4. August: Kollision minus 9 Monate 22 Tage
»Dreißig Minuten, Mr. Präsident!«
»Danke, Steve«, erwiderte das Staatsoberhaupt und spendete dem Presse-Sekretär ein rasches Lächeln. Er saß in dem gemütlichen Privat-Büro neben dem viel größeren Oval Office und kam sich ein bißchen blöd vor, wie immer, wenn er Make-up trug. Doch wie jeder andere moderne Politiker beugte er sich den Zwängen und Notwendigkeiten des Fernsehens. Es war immer noch die Hauptinformationsquelle für fast dreihundert Millionen Amerikaner und das beste politische Werkzeug, das zur Verfügung stand.
Mit ausdruckslosem Gesicht blickte John Caleb Knowles auf das Manuskript seiner Rede. Es war eine Fotokopie, eine von mehreren. Das Original war im Präsidential-Archiv verschwunden, eine Kopie hatte der Teleprompter-Ingenieur, ein weiteres war im Vervielfältigungsbüro zur Ablichtung für die Presse. Er blickte hinein und ärgerte sich, weil er grundsätzlich nicht von dem vorbereiteten Text abweichen konnte. Doch der war endlos von allen möglichen Adjutanten und Abteilungen überprüft worden. Sterilisiert worden, nannte er es im stillen.
Er lächelte dünn. Sehr wenig von der rollenden, noblen Rhetorik Roosevelts oder der beißenden Direktheit Trumans war noch darin. Oder von den erhebenden Ansprachen Kennedys. Alles poliert, keine rauhen Ecken und Kanten. Heutzutage mußten alle Reden durch feine Filter gehen: ethnische Erwägungen, Sicherheitspolitik, Außenpolitik, Parteipolitik. Noble Phrasen, Gradezu, Herz, Werte – all das war glattgebügelt.
Nicht daß ich ein Redner wäre, dachte Knowles. Aber ich habe ein paar gute Leute, die für mich schreiben. Und dann die Filterer. Er seufzte – ein großer, breiter, alternder, milder, amerikanischer Stimmensammler mit Magenkrämpfen und leerem Herzen.
Was hatte Eisenhower zu Kennedy bei dessen Amtseinführung gesagt? »Sie werden merken, daß es der Präsident der USA nie mit leichten Problemen zu tun bekommt. Sind sie leicht zu lösen, hat sie bereits jemand anders gelöst.« Und Truman: »Der Schwarze Peter bleibt beim Präsidenten.«
Knowles seufzte tief. Als Myron Murray hereinkam, blickte er flüchtig hoch, lächelte automatisch, aber schwach und senkte die Augen gleich wieder.
»Sie werden wohl sehr viele Zuhörer haben, Mr. Präsident«, sagte Murray. »Allerlei Gerüchte…« Er zuckte die Achseln.
»Der Kongreß?«
»Steht fast hundertprozentig hinter Ihnen.«
Knowles lächelte. »Fast? Senator Leland?«
Murray nickte. »Wie immer. Wenn Sie sagen würden: ›Morgen geht die Sonne auf‹, dann würde er Ihnen vorwerfen, Sie gingen auf Stimmenfang bei den Hähnen.«
»Ja, ja, die Politiker.« Der Präsident hob den Kopf und sah die bronzene Lincoln-Büste an. »Wissen Sie, Myron, Staatsmann sein ist schwerer als Politiker sein. Politik ist die Kunst, mit den Leuten auszukommen… aber der Staatsmann muß mit den Politikern auskommen.«
Murray lachte höflich. Er kannte den Ausspruch schon. »Möchten Sie irgend etwas, bevor Sie anfangen, Sir?«
»Was für ein Irgendetwas?« fragte Knowles mit milder Neugier. Murray war der traditionelle Mann mit der Trickkiste, ein Organisierer, und Besorger von hohem Niveau.
Murray faßte sich an die Stirn. »Was zu trinken – zum Aufmöbeln?«
»Sehe ich down aus?«
»Ja, Sir.«
Knowles nickte. »Sieht man’s so deutlich?« Murray schwieg. Der Präsident seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.« Murray verschwand unauffällig.
