16. Mai: Kollision minus 9 Tage, 16 Stunden
Von den schmucklosen Metallbuchstaben der Bezeichnung THE THALES CENTER fehlte einer. Die NASA-Firmierung war mit Farbe überschmiert. Jemand hatte in blinder Wut versucht, die Betonwand mit einer Hacke einzuschlagen. Die abgebrochene Hacke lag noch im Vorgarten. Die Bürgersteige starrten vor Müll; teilweise hatte ihn der kalte Wind in die verdorrten Büsche geweht, der gleiche Wind, der an Wade Dennis’ Mantel zerrte, als er aus dem Truppentransporter der Nationalgarde sprang und über die verdreckte Betonauffahrt zur Haustür schritt. Der Wachthabende öffnete, als er Wade kommen sah, doch dieser hielt trotzdem seinen Sonderpaß hoch.
»Keith, ist Miss Weinberg schon da?«
»Ja, Sir. Ein Soldat hat sie hergebracht.«
»Danke.« Wade lächelte dem Sergeanten der Nationalgarde und seinen sechs Mann, die sich in der Halle räkelten, kurz zu. Der Sergeant sah ihn wenigstens an; von den Gardisten blickte keiner auch nur vom Kartenspiel auf.
In der Halle, vor dem Computerraum, stieß Wade auf Dr. Bogardus. »Herr Jesus, Herr Jesus«, seufzte der kleine spitzbäuchige Mann und wischte sich mit der pummeligen Hand über das schüttere Haar.
Wade blieb stehen und sah Bogardus unwissend an. »Na – was ist denn los, Don?«
»Herr Jesus, Sie haben ja keine Ahnung.«
»Kein Wunder, wenn Sie mir nichts sagen. Was ist denn?«
»Die Leute. Kommen einfach nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Die Raferson ist tot – gestern abend wurde sie in ihrem Apartment aufgefunden. O’Keeffe ist getürmt – hat es mir vorher gesagt, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Morris Dreyfuss, Lon Ghiberti, Rhoda Davidson – alle weg. Einfach abgehauen.«
»Angst?«
»Haben wir doch alle. Nein, sie haben einfach aufgegeben.«
»Aufgegeben? Aufgegeben?« Wade Dennis ballte die Faust und hieb gegen die Wand. »Was ist denn mit denen los? Wir sind ja noch nicht einmal am Ball! Alpha ist noch gar nicht in Schußweite! Was ist mit diesen Schafsköpfen los?«
»Hung-hsi ist hier, aber scheußlich depressiv. Bert Palma hat gestern von Selbstmord geredet, aber er ist hier. Bahadur Ahmet ist…«
»Wer ist das?« unterbrach Wade.
»Universität Bombay, große Kanone von der UN…«
»Ach ja, ich weiß schon. Ist er in Ordnung?«
»Alles in Buddhas guten Händen, sagt er. Herr Jesus, Wade, dieser ganze Laden fällt auseinander! Hausmeister, Sicherheitsbeamte, diese Scheiß-Sekretärinnen, dieser Neuseeländer – wie heißt er doch gleich? – Fergusson. Alle weg. Nach Hause. Nicht mehr gemeldet. Jesus, Jesus – Mann, wenn wir diese Scheißarbeit nicht mehr machen können, dann…«
»Ruhe, Don, immer mit der Ruhe! Schnappen Sie sich diesen jungen Burschen aus Berlin, Muller oder Müller, der kann die Raferson ersetzen.«
»Er hat doch noch nie so was…«
»Nehmen Sie ihn ruhig, Don. Geben Sie Eleanor die Stelle von Signorelli – Eleanor Walker. Ach so, Ersatz für Ghiberti habe ich vergessen; aber fordern Sie bei MIT Ray Rosenblum als Ersatz für Dreyfuss an. Rhoda ist auch weg, hm? Verflucht. Wen können wir da kriegen, um…«
»Wie wär’s mit Yorimichi? Den haben doch die Japaner geschickt, für alle Fälle, wissen Sie – oder Emile Hupp? Eben angekommen?«
»Prima – entweder den oder den. Was ist sonst noch kaputt?«
»Alles. In den letzten Tagen mußten wir zweimal auf Notstromaggregat schalten. Bomben im Kraftwerk. Die Welt wird verrückt, Wade! Jesus, was ist bloß mit den Menschen los? Die müßten doch eigentlich alles tun, um uns zu helfen, nicht uns zu hindern!«
»Unter Streß reagieren die Menschen eben verschieden, Don.« Im Hinausgehen fügte er noch hinzu: »Ich bin hier drin – aber wenn’s irgend geht, lassen Sie mich zufrieden, ja?«
