22. Mai: Kollision minus 3 Tage, 10 Stunden

 

Barbara Carr machte die Badezimmertür hinter sich zu und legte ihre Handtasche auf die Toilette. Gebückt wühlte sie darin und fand schließlich die Plastikröhre. Sie füllte ein Glas voll Wasser und ließ vier Tabletten hineinfallen. Mit einem Mundvoll bitterlich schmeckenden Wassers schluckte sie sie hinunter und lehnte sich dann an die Wand.

Sie hatte jetzt immer häufiger Depressionen, besonders nachts. Das Personal war keine Hilfe mehr. Wohin sie im Weißen Hause auch ging, sahen die Leute weg. Man antwortete ihr in kurzen knappen Sätzen oder mit überhöflicher Genauigkeit, so als müsse man sie mit besonderer Vorsicht behandeln. Domino-Theorie: Brach sie zusammen, dann brach auch der Präsident zusammen.

Sie musterte sich im Spiegel. Unsinn. Er war stark. Er mußte stark sein, und das wußte er. Aber gerade deswegen wurde auch der Druck, unter dem er stand, immer stärker. Nirgends konnte er sich entspannen, Dampf ablassen, die Öffentlichkeitsmaske ablegen.

Nirgends als im Bett. Da und nur da konnte er sich vergessen. Dort und nur dort leistete sie ihren Beitrag. Sie hielt ihn im Arm, besänftigte ihn und gab ihm Lust.

Der Mann, den sie nachts im Arm hielt, war ein anderer als der, den die Welt oder auch nur die Funktionäre des Weißen Hauses sahen. Ein Präsident mußte ein Führer sein, Beispiel geben, das Panier hochhalten. War der Führer nicht so, bekam das Volk Angst. Knowles war wie eine Festung. Doch sie sah die Risse im Gemäuer.

Er ging zu seinen Kabinettssitzungen und traf seine Entscheidungen, aber mehr und mehr verließ er sich auf den Rat und die Empfehlungen seiner Untergebenen, der Experten, Generäle, Makler der Macht. Doch in der Art, wie er sich des Nachts an sie klammerte, wie er sich in ihre Brust, in ihr warmes lustvolles Fleisch vergrub, lag etwas, bei dem es sie eiskalt überlief. Eine Verzweiflung war in ihm, eine Verfremdung, die jeden Tag stärker wurde.

Sie konnte nicht schlafen, und es gab niemanden, mit dem sie sprechen konnte, wenigstens nicht im Sinne eines ehrlichen Austausches. Ihre Bekannten waren so komisch zu ihr, so vorsichtig und präzis, daß sie davor zurückwich.

Überall waren die Nachrichten über Schiwa; man konnte ihnen nicht entgehen. Ständig kamen Boten, alle mit schlimmer Kunde: eine Stadt in Flammen, ein Kraftwerk zerstört, Aufruhr, Tod eines Freundes, oder irgendwo hatte sich ein Mächtiger umgebracht. Der Tod wurde zum trüben, monotonen Ritual, doch immer blieb er schlagkräftig genug, um einen krank zu machen und aus dem Gleichgewicht zu werfen.

Knowles hatte seine Stimmungen, und sie versuchte, auf sie einzugehen. Er konnte der scharfe, kurzangebundene Befehlsgeber sein, der ohne Zögern Entscheidungen über Leben und Tod fällte. Und er konnte der geile Bock sein, der nicht genug bekommen konnte. Und da war ein stiller, melancholischer Mann, dessen Augen auf einen fernen ungesehenen Horizont gerichtet waren. Aber am meisten Angst machte er Barbara, wenn er den Alleinunterhalter spielte.

Dann saß er auf dem Bett, klimperte auf seinem Banjo, sprach von den guten alten Zeiten, von seinen frühen politischen Triumphen, vergangenen Freuden, verstorbenen Freunden. Er lächelte viel, sprach oft sehr erregt, und immer endete es damit, daß sie es miteinander trieben wie zwei geile Teenager. Doch diese Stimmungen ängstigten sie, vielleicht weil sie sich von ihnen so angetan fühlte. Auch sie wäre gern ins Land Nirgendwo entflohen, sogar ins Niemals-Land, wo das Damoklesschwert nicht am Himmel hängt.

