9. August: Kollision minus 9 Monate, 17 Tage
Keuchend, mit flammenden Augen und festgeballten Fäusten stieß Lisa Bander hervor: »Carl, es muß doch noch andere Möglichkeiten geben!«
Mit dem Ausdruck übertriebenen Mitgefühls wandte er ihr sein gutgeschnittenes Gesicht zu. »Oh, warum denn? Wenn die Sowjetbombe richtig plaziert wird, lenkt sie Schiwa ab. Wir haben doch immer akzeptiert, daß sich ein gewisses Quantum von Meteorschäden nicht vermeiden läßt. Die Anzahl der kleineren Asteroiden ist einfach zu groß, als daß wir sie alle ausschalten könnten. Schiwa ist das Prioritätsziel. Wenn er getroffen wird, ist die Hauptgefahr vorbei.«
»Aber wenn es nicht klappt?« fragte Lisa gepreßt. Schon seit Stunden drehte sich die Debatte im Kreise.
»Es wird klappen. Unter meiner Leitung wird es…«
»Moment mal«, unterbrach Dink Lowell, »unter Ihrer Leitung?«
Kalt, den Kleinen starr anblickend, erwiderte Jagens: »Wer wäre besser geeignet? Wer kennt das System besser?«
»Niemand bestreitet Ihre technischen Kenntnisse oder Ihre Erfahrung, Carl«, warf Diego Calderon beschwichtigend ein.
»Ich bin hier der Dienstälteste«, sagte der Blonde, nicht ohne Stolz.
»Um fünf Tage ungefähr«, murmelte Dink.
»Wie?« Carl fuhr herum und starrte ihn an. Die Wissenschaftler, die das Pech hatten, zwischen den beiden zu sitzen, taten so, als fände der Wortwechsel nicht statt. Sie sahen in ihre Notizen oder nachdenklich ins Leere oder tauschten genierte Blicke mit ihren Kollegen. Diese Astronauten waren schließlich diejenigen, die letzten Endes die eigentliche Arbeit zu erledigen hatten; stand die Planung einmal fest, mußte man ihnen einiges zugute halten.
»Ich finde, Sie sind nicht Superman, Carl, sondern auch nur diensttuender Astronaut«, antwortete Dink, ohne sich von Carls wütendem Starren beeindrucken zu lassen.
»Was Sie nicht sind, nicht mehr jedenfalls!«
»He!« rief Diego dazwischen und stand auf. »Wir sind ein Team, Carl, und das wissen Sie ganz genau. Ohne Bodenpersonal können wir nicht viel machen. Dink hat schon Saturn-Raketen geflogen, ehe Sie überhaupt im Raum gewesen sind – vergessen Sie das mal nicht!«
»Eben«, erwiderte Carl sehr von oben herab, »und grade darum ist es Zeit, daß neue und bessere Piloten den Dienst übernehmen!« Herausfordernd starrte er Dink dabei an.
»Warum zum Teufel ist Chuck noch nicht wieder da?« fragte Mort Smith in den Raum.
»Weil er dem Präsidenten und den Medien Händchen halten muß – darum!« antwortete ihm Lisa.
Susan Robinson richtete sich auf. »Also, ich für meine Person habe die Nase gründlich voll von diesem ewigen Im-Kreise-herum-Reden. Wir hier sind nicht befugt, über die Einsatzverteilung zu entscheiden; machen wir also Pause, bis Chuck zurück ist. Was haltet ihr davon?«
»Nein, damit verlieren wir nur Zeit«, wandte Lisa ein, »und wir haben keine Stunde übrig. Ich bin dafür, daß versucht wird, Schiwa mit der Sowjetbombe abzulenken… aber außerdem bin ich für eine multiple Reserver: so viele Zwanzig-Megatonner, wie wir hochkriegen, plus sämtliche jetzt im Orbit befindliche UN-Flugkörper.«
Carl zuckte die Achseln. »Bitte – vorausgesetzt, daß wir zuerst meine Methode probieren.«
»Ihre Methode?« fragte Diego überrascht.
»Ich war an der Entwicklung beteiligt«, antwortete Carl scharf und abwehrend.