»Gewiß, gewiß.« Bogardus ging und winkte resigniert mit der Hand. »Jesus, Jesus…«
Lächelnd blickte Caroline hoch. »Hei. Gut hergekommen?«
Wade nickte. »Ja – per US-Army-Lieferservice.« Er nahm die ausgedruckten Blätter auf und überflog sie rasch, ließ sie durch die Hände gleiten und legte sie sauber gefaltet wieder zusammen. Es handelte sich um trigonometrische Daten von Palomar, Kitt Peak und dem größten russischen Observatorium. Aber in Kürze würden die alle nutzlos sein. Nur das stationäre Raum-Observatorium, in dem noch immer Dr. Zakir Shastri saß, würde exakte Angaben liefern können. Punktuelle Angaben. Die großen terrestrischen Observatorien kamen nicht tiefer am Himmel herunter als zehn Grad über Horizont; damit konnten sie Schiwa nur bei Sonnenuntergang erwischen. Die Sichtung bei Sonnenaufgang war ein bißchen günstiger. In den letzten Tagen seiner Annäherung würde Schiwa frühmorgens zehn bis fünfzehn Grad über Horizont stehen. Das hieß, die beste Information würde sehr spät kommen, in letzter Minute, und das wiederum hieß, die Kurskorrekturen würden solange ausreichend sein, bis Alpha den Meteor direkt im Radar hatte und selbständig Kurs absetzen konnte.
Mit einem Grunzen ließ er das Papier wieder in den Drahtkorb fallen. Caroline saß an einer Apparatur; mechanisch tippte sie den Code ein, die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Sie hatte die Zunge zwischen den Lippen; die Spitze war gerade noch zu sehen. Sie sieht magerer aus, dachte er, beinahe knochig. Aber jedenfalls war sie hier und arbeitete.
Ohne sie zu unterbrechen, ging Wade hinaus und in sein Büro. Er setzte sich an den Tisch, blickte melancholisch auf die Stöße von Papieren, eine liegengebliebene Arbeit, sein »Vollständiger Raumatlas der Objekte in Erdnähe«. Tausenderlei schwabberte dort oben herum, Raumstationen, allerlei Treibgut, Wetter- und Kommunikationssatelliten, hunderterlei Kleinzeug – von der verlorenen Hasselblad-Kamera aus der Apollo-Zeit bis zum vereisten Leichnam in einem bemannten russischen Modul. Irgend jemand mußte das alles registrieren, feststellen, ob es noch da war, wo es sein sollte, die Daten speichern, überprüfen, Neuhinzugekommenes einfügen, kontrollieren und nachkontrollieren… ein ungeheures, viel zu spät begonnenes Projekt, das immer mehr anwuchs und immer dringlicher wurde. Eine Fähre war bereits durch Kollision mit Raummüll verlorengegangen – nicht mit einem Meteoriten, wie die Presse wahrhaben wollte –, und jetzt gab es um so mehr Himmelsgerümpel. Alles würde eines Tages wieder in die Atmosphäre gelangen, und das meiste – doch nicht alles – würde verglühen. Aber man mußte es im Auge behalten, und sogar noch sorgfältiger, als es die NORAD oder das russische und chinesische Militär taten. Punkt für Punkt. Komplettes Inventar.
Doch das alles mußte jetzt warten. Er hatte geplant, seine Liste der nichtplanetarischen Objekte später bis in den Orbit des Mars zu erweitern. Asteroiden, Raumschiff-Wracks, Kometen und Weltraumschrott, kurz alles, was so groß war, daß es Schaden anrichten konnte, aufs Exakteste zu verzeichnen. Und schließlich: jedes Objekt im gesamten Sonnensystem. Möglich war das, wenn man Zeit und Geld genug hatte. Doch jetzt war dieser Weltraum-Atlas akademisch, zum mindesten, bis das Problem Schiwa gelöst war. Die Bänder, Ordner und Mappen verstaubten.
Und wenn Schiwa tatsächlich gesprengt war – dann gab es noch mehr Trümmer im Raum! Und wenn nicht… dann war das ganze Projekt sinnlos.
Seufzend zog Wade das Videophon zu sich heran und tippte flink die wohlbekannte Nummer ein. Er mußte Stellen besetzen, Arbeiten ausführen lassen, einen Kampftrupp mit Führungsdaten versehen – die Erde retten.