Sie konnte nicht schlafen, doch wenn die Erschöpfung sie niederzwang, dann träumte sie, und ihre Träume waren Alpträume. Schreckliches stieg aus der Tiefe hoch, begrub sie unter Symbolen und Blut. Sie erwachte in schweißnassen Laken, mit rasenden Pulsen, blind starrenden Augen. Nur die Tabletten, die der verständnisvolle Arzt des Weißen Hauses ihr gab, hielten das einigermaßen in Schranken. Und dann gab es wieder andere Tabletten, mit denen bügelte sie sich zurecht für die Stunden mit Knowles.

Sie wußte: Was sie tat, war wichtig. Es mußte sein. Ohne sie würde der Präsident bestimmt unter dem Druck in Stücke gehen. Jedesmal glaubte sie es ein paar Stunden lang, besonders wenn sie mit ihm im Bett lag. Er war wie ein Teenager, der den Sex entdeckt. Er konnte nicht genug kriegen, entzückte sich an jedem neuen Akt, jedem neuen Trick. Sie öffnete sich ihm völlig, verweigerte ihm nichts. Bei jedem seiner bizarren Wünsche lernte sie besser, ihr Denken auszuschalten.

Sie steckte die Röhre mit den Tabletten weg, nahm ihre Handtasche und ließ sie zuschnappen. Dann öffnete sie die Badezimmertür und trat in den hohen, bogigen Korridor. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich genau anzusehen, doch Knowles würde schon zufrieden sein. Er sah sowieso im großen ganzen das, was er sehen wollte.

Der Präsident, von zwei Sicherheitsbeamten gefolgt, kam den Korridor entlang. Barbara lächelte ihm zu, und er lächelte zurück, und sein Gesicht erhellte sich im Augenblick. Sie faßte den Türknopf, um ihr Gleichgewicht zu halten, und lächelte weiter. Vielleicht würde es heute besser sein. Viel Zeit war ja sowieso nicht mehr. Bald würde sich alles entschieden haben. Sie würde schon durchhalten. Wie schön würde es sein, wenn alles erst vorbei war. Richtig schön.

 

Eine Gewehrkugel prallte jaulend von der Betonwand ab, schwirrte gefährlich als Querschläger durch die Halle des Thales Center. Rußige Nationalgardisten sprangen in Deckung und griffen heftig fluchend nach ihren Waffen. Captain Hennessey kam tief gebückt aus dem Büro, das er sich als Gefechtsstand requiriert hatte, und durch die Fensterscheiben kamen weitere Schüsse.

»Thatcher! Was zum Teufel ist denn nun schon wieder los?«

Der hagere Corporal kam aus seiner Nische in der Sandsackbarrikade. »Leute in der Straße, Sir.«

»Leute? Was für Leute? Uniformierte? Aufrührer?« Er legte sich über die Sandsäcke und versuchte hinauszusehen. Dumpf schlugen weitere Schüsse in die Schanze, und auf dem Dach gab ein Maschinengewehr Dauerfeuer, das zunächst auf der Straße Ruhe schaffte. Aber es war dunkel, und die Schützen konnten fast überall stecken.

»Sind wohl Zivilisten, Sir.«

»Na großartig«, murmelte Hennessey. Er holte sein Sprechfunkgerät hervor und schaltete auf die Frequenz des Hauptquartiers. »Roter Drachen I, hier Tiger Charlie, bitte kommen!«

»Tiger Charlie, hier Roter Drachen I.«

»Roter Drachen I, melden Sie Colonel Dunnigan: Werden aus dem Süd-Quadranten von Zivilisten beschossen!«

»Tiger Charlie, hier ist…«

Dunnigans Stimme unterbrach: »Ich übernehme. Sind Sie das, Hennessey?«

»Jawohl, Sir.« Er verzog das Gesicht, denn mehrere Schüsse fuhren stäubend in die Sandsäcke. »Wir werden von Zivilisten beschossen, Sir. Sollen wir das Feuer erwidern?«