Sekundenlang starrte Knowles die Bronzebüste an. »Einsamkeit ist Alleinsein, wenn man nicht allein sein will«, flüsterte er, beugte sich vor und drückte auf einen Knopf auf dem Schaltbrett neben ihm. »Grace, wollen Sie bitte nachsehen, ob Mrs. Carr erreichbar ist?«
»Jawohl, Sir.«
Seufzend lehnte er sich zurück. Die Reichen und Mächtigen, so heißt es, sind einsam – vielleicht weil jeder ihr Freund sein will, dachte er. Die Spur eines Lächelns hob seinen rechten Mundwinkel. Einsamkeit ist das einzige, was alle haben, dachte er.
Es klopfte. »Herein«, sagte er.
Barbara Carr steckte den Kopf ins Zimmer. »Sir?«
»Kommen Sie rein, Barbara. Bitte. Setzen Sie sich zu mir?«
»Ja, Sir. Kann ich Ihnen was holen?«
»Nein.« Lächelnd schüttelte er den Kopf und deutete auf einen der Stühle. »Merkwürdig, wie das Weiße Haus möbliert ist«, sagte er. (Wollte er Konversation machen?) »Teuflisch traditionell. Direkt aus der Revolutionären Periode. Empire. Chippendale und so. Und in den alten Schreibtischen – Computer-Terminals.«
»Neuer Wein in alten Schläuchen, Sir?« Er lächelte höflich, aber müde.
»Sie sehen gut aus, Barbara. Alles klar?«
»Ja, Sir. Mr. Orr ist ein guter Chef.«
»Publicity und Presse-Beziehungen sind Werkzeuge wie andere auch, Barbara. Sie wollen von Fachleuten gehandhabt werden. Politische Macht wächst aus der Röhre des Fernsehens.«
Sie lächelte zu seinem kleinen Scherz und blickte sich um.
»Das Oval Office ist beinahe so etwas wie ein Salon geworden, nicht wahr, Mr. Präsident? Die ›gute Stube‹.«
Knowles zuckte die Achseln. »Die Leute erwarten das. Sieht offizieller aus. Im Befehlsausgabe-Zimmer würde ich besser wirken, oder auch im Staats-Studio, aber die Leute wollen es gerade von hier aus. Vom Sitz der Macht.«
Ihr Gesicht wurde ernst. »Was denken Sie, wie ihnen das gefallen wird, was Sie heute zu sagen haben?«
»Gar nicht. Wem soll das schon gefallen? Aber was kann man machen?« Wieder blickte er auf die Lincoln-Büste. »Die Amerikaner haben immer zusammengehalten, wenn es gefährlich wurde und sie das klar erkannten! Wir lassen uns nicht herumschubsen… weder von Diktatoren noch von Demagogen… auch nicht von Riesenmeteoren.«
»Wenn wir das nicht schaffen, schafft es keiner.«
Knowles nickte. »Wir haben die Vitalität und die Integrität und die Kraft dazu – da kann einer sagen, was er will.« Lächelnd blickte er sie an. »Barbara, es tut gut, Sie anzusehen. Ein wunderschönes Kleid – aber das habe ich schon mal gesagt.«
»Ja, Sir, aber trotzdem – danke sehr – nochmals.«
»Haben… Sie schon gegessen?«
»Nein, Sir, ich wollte warten bis nachher. Steve und ich dachten…«
Knowles machte eine ablehnende Handbewegung. »Nein, nein, heute nicht. Heute werden Sie mit mir speisen. Hochelegant natürlich – wenn ich damit fertig bin, den Lauf der Welt zu ändern. Philippe ist einer der besten Köche der Welt, und er kriegt weiter nichts zu kochen als Staatsdiners. Heute wollen wir… nein, entscheiden Sie das. Rufen Sie Philippe an und stellen Sie ein Menü zusammen, das Ihnen Freude macht.« Er lächelte, weil sie ein so erstauntes Gesicht machte. »Bitte seien Sie mein Gast. Ich…« Er hielt inne und sah zur Seite.