»Colonel Dunnigan, bitte. Hier spricht Wade Dennis vom Thales-Center.« Ungeduldig trommelte er auf der Tischplatte, bis das starre, zerfurchte Gesicht des Offiziers erschien.
»Hier ist Dunnigan, Dr. Dennis.«
»Colonel, wir brauchen zusätzliche Leute, und – «
»Ausgeschlossen, Doktor. Unruhen in allen Bezirken der Stadt… Plünderungen, persönlicher Schutz für eine Menge wichtiger Persönlichkeiten, Objekte, die…«
Wade unterbrach ihn schroff. »Colonel, vielleicht verstehen Sie nicht, was wir hier machen. Wir sind nicht irgendein NASA-Außenposten. Wir machen hier die Computation für das Alpha-Team und für Omega auch, und wenn wir nicht arbeiten können, dann können die ihre Mission nicht durchführen. Und ich brauche Ihnen, glaube ich, nicht noch zu sagen, was dann passiert.«
Sekundenlang starrte der Colonel ihn an. »Was genau wollen Sie also?«
»Mehr Truppen… und bessere. Nicht lauter Fixer und Arbeitsscheue, wie ich sie jetzt habe. Ich brauche Profis, Colonel. Ich weiß, Sie sind Nationalgarde, und vorige Woche waren das alles noch Büroangestellte, Radfahrer, Fabrikarbeiter, Hausfrauen und was weiß ich. Aber sie haben Uniform an, und ich brauche mehr Truppen. Ich brauche sie jetzt, und sie müssen überprüft sein. Ich will keine Deserteure zu den Schiwa-Tänzern, keine potentiellen Gabriels oder dergleichen.«
»Ich… ja, ich denke, das geht. Ich wollte sowieso den Süden der Stadt aufgeben. Wir werden uns da zurückziehen und…«
»Mir ganz egal, wie und woher Sie die Männer nehmen, Colonel, aber ich brauche sie. Dringend, das müssen sie mir glauben. Und noch etwas: Drei Straßen von hier ist ein Hotel, Hilton Inn heißt es. Das müssen Sie übernehmen und dicht machen. Ich verlege meine Leute dorthin, von mir selber bis zum letzten Heizer. Einschließlich ihrer Familien, Hunde, Goldfische – alles.«
Der Colonel kniff die Augen zusammen. »Internierungslager?«
»Gewissermaßen. Ich will Bewachung für alle, beim Kommen und Gehen. Damit keiner verletzt wird oder sich herumtreibt.«
»Oder wegläuft«, ergänzte der Colonel grimmig.
»Ja – oder wegläuft. In den letzten Tagen haben wir einige unserer besten Leute verloren. Das muß aufhören. Ich mache dicht.« Er blickte kurz auf die Uhr. »Das Hotel muß bis fünf Uhr leer und abgesichert sein. Es handelt sich um etwa fünfzig Mann, dazu die jeweiligen Angehörigen. Können Sie diesen Termin einhalten?«
Der Colonel wandte sich vom Bildschirm weg und sagte etwas, wobei er die Hand auf das Mikrophon legte. Dann sprach er wieder über den Schirm. »In einer Stunde ist ein Adjutant von mir dort, Doktor Dennis. Wir brauchen einen schriftlichen Befehl für das gesamte Projekt.«
»Schön, schön, Colonel. Ich verstehe durchaus, daß Sie sich nicht am Arsch kriegen lassen wollen. Sie bekommen Ihr Papier mit Stempel, Unterschrift und Daumenabdruck.«
»Dann werden wir Ihren Termin einhalten, Sir. Ist das alles?«
»Im Moment ja, Colonel. Und vielen Dank.« Wades Bildschirm wurde leer. Er starrte in sein Gesicht, das sich in der dunkelgrauen Fläche widerspiegelte. Herr Jesus, dachte er, Herr Jesus.
»Meine Damen und Herren – der Präsident der Vereinigten Staaten.«
Am Schreibtisch Lincolns sitzend, schaute John Caleb Knowles von seinen Papieren auf und blickte mit ernster Miene direkt in die Kamera. »Amerikaner«, begann er, »Mitmenschen, Bewohner dieser Erde, wo immer Sie sich auch befinden mögen! Die besten Raumschiffe, die wir zur Verfügung haben, sind soeben von Station I mit Kurs auf Schiwa gestartet, um ihn entweder zu zerstören oder abzulenken. Es ist eine Aufgabe, an der zahlreiche Länder beteiligt sind, nicht nur eines. Zahlreiche Glieder dieser Kette leisten hier von der Erde aus ihren Beitrag, aber bei einem so ungeheuren Unternehmen sind alle Beteiligten wichtig, ob Astronauten oder technisches und sonstiges Bodenpersonal. Unsere Gebete, unsere Hoffnungen sind mit ihnen allen.«
Knowles senkte den Blick, als lese er seine Rede ab, was jedoch unnötig war, denn sie stand auf dem Teleprompter über dem Kameraobjektiv. Doch Knowles verstand etwas von Pausenwirkung und Dramatik. Zwar kam er sich gefühllos, ausgelaufen wie eine leere Hülse vor, doch er verstand sich auch auf seinen Beruf.