»Natürlich, Captain! Lebenswichtige Anlage! Muß um jeden Preis geschützt werden!«

»Jawohl, Sir.« Ein Sergeant ließ sich neben Hennessey auf ein Knie nieder, und der Captain bedeutete ihm durch Handzeichen, er solle die Straße unter Feuer nehmen. Der Sergeant nickte und eilte hinweg. Hennessey sprach wieder in das Gerät: »Sir, haben Sie eine Ahnung, was westlich von hier los ist?«

»Großfeuer, Hennessey. Wir haben die Bekämpfung eingestellt. Eventuell soll eine Schneise gesprengt werden, damit es sich nicht noch weiter ausbreitet.«

»Scheiße!« sagte Hennessey laut. Er hatte Hausbesitz dort im Westen. Seine nächsten Worte gingen in einer langen Salve der Gardisten unter. Auf der Straße ertönten Schreie.

»Das sind welche aus dem Hospital, Sir«, flüsterte Thatcher vernehmlich. Es war ihm anzuhören, wie weh ihm das tat.

»Colonel, ich rufe Sie wieder an. Tiger Charlie, Ende.«

»Hm, ja – wissen Sie das bestimmt?« fragte er den Corporal.

Thatcher nickte und wies auf die Straße. Dort lag ein Mensch mit dem Gesicht nach unten. Eine Frau. Sie trug den grünen Schwesternkittel. Ihr Blut war leuchtend rot.

»Warum? Warum schießen sie auf uns?« fragte Hennessey erregt und anklagend. »Sie erreichen doch nichts damit.«

Thatcher zuckte die Achseln. »Vielleicht wissen sie das nicht. Sie sind stinkwütend wegen des Stroms, Sir.«

»Schießt über ihre Köpfe«, rief Hennessey, doch seine Worte gingen in der Salve des 0.50-MG unter, das vom Dache her lange Streifen aus dem Straßenpflaster und den Fassaden fetzte. »Verdammt noch mal, Thatcher! Gehen Sie rauf und sagen Sie denen: Feuer einstellen!«

»Jawohl, Sir.« Gebückt ging der Corporal durch die Halle, rannte die Treppe hinauf ins Dachgeschoß. Von dort aus war die Straße besser einzusehen. Und er sah den Stadtbus mit den eckig aufgeschweißten Platten vor dem Kühler. Er drehte sich um und rannte die Treppe hinunter so schnell er konnte.

»Nein!« rief Hennessey, als er die Meldung hört. »Also, der muß aufgehalten werden. Wo ist Daily? Der hat doch diesen Scheiß-Flammenwerfer, oder…?«

»Tja – Daily ist weg. Wohin, weiß ich nicht. Vielleicht hat er Angst gekriegt, vielleicht haben wir ihn irgendwo verloren.« Thatcher zuckte die Achseln.

»Sergeant Vayne!« Hennessey winkte den kleinen schlanken Unteroffizier heran. »Suchen Sie den gottverdammten Flammenwerfer und stoppen Sie diesen Bus! Thatcher! Gehen Sie wieder aufs Dach! Die wollen wahrscheinlich die Türe einrennen. Oder er ist voller Benzin!«

Hennesseys Nachrichtenunteroffizier winkte. »Wir haben keine Verbindung mehr mit der Postenkette am Kabel! Nein, Moment, da ist…« Stirnrunzelnd hielt er inne, während Hennessey ungeduldig wartete. »Sir, Schütze Shanks ist dran. Er sagt, sie sind ausgetrickst worden… ich höre ihn schlecht… er ist…« Resigniert schüttelte der Funker den Kopf.