Jemand hatte den Kopf durch die Tür im Hintergrund gesteckt. »Fünf Minuten, Mr. Präsident.«
»Danke.« Er sah Barbara wieder an. »Nur wir beide, hm? Und ein bißchen kalifornischen Wein auch.« Er stand auf, und rasch machte sie sich bereit, ebenfalls aufzustehen. »Wissen Sie, daß jemand mal gesagt hat, die Amerikaner wollen unbedingt nur in der Zeitform der Gegenwart leben?«
»Das ist die einzige Zeitform, die wir haben«, antwortete sie lächelnd.
»Ist auch gut so, sonst hätten wir nicht das System, dieses Schiwa-Dingsda zu bekämpfen.« Er trat zur Tür und sah, wiederum lächelnd, zu ihr zurück. »Andererseits stellen Sie sich bloß mal vor, was wir für eine Kultur hätten, wenn es in New Orleans keine Bordelle gegeben hätte.«
Lächelnd und verwirrt blieb sie ein paar Sekunden lang stehen, dann schlüpfte sie durch die Tür ins Oval Office. Licht- und Fernsehkabel wanden sich schlangengleich über den Fußboden; das eine Ende des Raumes war blendend hell erleuchtet. Präsident Knowles saß in seinem mächtigen Schreibtischsessel hinter Lincolns von der Zeit gefurchtem Arbeitstisch. Ein Maskenbildner beugte sich über ihn; das Staatsoberhaupt saß geduldig und mit geschlossenen Augen da. Barbara trat hinter die Kameras und nickte Steve Banning, Senator Mathison und Kongreßmann Hopkins zu, die auf einem der Sofas saßen und ihr entgegenblickten. Sie hatte das Gefühl, zu sehr aufzufallen und trat ein Stück weiter zurück.
Gilbert McNellis, der Außenminister, sprach mit Michael Potter, seinem Kollegen von der Raumfahrt. Sie glitt an ihnen vorbei und merkte, daß sie automatisch leiser sprachen, als sie näher kam, und ihr flüchtig zulächelten. Sie blieb neben General James McGahan stehen, der sie mit knappem dienstlichem Kopfneigen grüßte.
»Dreißig Sekunden.«
Knowles richtete sich höher, nahm einige Papiere zur Hand und blickte direkt in die Kamera. Barbara beobachtete es mit einer gewissen Überraschung, obwohl sie es schon oft gesehen hatte: die Umwandlung John Caleb Knowles’ vom müden, sorgenvollen, ältlichen Politiker zum Präsidenten der Vereinigten Staaten – gelassen, intelligent, kraftvoll, gütig –, dem Manne, der zu bestimmen hatte.
Sie sah es im Monitor: das Image der Regierung, der traditionellen Regierung. Total: das Weiße Haus. Nah: Weißes Haus, Fenster des Oval Office. Großaufnahme: das Siegel des Präsidenten. »Meine Damen und Herren – der Präsident der Vereinigten Staaten.« Dieser Vorspann, so einfach, so schmucklos, hatte sie jedesmal erregt, ganz gleich, wer im Amt war.
Überblendung: John Caleb Knowles am Schreibtisch.
»Meine Mitbürger, ich bringe Ihnen heute Nachrichten, die beunruhigend, vielleicht sogar beängstigend sind…«
Douglas Kress drückte auf den Knopf der Fernsehschaltung in der Seitenlehne seines Armsessels, und das dreidimensionale Hologramm verschwand. Das puppenhausgroße Weiße Haus, von Scheinwerfern allseitig erhellt, faltete sich zusammen, wurde bläulich, löste sich auf. Auch die 3D-Bühne des Apparats verschwand hinter stoffverkleideten Schiebeplatten.