Susan Robinson stieß einen Laut aus, der recht unhöflich klang und stand auf. »Ich geh jetzt ein bißchen ins Bett. Ihr auch?«
»Ich komme mit«, sagte Mort Smith und stand ebenfalls auf.
»Ho, ho«, machte Susan; es klang ablehnend, und als er rot wurde, gab es einiges Gelächter.
»So habe ich das nicht… ach, zum Teufel!« Mort Smith stapfte hinter ihr her. Einige Wissenschaftler gingen ebenfalls, wobei sie flüsternde Grüppchen bildeten. Diego, Lisa, Carl und Dink blieben.
Stumm saßen sie da, ohne einander anzusehen, unsicher, was sie tun oder sagen sollten. Lisa hatte ein ungutes Gefühl dabei. Kabbeleien innerhalb der NASA waren ihr stets unsympathisch gewesen. Aber Carl konnte das tatsächlich sehr gut.
Fragte man den »Mann auf der Straße« nach dem Namen eines beliebigen Astronauten, dann nannte er höchstwahrscheinlich Carl Jagens oder aber einen, der nicht mehr zum Programm gehörte, etwa einen der alten Merkur- oder Apollo-Männer. Vielleicht würde er Lisa Bander nennen, weil sie als die beste – wenn auch nicht die erste – Frau im Weltraum galt. Aber Carl hofierte ständig der Presse, und das gab ihm in den Augen des Publikums eine Vorrangstellung, die von seinen Astronautenkollegen nicht anerkannt wurde.
Jagens hatte sich seine Popularität verdient. Er hatte der Vier-Mann-Crew angehört, die in den Höhlen auf der erdabgewandten Seite des Mondes nach Eis gesucht hatte. Durch ein Mondbeben war die Höhlendecke eingestürzt, Carl war verletzt und einer der Astronauten getötet worden. Die Sauerstoffreserve befand sich draußen in dem spinnenbeinigen Hilfsschiff, ihre Behälter waren fast leer, und die Sprechfunkverbindung war abgerissen. Sie hatten wie die Teufel gearbeitet, doch Carl war der einzige gewesen, der klaren Kopf behalten hatte. Er verlor nicht die Nerven, sparte seinen Sauerstoff und hielt eine halbe Stunde länger durch; die anderen waren kollabiert, keuchend, blauverfärbt, halbtot. Auf diese dreißig Minuten war es angekommen. Carl arbeitete sich durch das Geröll, kam mit den Reservetanks zurück und rettete die anderen beiden Sterbenden.
Paul Morrisson war der erste Astronaut gewesen, der auf dem Mond bestattet wurde. Das war vom Fernsehen weidlich ausgeschlachtet worden, und Lisa war fest überzeugt, daß sich Carl bei der Aufnahme seinen Platz als Leidtragender sorgfältig ausgesucht hatte: vor den entrollten Fahnen der Vereinigten Staaten und der Vereinten Nationen. Die anderen Astronauten, von denen die meisten dem Programm nicht mehr angehörten, standen in der Runde; aber Carl wußte, wie sich ein Kameramann sein Bild aufbaut.
Lisa mußte zugeben, daß Carl es seiner Voraussicht bezüglich der verschiedenen divergierenden Entwicklungen in politischer, technischer und wissenschaftlicher Hinsicht zu verdanken hatte, daß er immer im Blickfeld der Öffentlichkeit – und der NASA – stand. Er war so populär, daß jedes Schiwa-Team ohne Carl Jagens von vornherein diskriminiert wäre, und daß ein Team, welches ihn nicht als Führer nominiert hätte, aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Kongreß-Komitee scharf unter die Lupe genommen werden würde.
Carl Jagens’ Medienmanöver hatten ihn bei seinen Kollegen keineswegs beliebter gemacht. Sie hatten nichts gegen seine anspruchsvolle, dominierende Natur – ihr Tätigkeitsfeld stellte Ansprüche und forderte Dominanz –, aber die Art, wie er diese Eigenschaften betätigte, war manchen unangenehm. Immerhin hatte er Bewunderer und Anhänger; nur war darunter kaum jemand, der direkt mit ihm zusammenarbeitete.