»Na schön!« knurrte Hennessey. »Eins nach dem anderen. Erst den Bus stoppen. Dann wird das Kabel kontrolliert!« Er zuckte zusammen und duckte sich, denn wieder schlugen Schüsse in die Betonwand. Er sah Wade Dennis geduckt beim Lift stehen und rannte zu ihm hinüber. »Was zum Teufel wollen Sie hier?«

»Was geht da vor?«

»Wir werden angegriffen, offenbar von…« Er duckte sich, denn von einem Abpraller an der Marmorwand sprühte Steinstaub über seine Schultern. »… von Ihrem freundnachbarlichen Hospital.«

»Wir haben keinen Strom mehr.«

»Weiß ich.« Geduckt wandte Hennessey sich um und wies auf die Straße hinaus. Dort fielen unregelmäßige Schüsse, und dann knatterte eine lange Salve des Maschinengewehrs auf dem Dach. Die beiden Männer warfen sich zu Boden, denn vereinzelt wurde zurückgeschossen.

»In zwanzig Minuten oder so müssen wir senden. Um Gottes willen, ich muß schon mit Taschenrechnern arbeiten!«

»Immer der Reihe nach, Dennis! Wir müssen…«

Wieder knatterte das Maschinengewehr auf dem Dach, langes, lauferhitzendes Strichfeuer. Hennessey fluchte. Dann hörten sie, daß die Geschosse auf Metall trafen und der Bus mit röhrendem Motor die Straße hinunter auf das Gebäude zukam. Mit den Vorderrädern quetschte er einen Leichnam breit und raste selbstmörderisch dem Tor entgegen. Wumm! kam es von der gegenüberliegenden Straßenseite, und das Innere des Fahrzeugs stand in Flammen. Der lange Bus verlor Fahrt, schleuderte an die Bordkante, rannte in ein ausgebranntes Auto und kam zum Stehen.

»Hat ihn mit der Bazooka erwischt, bei Gott!«

Dann flog der Bus in die Luft. Die Flammen blähten sich, die Karosserie zerbarst, straßenweit splitterten die Fensterscheiben, Metallteile flogen in alle Richtungen. Die Schockwelle riß eine Sandsackbarrikade um. Der Krach war ohrbetäubend. Glühendheiße Metallsplitter flogen durch die Halle, prallten von Wänden und Menschen ab. Ein formloses rauchendes Eisenstück nagelte einen jungen Soldaten an die Wand, weidete ihn regelrecht aus. Er rollte die Augen nach oben und starb.

»Diese wahnsinnigen Hunde!« schäumte Hennessey. »Wir müssen das Kabel wieder in Betrieb nehmen! Sie müssen den Posten am anderen Ende in eine Falle gelockt haben und…« Er hatte sich zu Dennis umgewandt. Ein glänzender Aluminiumstreifen ragte seitlich aus dem Halse des Mathematikers.

Hennessey konnte den Zusammenbrechenden gerade noch auffangen. Unter leisem Fluchen legte er ihn so vorsichtig er konnte auf den Fußboden. Wades Gesicht war totenbleich. Seine Augen waren starr, und seine Lippen bewegten sich schwach. Blut sprudelte aus seinem Mund. Hennessey riß die Mullbinde aus seinem Verbandspack und wickelte sie um die Wunde. Aber noch ehe er fertig war, war die Binde blutdurchtränkt.

»Sanitäter!« Eine junge Frau eilte von einem verbrannten Soldaten zu Dennis. Sachverständig, mit raschen und sicheren Händen übernahm sie die Versorgung. »Was ist mit dem Verbrannten?« fragte Hennessey und blickte besorgt in Dennis’ Gesicht.

»Tot. Drei Tote insgesamt. Vier, wenn wir den hier nicht schnellstens ins Hospital kriegen.«

»Aber…« Hennessey merkte, daß er in der Falle saß. Die vom Hospital waren schuld an seinen Verlusten. Die würden Dennis bestimmt nicht aufnehmen wollen. Zornrot im Gesicht stand er auf. »Den Teufel werden sie tun!« Er rief seine Offiziere und Unteroffiziere zu sich.

Laut Verlustmeldung hatte der Angriff der Hospitalbelegschaft elf Soldaten das Leben gekostet; fünfzehn waren verwundet, neun davon sehr schwer.

