgarde, Sir. Es liegen zahlreiche Beschwerden, Anklagen und so weiter vor, die auch vollkommen berechtigt sind, aber…«
»Weiter, Myron.«
»Tja, Sir, wenn die betreffende Anlage keinen Strom hat, kann sie Alpha nicht mit den nötigen Navigationsdaten versehen. Die Tatsache, daß eine Anzahl Todesfälle eingetreten sind, weil…«
»Ja, ja, aber was wird getan, damit Strom herankommt?«
»Die NASA fliegt Notstromaggregate ein, Sir, aber die ganze Stadt ist kaputt. Die Armee hat alle Hände voll zu tun, die Nationalgarde ist über das ganze Stadtgebiet auseinandergezogen.«
»Soll das heißen, Armee und Luftwaffe und Gott weiß wer sonst noch können keinen Strom nach Boston bringen?« knurrte der Präsident.
»Sie versuchen es ja, Sir«, entgegnete Murray, »aber der Brand und das furchtbare Durcheinander… na ja, wir haben Meldung, daß ein Armee-Hubschrauber Bruch gemacht hat, und ein zweiter konnte nicht einmal das Center finden. Praktisch die ganze Stadt steht in Flammen. Bei dem Wind kommt das Feuer auf das Stadtzentrum zu…«
»Schon gut – machen Sie, was zu machen ist«, sagte Knowles und stand auf. »Sparen Sie weder Mühe und Kosten und so weiter. Wenn dieses Dingsda ein so lebenswichtiges Kommunikationsinstrument ist, muß es funktionsfähig sein.«
Er wollte gehen, doch General Sutherland sprach ihn ziemlich scharf und ungeduldig an: »Sir!«
Unter Knowles’ dunklen Brauen funkelte es gefährlich. »Ja – was haben Sie?«
»Sir, der Plan…«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt, General… Haben Sie nicht zugehört?«
»Der General hofft, Sie hätten es sich noch einmal überlegt, Sir«, warf Myron dazwischen.
»Der General fällt mir auf die Nerven«, sagte Knowles, ohne den Blick von dem bedauernswerten Offizier zu wenden. »Überlegen Sie doch mal, General Sutherland: In ein paar Stunden hat Alpha Kontakt mit Schiwa und wird diesen verdammten Steinklotz entweder unschädlich machen oder nicht. Ob ich nach Colorado gehe oder hierbleibe, spielt dabei gar keine Rolle.«
»Sir, das war und ist nicht der Sinn des Evakuierungsplanes. Es geht um die Bewahrung der Präsidentschaft, um die Führungskontinuität, um…«
»Ja, ja«, unterbrach Knowles, »wir müssen das doch nicht immer wieder durchkauen. Myron hat mich genügend damit genervt und hat sogar… Mitglieder meines Stabes damit angesteckt. Gehen Sie nur ruhig hin, General. Wer mitgehen will, den nehmen Sie mit. Hoffentlich bleibt wenigstens ein Koch hier, aber wenn nicht, dann ist es auch noch so. Ich konnte früher ganz gute Omelettes und Stews machen, und das werde ich wohl auch jetzt noch können.« Knowles stieß den Daumen nach oben. »Dieses Gebäude da oben ist das Haus des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ich muß zu Hause sein, wenn wir Gäste haben, erwünschte oder unerwünschte. Und jetzt will ich nichts weiter davon hören.« Knowles blickte über Sutherland hinweg auf Higby. »Bleiben Sie, Higby?«
»Äh… jawohl, Sir.«
»Gut. Wenn Mr. Murray mitgeht, können Sie seine Stelle haben.«
»Ich gehe nicht mit nach Colorado, Mr. Präsident«, sagte Murray energisch.
»Doch, gehen Sie. Reed hat Ihre Erfahrung nötig. Wer sonst kann diesen Federfuchser bei der Stange halten? Also, meine Herren, es war nett.« Knowles wandte sich um und ging raschen Schrittes hinaus.
Die Alleingelassenen setzten sich wieder. »Kapitän der Titanic«, sagte Rogers. »Er denkt, er ist der Kapitän von der verdammten Titanic.«
»Seine Entscheidung«, murmelte McNellis.
»Nun, meine Herren, meine Entscheidungen sind begrenzt, aber klar«, stellte General Shuterland fest. »Die offizielle Evakuierung beginnt heute um 16.00 Uhr. Hubschrauber für den Transport nach Edwards landen in Abständen von drei Minuten auf dem Rasen südlich des Weißen Hauses. Nur das Allernötigste an Gepäck und Akten ist mitzunehmen. Gegen 15 Uhr kommen Lastwagen und holen die Sachen ab. Ich habe zweiundzwanzig CN 5 in Edwards startbereit. Die bringen alles, Personen und Gepäck, zur Ent Air Force Base, von wo aus der Weitertransport zur Teller-Anlage erfolgt.« Er stand auf und nahm seine Aktentasche unter den Arm. »Meine Herren…!« In straffer Haltung ging er hinaus.
Eine Weile blieb es still. Im Lagebesprechungsraum – man sah und hörte es – herrschte lebhafte Tätigkeit. Myron Murray blickte Higby an, der tief in Gedanken zu sein schien. »Gehen Sie mit?« fragte er McNellis und Rogers.
»Wäre schön blöd, wenn ich’s nicht täte«, erwiderte Rogers, »ich will hier raus.«
»Kein Grund anzunehmen, daß Teller sicherer ist als hier«, gab McNellis zu bedenken.
»Teller ist eine Festung«, sagte Rogers ärgerlich, »atomsicher gebaut…«
McNellis zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich bleibe hier.«
Auch Rogers zuckte die Achseln und stand kopfschüttelnd auf. »Hab schon immer gefunden, daß der da ’n bißchen komisch im Kopf ist«, sagte er.
»Und Sie, Murray?« fragte McNellis.
»Ich bleibe.« Er sah Higby an, dessen Miene sich nicht verändert hatte. »Tut mir leid für Sie, Bruce.«
»Ist schon gut, Mr. Murray«, entgegnete dieser. »Ich werde dann losgehen und die Befehle des Generals weitergeben.« An der Tür blieb er stehen.
»Hm – viele werden schön froh sein, daß sie hier wegkommen.«
»Ja«, sagte Murray nur. Higby wollte etwas erwidern, schwieg aber und ging.
Murray und McNellis blieben noch sitzen, bis die beiden Adjutanten, die bisher nichts gesagt hatten, draußen waren. Murray seufzte. Ich muß noch mal mit Barbara Carr sprechen, dachte er; es gibt noch eine Chance.
»Blühen eigentlich die Kirschbäume?« fragte McNellis.
Leise überrascht blickte Murray auf. »Keine Ahnung. Ich hatte… äh… zu tun.«
McNellis seufzte resigniert. »Bin gestern dran vorbeigefahren und hab’s nicht gesehen – stellen Sie sich bloß mal vor! Weiß nicht, ob’s gestern oder voriges Jahr war, daß ich sie habe blühen sehen. Und dabei sehen sie doch wunderhübsch aus, wenn sie blühen, hm?« Murray nickte. »Wir müßten auch so einen Kirschblütentag haben wie die Japaner, finden Sie nicht auch, Murray?«
Murray hatte gar nicht hingehört, aber er nickte wieder. Warum läßt der Präsident nicht vernünftig mit sich reden? dachte er. Es war einfach Wahnsinn hierzubleiben, wenn man wußte, was alles passieren konnte.