Kress starrte in den leeren Raum. Alles stürzt ins Nichts, dachte er. In der Stunde der großen Krisis vergeht alles Weltliche. Das zu Nichts werdende Weiße Haus war nur ein weiteres Symbol für das, was dieser Himmelsvorgang in Wahrheit für die Welt bedeutete. Der Herr hat Seine eigene Weise, diese Dinge fein, aber deutlich darzustellen. Nur die Ihm wahrhaft Hingegebenen sind imstande, diese Zeichen von Anfang an zu deuten.
Kress stand auf und reckte sich. Er fühlte, wie sein Rücken, seine Muskeln sich entspannten. Sie waren verkrampft gewesen, als er auf das 3D-Bild geblickt hatte. Jetzt sangen sie förmlich vor neuer Energie. Die Gnade des Wissens, dachte er. Die letzten, heiligen Tage waren angebrochen.
Er war ein großgewachsener Mann, gewohnt, in jeder Gruppe, in der er sich befand, zu dominieren, und er war sich seiner Physis bewußt. Auf einmal kam ihm dieses Wohnzimmer zu klein, zu eng vor. Merkwürdig, daß ihm das bisher noch nicht aufgefallen war.
Kress sah sich im Zimmer um. Die Worte des Präsidenten – armer, irregeleiteter Mensch, so offensichtlich seiner Unzulänglichkeit bewußt – gingen ihm noch durch den Sinn: eine Eröffnung, die er nicht einfach beiseiteschieben konnte, trotz der zweifelhaften Quelle, aus der sie stammte.
Seine Frau, seine Kinder schauten zu ihm auf. Wie immer warteten sie darauf, daß er sich als erster äußerte. Bleich lag das diffuse Licht der kleinen Lampen auf ihren emporgehobenen Gesichtern. Leere, Auslegung erwartende Gesichter. Er würde sie ihnen geben.
»Endlich ist unsere Aufgabe da«, sagte er, »unsere wahre Aufgabe.« Sie atmeten aus; ihre Gesichter waren noch immer leer. Er streckte seiner Frau die Arme entgegen. »Komm, mein armer Liebling!« Armes, verängstigtes Geschöpf – es war doch so klar! So vieles war ihm heute klar geworden und wurde immer klarer.
Er schloß sie in die Arme. Ein kleines schwarzes Mal an ihrem Unterkiefer fiel ihm ins Auge, schien größer zu werden. Körpermale, äußere Zeichen der Verstörung die sie fühlte. So war sie immer gewesen, nie wirklich frei von den Zwängen der Gegenwart, nicht imstande, über das Gewirr dessen hinauszusehen, was sie unmittelbar umgab. Dem Körperlichen verhaftet.
Er nahm sie fester in die Arme, um Selbstvertrauen in sie hineinzupressen, in das sterbliche Erden-Fleisch, das ihm anvertraut war.
Seltsam, was er jetzt alles sah! Wie sie den Hals reckte, um ihn zu küssen, wie zerdrückt ihr Körper war, wie flach ihre Brüste an seiner Brust lagen! So schwächlich, so leicht gebaut war sie. Er sah über sie hinweg auf seine Kinder. Hoffnung und Vertrauen malte sich auf ihren Gesichtern. Schon konnte er spüren, wie Kraft von ihm ausging und auf die überfloß, die bei ihm waren.
Er sah aus dem Fenster auf die häßliche, graue, von der Abenddämmerung erfüllte Straße, gestreift von den bleichen Lichtbalken aus den Rängen und Fenstern der Apartments. Er konnte die Leere fühlen, die da draußen auf ihn wartete, auf die summende frische Kraft, die er bringen konnte.
»Nun ist kein Zweifel mehr in der Welt«, sagte er, »wir sehen, was das bedeutet.«
Seine Frau löste sich von ihm, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Ihre Lippen öffneten sich, um einen Laut herauszulassen, einen zögernden, von Zweifeln durchsäuerten Laut.
»Sie werden versuchen, es aufzuhalten«, sagte er. »So denken diese Technokraten eben. Aber das können sie nicht. Es ist die göttliche Gerechtigkeit, von der wir immer gesprochen haben.«
»Gerechtigkeit?« fragte die Frau mit hohler Stimme.