Plus Dennis.

Fünf Minuten später führte Hennessey einen Flügel des Gegenangriffs an, sein Oberleutnant den anderen. Sie gingen durch die Seitenstraßen vor, durch kleine Gassen, sogar durch Keller.

Hennessey steckte den Kopf aus dem Kellereingang auf der anderen Seite der Gasse hinter dem Hospital. Er sah die Reihe der Toten, die dort lagen. Die meisten waren Soldaten. Er erkannte die kleine Ellenby, die hübsche junge Brünette mit dem breiten Po, die in seiner Bank arbeitete. Die wird nun auch nicht mehr Sergeant, dachte er bitter.

Seine Männer drängten sich dicht hinter ihm. Rasch gab er seine Befehle. Bestimmt waren irgendwelche Wachen auf dem Dach; also schickte er fünf Mann hoch, die er instruierte, in Code zu sprechen, denn im Hospital hörten sie bestimmt über erbeutete Helmradios mit.

Ein paar Minuten später hörte er: »Oberdeck alles klar.« Schüsse waren nicht gefallen. Er wartete. Eine Minute verstrich. Dann kam neue Meldung: »Haben Sicht.« Das hieß, daß die Patrouille die Dachschützen auf dem Hospital entdeckt hatte, und Thatcher führte die erste Gruppe die Treppe hinauf und in langen Sprüngen über die Gasse. Ein Soldat trat auf eine bleiche Hand, die unter einer blutigen Zeltbahn herausragte, fuhr heftig zurück und fiel klirrend gegen die Ziegelmauer. Die Gruppe drückte sich an die Wand und rückte durch die dunkle Gasse weiter vor.

Hennessey gab der nächsten Gruppe das Zeichen. Mit dieser ging er selbst mit. »Zuschlagen!« murmelte er ins Mikrophon. Er hörte Schüsse von der anderen Seite des Hospitals. Dann wurde vom Dach über ihre Köpfe hinweggeschossen, während sie über die Gasse zum Notdiensteingang rannten. Ein Mann fiel hin, zwei andere stolperten über ihn. Sie kamen wieder auf die Füße, und das Schießen hörte auf.

Jetzt feuerte Hennessey auf Bewaffnete, die im Eingang auftauchten. Bei jedem Schuß sprang die Pistole in seiner Hand im Rückstoß hoch. Dann knallte und blitzte es von allen Seiten, dazwischen lange knatternde Maschinengewehrsalven. Jemand warf eine Handgranate mit Aufschlagzünder, und die Gestalten an der Tür stürzten zu Boden.

»Verdammter Wahnsinn!« fluchte Hennessey. Er sprang auf die Plattform, rutschte auf dem Blut aus, konnte sich aber grade noch auf den Beinen halten. Er warf eine zweite Handgranate. Sie rollte durch die Halle, detonierte und wirbelte einen Schneesturm von Papieren hoch. Noch lag das brennende Papier nicht wieder auf dem Fußboden, da brachte Thatcher auch schon seine Gruppe herein. Hennessey stapfte zum Haustelefon und blickte auf die Liste an der Wand. Er wählte 452, Verwaltungsbüro.

»H… hallo?«

»Hier spricht Captain Hennessey von der Nationalgarde. Ergebt euch sofort!«

»Aber…«

»Wo ist der Boß?« Mein Gott, war er müde, verbittert – alles ging jetzt nochmal von vorn los, gegen alle Vernunft und Anständigkeit. Bestimmt würde er vors Kriegsgericht kommen. Vernehmung. Notstand. Militärgesetz. Kriegsrecht. Er lehnte sich gegen die Wand. Waffenklirrend rannten seine Männer an ihm vorbei. Die kleine rothaarige O’Flynn grinste ihn dabei verstohlen an. Diesmal habe ich sie nicht gebraucht, dachte er. Na – kann ja noch kommen. Hübscher Körper. Macht der Krieg geil? Kommen daher vielleicht die Plünderungen und Vergewaltigungen? Aber bei mir – ich weiß nicht. Ob ich mal was einnehme? Später tut’s einem vielleicht leid, aber…

»Hier Doktor Curzon.« Der schroffe Ton riß Hennessey aus seinen Träumereien.