Lisa hob den Kopf und sah Carl an. »Na, Sie haben den Vorgang ja ganz schön polarisiert: entweder nach Ihrem Plan – oder todsicherer Mißerfolg.«
Carl lächelte sie an, erhob sich von seinem Sessel, ging zur Bühne, wandte sich um und blickte seine Kollegen an. »Es ist ganz einfach der Plan, um Schiwa zu stoppen.«
»Ein Plan«, verbesserte Diego.
»Es muß beim erstenmal klappen, Carl«, sagte Dink. »Ich meine, wir müssen noch eine Unterstützungsaktion fahren.«
»Einverstanden«, lächelte Carl. »Mein Team geht mit der Sowjetsuperbombe los, und Ihr Team…« er sah Lisa bedeutsam an – »macht die Aufräumungsarbeiten. Die größten Meteore des Schwarms, und so weiter.«
Lisa seufzte. »Aha«, sagte sie leise, »ein großer dramatischer Schlag, eine große entscheidende Explosion.«
»Ja«, nickte Carl sachlich.
»Wenn Sie Chuck das verkaufen können«, warf Dink ein.
Carl machte eine lässige Handbewegung, als sei dieser Punkt nicht so wichtig. »Es ist die einzige Möglichkeit, und Bradshaw ist intelligent genug, um es einzusehen. Wenn man alle die anderen Systemstudien…«
»Die sind noch gar nicht fertig«, sagte Dink scharf.
Carl zuckte die Achseln. »Ich war gestern in Boston und habe mit den Leuten gesprochen, die diese Studien erstellen. Mit denen, die wirklich Bescheid wissen. Daher habe ich eine ungefähre Ahnung, wie der Bericht aussehen wird, wenn er herauskommt.«
»Aha«, sagte Lisa so leise wie vorhin, »das Geheimnis des Erfolges: mit den richtigen Leuten sprechen… und zur richtigen Zeit.«
Ohne darauf einzugehen sah Carl auf die Uhr. »Ich gehe jetzt. Schlaft ein bißchen. Ihr werdet schon sehen, daß ich recht habe.« Er spendete ihnen ein breites vertrauensvolles Lächeln.
»Jawohl, Sir«, sagte Lisa militärisch, und Carl warf ihr im Hinausgehen einen ärgerlichen Blick zu.
»Ah ja, ein Held ist eben immer beliebt«, sagte Dink.
»Weißt du – Carl hat wahrscheinlich sogar recht«, murmelte Diego.
»Weiß ich, weiß ich«, erwiderte Lisa, »aber es ist eine Methode und nicht die Methode. Dieser Mann…«
»Paß auf, daß er dir nicht auf die Zehen tritt«, warnte Diego .
»Er kann schon im Team spielen«, sagte Dink, »aber es muß sein Team sein.« Seufzend stand er auf. »Will man lieber auch ’n bißchen schlafen. Wir Terminalsitzer brauchen unseren Schönheitsschlaf.« Er winkte ihnen zu: »Wiedersehen, Schönheit… Wiedersehen, Zorro«, quetschte sich durch die Stuhlreihen und ging hinaus.
Diego wandte sich um und sah Lisa an, die einige Reihen hinter ihm saß. »Na?«
»Was – na?«
»Dinner bei Culberson? Kerzenlicht? Und dann…«
Lisa lächelte müde und nickte. »Dinner ja, Colonel Calderon, aber hier in der Basis. Ich will früh nach Hause. Ich muß einen ganzen Stapel Bücher durcharbeiten. Material über die Sowjetbombe, die sie uns schicken wollen.«
»Hm, ja. Ich kann mir vorstellen, was das für eine Sorte Zweierbeziehung wird. Eine kleine Weltuntergangsklamotte, und schon kriegst du Migräne.« Verzweifelt warf er die Hände hoch. »Also wieder Kasino-Fraß?«
»Einige Zeit noch«, entgegnete Lisa, »acht Monate oder so, wahrscheinlich.«
Doch keiner von ihnen lächelte bei diesen Worten.