»Die Reinigung, meine Liebe.«
Sein Sohn, sieben Jahre alt, richtete sich im Stuhle auf. »Dieser große Stein haut auf die Erde, Daddy? Du meinst, der Präsident kann ihn nicht aufhalten?« Der Junge war verwirrt. Nun, das ist nur natürlich, dachte Kress. Das Nachrichten-Hologramm hat dem Jungen den Blick für das Wesentliche verdunkelt.
»Diese schrecklichen Brände und das Massensterben, die wir in diesen Tagen gesehen haben«, erläuterte Kress, »sind Vorzeichen, mein Sohn.« Er fühlte, daß sich seine Stimme weitete und ihm die Brust füllte; er empfand, daß es ihm gegeben war, sich selbst zu projizieren. Schon immer war er dem Herrn für diese Gabe dankbar gewesen. Sie hatte ihm durch dieses Leben geholfen. Dank seiner charismatischen, magnetischen Ausstrahlung stieg er in jeder Kirche, der er beitrat, rasch auf, bis »sie«, die Werkzeuge der Finsternis, sich gegen ihn erhoben und ihn hinaustrieben.
Doch in Wahrheit war er es, der sie austrieb, ihre befleckte Kirche, ihr blindes Vorurteil, ihre vernunftwidrigen, animalischen Reaktionen. Endlich sah er, zu welchem Zweck ihm diese Gabe in Wahrheit verliehen war: für die jetzt kommenden Tage. Für die Zeit der Letzten Dinge.
»Es sind doch Leute gestorben, Daddy. Sterben noch mehr?«
»Das muß sein.« Er ließ seine Frau los und breitete die Arme aus. »Die Hand, die jetzt auf uns niederfällt, kann keiner aufhalten.«
»Aber Daddy, der Präsident hat doch gesagt…«
»Verblendung! Dieser Mann ist ein Gefangener der gottlosen Mächte, die heimlich dieses Land regieren. Er sieht die Wahrheit nicht, die hinter diesem Geschehen steht.« Mit Adlerblick bannte er die starren Augen seines jungen Sohnes und dessen noch jüngerer Schwester, und sie wichen entsetzt zurück.
Seine Frau berührte seinen Arm und fragte schüchtern: »Liebster, der Präsident hat aber doch gesagt, sie hätten Mittel, ihn aufzuhalten, vielleicht nicht ganz sicher, aber doch fast sicher, und…«
Kress lachte ein rollendes Lachen, das anschwoll und den Raum erfüllte. Er trat einen Schritt zur Seite, sprach gegen die Wand, an der die zweidimensionalen Familienfotos hingen: »Es wird ihnen nicht gelingen!« verkündete er seinen Ahnen. Dann wandte er sich wieder um. »Sich dem, was kommt, entgegenzustemmen, ist Sünde!« Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Frau und Kinder. »Mein Weib – wenn sie wirklich versuchen, Gottes Hand zurückzuhalten, werden wir sie daran hindern.« Er richtete sich hoch auf. »Alle Rechtschaffenen werden zusammenstehen.«
»Daddy«, piepste seine Tochter, »heißt das, diese Steine können auch hier bei uns runterfallen?«
Er sah auf sie hinab und spürte, daß die Luft im Zimmer dick und schwer wurde. Das Summen der wartenden Stadt brodelte an die Fenster. Die ganze Welt stand dicht um dieses Haus gedrängt und erwartete seine Antwort. Seine Kehle war rauh, wie mit kratziger Wolle gefüllt. Sind sich Menschen einer Zeitwende dieses Zustandes bewußt? Es mußte doch wohl so sein.