»Hier Captain Hennessey, Sie gottverdammter Mörder!«

»Hören Sie, Captain, ich habe diesen Angriff nicht gewollt! Ein Patient… seine Frau war im OP, und…«

»Sie sind hier der Chef, und Sie mußten schließlich wissen, was in Ihrem Laden vor sich geht!«

»Ich bin nicht aus dem OP herausgekommen, seit…«

»Dann hätten Sie die taktische Leitung jemandem übergeben müssen, der Zeit hat, sich verantwortlich darum zu kümmern!«

Curzon wollte etwas erwidern, aber Hennessey schnitt ihm das Wort ab.

»Diese ganze Sache ist eine sinnlose Vergeudung von Zeit und Menschenleben. Wir brauchen Ihren Strom, und wir kriegen ihn auch, Doktor! Es geht um mehr als um eine einzelne Klinik!«

»Captain Hennessey, wir…«

»Halten Sie den Mund! Ich habe Verwundete bei mir, und Sie werden sie gefälligst versorgen!«

»Ja natürlich, aber…«

»Kein Aber, Doktor!« Er knallte den Hörer auf und gab kurze Befehle über sein Helmradio, nahm Meldungen entgegen, stellte Posten auf. Er brach ab, als die Verwundeten kamen – auf Tragbahren oder hinkend, jedoch auf eigenen Füßen. Andere wurden von Kameraden gestützt, blutig und wirr, starren Auges, im schweren Schock. Hennessey sah Caroline Weinberg neben der Bahre, auf der totenbleich Wade Dennis lag. Das flache Aluminiumstück ragte aus dem hastig angelegten Verband.

Mit tränennassen Augen blickte Caroline zu Hennessey hoch. Ihr Mund war schlaff und hatte alle Form verloren. Hennessey mußte seine Frage zweimal stellen, ehe sie antwortete.

»Was?«

»Wieviel Zeit haben wir, bis Sie Ihre nächste Sendung machen müssen?«

»Oh… ach so.« Sie blickte auf die Uhr, blinzelte die Tränen weg und versuchte es noch einmal. »Äh, zehn Minuten.«

»Sind Sie sendebereit?«

»Ja. Aber wir haben keinen Strom.«

»Sie kriegen welchen. Ich habe jeden Mann angesetzt, den ich entbehren kann. Die Leitung ist nur am Generator unterbrochen. Das wird sofort in Ordnung gebracht. Gehen Sie lieber wieder ins Center.«

»Aber…«

»Hier können Sie doch nichts für ihn tun. Ich sorge dafür, daß er so schnell wie möglich in den OP kommt.«

»Äh… also gut.« Sie blickte auf den Bewußtlosen hinunter und berührte sanft seine blutige Wange. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte dem Ausgang zu, sprang von der Laderampe und eilte ins Center zurück.

»Bringt ihn auf die chirurgische Station«, befahl Hennessey den Trägern. »Setzt ihn als ersten in die Reihe, und laßt euch von niemandem was gefallen.«

»Jawohl, Sir.« Sie nahmen die Bahre auf und trugen sie weg. Hennessey lehnte sich gegen die Wand. Verdammter Krach hier, dachte er – schon wieder so eine Scheiß-Sirene! Stöhnen, Schreien, Befehle – Hennessey taumelte hinaus, in die Gasse; irgendwo mußte er sich den Knöchel gezerrt haben. Er setzte sich auf einen umgefallenen Müllkasten und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Es stank nach Ziegelstaub, Blut, faulendem Abfall. Er schloß die Augen.

Wo ist denn die Geilheit geblieben, fragte er sich. Alles weg. Einfach weg. Langsam zerschmolz die Welt um ihn. Träge öffnete er die Augen. Eben brachten Sanitäter noch mehr Verwundete. Alles kam ihm so fern und unwirklich vor. Sekunden später schnarchte er.