»Noch ist vieles zu tun, vieles zu vollbringen und vieles zu verhindern. Zur Panik besteht keine Veranlassung. Auch nicht zu Plünderung und Zerstörung. Schiwa wird ausgeschaltet. Unser Leben, das auf eine so schreckliche Weise gestört worden ist – wird bald wieder in normalen Bahnen verlaufen. Bitte arbeiten auch Sie alle daran – miteinander, mit der Polizei und den Behörden. Und mit gesundem Menschenverstand.«
Er zwang seine Lippen zu einem leichten Lächeln. »Vielleicht wird es nie mehr ganz so wie früher sein. Vielleicht sind wir anders geworden, weil wir alle so dicht am Tode gelebt haben, am persönlichen Tod und am Tod des Menschengeschlechts. In ein paar kurzen Tagen wird alles vorbei sein.« So oder so, dachte er. »Und dann können wir die Scherben unserer zerbrochenen und verstreuten Leben zusammensuchen, in unsere Heimstätten zurückkehren und mit dem Wiederaufbau beginnen.«
Das Lächeln schwand rasch dahin. »Ich möchte den Tausenden danken, die bei diesem unerhörten Unternehmen mitgewirkt haben, die ein Instrument geschaffen haben, das in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist. Ich hoffe, daß wir etwa daraus gelernt haben, aus der internationalen Zusammenarbeit, aus der jetzt offenbar gewordenen Notwendigkeit einer adäquaten Raumfahrt. Vielleicht haben wir sogar gelernt, daß der Mensch hinaus in die Sterne muß – in Weltraumkolonien, so daß eine einzelne Katastrophe nie mehr die gesamte Menschheit mit Vernichtung bedrohen kann.«
Wieder lächelte Knowles. »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Ich werde Sie weiterhin auf dem laufenden halten. Danke sehr.«
Die Kameras schalteten auf eine Nahaufnahme der Front des Weißen Hauses um, wobei sie sorgfältig die massiven Reihen der aufgefahrenen Tanks vermieden. Ein Ansager aus dem Kommunikationszentrum im Souterrain des Hauses verkündete mit seiner wohlklingenden Stimme: »Soeben sprach Präsident Knowles aus dem Weißen Hause in Washington. Wir fahren mit unserem regulären Programm fort.«
Während die Lampen verdämmerten, stand Knowles auf. Er nahm die Papiere vom Schreibtisch, stieß sie mit den Rändern auf die lederne Unterlage, damit sie schön ordentlich lagen, und legte sie dann wieder auf den Tisch. Seine Augen hatten sich an die schwächere Normalbeleuchtung gewöhnt. Gemessenen Schrittes verließ er das Oval Office, ohne sich um die Würdenträger zu kümmern, die seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchten. Myron Murray wehrte sie ab: »Bitte, meine Herren – der Präsident wird Sie in einigen Minuten empfangen.«
In dem kleinen Badezimmer musterte Knowles sein erschöpftes Gesicht im Spiegel. In der gnadenlosen Beleuchtung sah er jede Falte, jede Schlaffstelle. Er dachte daran, hier solche sanften rötlichen Birnen eindrehen zu lassen wie in Bars und Boudoirs. Dann würde er besser aussehen. Der Mann im Spiegel grinste schief. Gewiß, natürlich. Kosmetisches Licht. Deck die Falten zu, dann sind sie nicht mehr da. Die scharfen Linien würden sich glätten, die Beutel unter den Augen, dieser Blick wie der eines Tieres in der Falle würden verschwinden.
Gewiß, gewiß.
Er zog sich das Jackett glatt, spülte die Toilette, ging hinaus und querte die Diele. Eben als er in sein Privatbüro gehen wollte, trat Myron Murray zu ihm. »Sir, eine ganze Menge Leute möchten Sie sprechen. Senator Mathison, Minister Rogers, Powell, Hopkins…«
Knowles machte eine ablehnende Handbewegung. »Nein, nein. Übernehmen Sie das.«
Er trat in das kleine Büro, ließ sich langsam in einen gepolsterten Sessel sinken, schloß die Augen und lehnte sich zurück.