»Meine Tochter, dieses Gestein des Himmels wird überall fallen.« Seine Armbewegung erfaßte die ganze Welt. »Alle jene falschen Mächte werden verbrennen und verkohlen und zerschmettert werden. In Trümmern werden unsere großen Städte liegen. Unsere eitlen, komplizierten Maschinen werden zerspringen und versagen.«
»Und wir…?« fragte seine Frau mit dünner Stimme, die Hand in den Brustfalten ihres Kleides verkrampft. Er sah, daß ihre Unterlippe zitterte und daß sie rote Flecken im Gesicht hatte. So war es häufig, wenn Menschen ihm zuhörten: Aus ihren Gliedmaßen wurde das Blut abgezogen und stieg ihnen in die Gesichter; so groß war die Kraft der Wahrheit, die von ihm ausging. Wenn das geschah, dann wußte er: wieder einmal war er, nach dem Willen des Herrn, Sein Gefäß.
»Rückkehr zum einfachen, harten Kampf ums Überleben. Für einige wenige Gesegnete des Herrn.« Seltsam, wie seine Stimme den Raum füllte, alles andere flachdrückte, selbst das menschliche Fleisch.
»Was… was ist, wenn ein Stein hierher fällt, Daddy?« fragte sein Sohn.
»Dann sterben wir«, sagte Kress mit abschließender Geste. »Doch wir werden untergehen im Dienste Gottes, mein Sohn.«
Sie verstummten. Er spürte, daß sie sich von ihm zurückzogen. Angst flackerte in ihren Gesichtern. Er lächelte vergebend. Draußen summte die Stadt, er konnte es hören, unterschied sogar einzelne schwache Rufe. Fast körperlich fühlte er die Nähe der Menschen, welche die Wahrheit hören wollten, die sich verzweifelt an das Wort klammern konnten, wenn es ihnen nur dargebracht wurde. Wenn sie es fühlten, wirklich fühlten, dann würden sie sich von den Wissenschaftlern und ihren kümmerlichen Versuchen abwenden. Sie würden die natürliche Ordnung der Dinge hinnehmen. Sie würden bereit sein, die neue Welt zu empfangen, die ihnen der Herr brachte, die Er ihnen mit Seinem himmlischen Feuer gab.
Doch plötzlich begriff er, daß er mit erneuerter Kraft, mit vervielfachter Stimme, in Überlebensgröße sprechen müßte, um an die Menschen heranzukommen. Er würde durch die gottlose Sirenen-Apparatur des Fernsehens sprechen und die Illusion der Wirklichkeit für seine Zwecke benutzen müssen. Für die Zwecke des Herrn. Er würde sein Letztes, sein Äußerstes geben müssen, um das Wort wahrhaft in die Welt zu tragen; dessen war er sicher. Seit Jahren sprach er in Kirchen und Evangelisations-Zelten, auf der Straße, im Park; aber das hier war mehr, viel, viel mehr. Und hier, in seinem, vor seiner Familie mußte er beginnen, sich üben, das Schwert schleifen, das er schwingen würde.
»Ja!« stieß er hervor, und die Stimme rollte aus seiner Brust, »wir müssen bereit sein zum Tode. Das sagen uns die Feuer-Steine.« Unsicher sahen sie zu ihm auf. Offene Gesichter. Tafeln zum Beschreiben. Weit breitete er die Arme aus, Handflächen nach oben. »Kommt, lasset uns beten!«
Sie vernahmen es und neigten die suchenden Gesichter. Douglas Arthur Kress spürte aufs neue, wie die Kraft in ihm aufquoll, in ihm tanzte und sang. Ein Freudenschauer rann über seine Haut. Die Elektrizität des Geistes. Geistige Erlösung. Ja. Amen.
Die Erhebung schärfte seine Sinne. Alles wurde heller, klarer: die abgewetzten, etwas durchgetretenen Dielenbretter vor dem 3D-Fernseher, der Fleck an der Wand bei der Küche, das schlecht reparierte Stuhlbein, der Pickel am Kinn seines Sohnes. Er blickte auf, sah die Lampe mit der schwachen Birne, die Schatten, die Flecken.
Er hatte, wie es Menschen in großen Augenblicken geschieht, sich selbst gefunden. Er hatte die größte Aufgabe von allen gefunden – den Dienst des Herrn.
»Lasset uns beten.«