 

Die Krankenträger setzten Wade Dennis an der Wand ab, als zweite Bahre in der Reihe. Vor ihm war eine schwangere Frau mit einem Hüftschuß. Sie sahen einander an, die Träger und die Schwangere. »Muß ich sterben?« fragte sie.

Einer der Träger kniete sich bei ihr hin und zwang sich zu einem Lächeln. »Ach was – nein, natürlich nicht. Sie sind doch gleich dran. Die Ärzte hier sind großartig, wissen Sie. Meine Schwester hat hier ihr Baby gekriegt. Vor fünf Jahren. Ist prima gelaufen.«

»Ist hier ein Priester?«

»Hm – weiß ich nicht.« Fragend sah er seinen Kameraden an, der die Achseln zuckte. »Sieh mal nach, ja?« Der Mann nickte, sah sich um und ging weiter. »Er kommt gleich«, beruhigte der andere Soldat die Frau.

»Halten Sie mir die Hand?«

Er nahm sie. »Wo ist denn Ihr Mann?« fragte er, wußte aber sofort, daß er es lieber nicht hätte tun sollen.

»Tot. Vorgestern hat ihn jemand erstochen. Und dabei hatten wir weiter nichts im Laden als ein paar Zuckerstangen. Wir verkaufen Ansichtskarten, Schreibwaren und so. Nur ein par Zuckerstangen.«

Der Träger streichelte ihre Hand. »Ja, ja. Wird schon werden. Nur ein paar…«

Das Licht ging aus.

Scheppernd ließ jemand eine Flasche fallen. Fluchen und Schimpfen. Mit beruhigendem Murmeln hielt der Träger die Hand der Frau fest in der seinen.

Bei der Dunkelheit sah und hörte niemand, daß Wade Dennis wieder zu Bewußtsein kam. Er wollte sprechen, doch er konnte nicht. Irgendetwas stimmte mit seinem Hals nicht. Da war was drin. Er fühlte den Verband und fühlte etwas Metallisches mit scharfer Kante. Kraftlos zupfte er daran, doch dabei wurde ihm übel. Warum war alles so schwarz? War er tot? Er hörte Menschen, aber er sah nichts. Doch, da war Licht, ein paar Streifen Licht. Vielleicht würde ihm jemand helfen. Er wollte rufen, aber da war immer noch das Ding in seinem Hals. Er tastete danach, alles tat ihm so weh, und er fühlte sich so schlapp.

Nur raus mit diesem Ding aus seinem Hals! Er wollte ihnen sagen, daß er senden mußte – an Alpha! Er zerrte an dem Metall, aber der Verband hielt es fest. Warum half ihm niemand? Er war so kraftlos. Ihm war so kalt.

 

Als die Lampen wieder angingen, lächelte der Krankenträger der Frau zu. »Sehen Sie? So, gleich kommen Sie dran, ja?« Er stand auf, vertrat sich die Füße, spürte etwas Klebriges und sah hinunter: Er stand in einer Lache hellroten Blutes.

Er wandte sich zu Wade Dennis und erstarrte. Es war sein Blut. Er war im Finstern verblutet, während mit dem Strom denen im All die Botschaft gesendet wurde.

»Danke«, murmelte die Frau fast unhörbar. Der Krankenträger sah zu, wie man sie hochhob, und er lächelte auch – aber es war nur ein gespenstisches Wrack von einem Lächeln.

Der zweite Träger kam zurück. »Ein Priester ist da«, sagte er und trat über Wade Dennis’ Bahre. »Verdammt!« fluchte er leise, als er in die Blutlache trat. Verständnislos sah er hinunter. »Er kommt schon, der Priester.«

»Schaffen wir ihn lieber aus dem Weg.«

Der andere nickte; sie nahmen Wade auf und brachten ihn durch den Flur auf die Straße. Sie legten ihn neben einem Corporal von ihrer Einheit. Dann nahmen sie eine herumliegende alte Zeitung und wischten das Blut von der Bahre, so gut es ging.

Und dann gingen sie weitere Verwundete holen.