»Sir, der Verteidigungsminister beabsichtigt, Sie und den gesamten Stab morgen und übermorgen nach Colorado zu evakuieren. Es ist alles vorbereitet und…«
»Nein.«
»Sir, der Minister rät dringend dazu.«
»Nein. Wie sähe denn das aus? Ich renne in Deckung, und ein paarhundert Millionen können das nicht.«
»Mr. Präsident, niemand könnte Ihnen in diesem einen Vorwurf machen. Sie sind gewählt, Sie haben die Verantwortung und…«
»Myron!« Knowles öffnete die Augen und sah Muray an. »Gehen Sie. Nehmen Sie alle mit, die mitwollen.«
Myron schluckte hinunter. »Nein, Sir. Ich bleibe hier bei Ihnen. Aber das Kabinett wünscht, daß Sie…«
»Ich soll gehen, damit die alle mitgehen können. Nein. Ich bleibe hier.«
»Sir, das Verteidigungsministerium hat Schätzungen über die Schäden an der Ostküste vorliegen, die beim Einschlag Schiwas…«
»Nein.« Es klang matt, unüberzeugend. Knowles spürte, wie er völlig leer rann, wie eine geplatzte, eintrocknende Eiterbeule. »Nein«, wiederholte er mit geschlossenen Augen, kaum atmend.
Unsicher blickte Murray auf den Präsidenten. Sie waren seit langem zusammen, Herr und Vasall. Er war Knowles’ Stern gefolgt, er konnte ihn jetzt nicht alleinlassen. Vielleicht nahm er morgen Vernunft an. Es war schließlich nur logisch. Deswegen hatte das Verteidigungsministerium diesen Felsen doch aushöhlen lassen. Strahlen, gegen die man sich schützen mußte, würde es nicht geben. Die Anlage war zur Abwehr von Angriffen anderer Art konzipiert, aber sie war im Augenblick der sicherste Ort auf dem ganzen Erdball.
Morgen. Morgen würde er nochmal mit Knowles sprechen. Murray schickte sich an, leise hinauszugehen; und erst als er an der Tür war, sagte Knowles etwas zu ihm.
»Wie bitte, Sir?«
»Ich sagte, Sie möchten Mrs. Carr bitten, zu mir zu kommen.«
»Mrs. Carr, Sir?«
»Barbara Carr.«
»Ja, Sir, ich weiß. Äh… jawohl. Sofort, Sir. Wenn sie noch im Hause ist.«
»Sie ist hier.«
Murray schloß die Tür und ging wieder ins Oval Office. Direkt vor der geschlossenen Tür blieb er stehen und überlegte. Nein, lieber so unauffällig wie möglich. Er wandte sich um, ging ein paar Stufen hinab in die Halle und schob in der weißen Wand eine Platte zurück, der von außen nichts Besonderes anzusehen war. In der Nische dahinter befand sich ein Telefon mit winzigem Bildschirm. Er wählte die Zentrale. »Verbinden Sie mich mit Mrs. Carr, Barbara Carr, bitte. Sie muß noch im Hause sein.«
Die Vermittlung fand sie in Sekundenschnelle. Nicht umsonst hieß es, dort säßen die besten Telefonistinnen der Welt. Einmal hatten sie in vier Stunden eine Verbindung mit Professor Canaris hergestellt, der sich grade mitten in der Wüste Gobi befand – der Präsident wünschte ihm persönlich mitzuteilen, daß er den Nobelpreis bekommen hatte –, und hatten ihm dazu ein Mikrophon aus der Luft abwerfen lassen: ein absoluter Rekord.
»Mrs. Carr?«
»Ja, Mr. Murray?«
»Der Präsident bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen, Ma’am. Er ist im kleinen Büro – dem beim Oval Office, nicht im Verwaltungsgebäude«, fügte er unnötigerweise hinzu und ärgerte sich selbst, weil er es haßte, überflüssiges Zeug zu reden.
»Danke, Mr. Murray. Ich komme sofort.«
Man hört ihr nichts an, dachte er. Die beiden hatten doch etwas miteinander, nicht wahr. Es wäre auch wirklich schade darum, wenn es nicht so wäre. Sie war eine hübsche Frau, und der Präsident war noch lange nicht zu alt für dergleichen, keineswegs. Aber seien Sie diskret, Mrs. Carr, sehr diskret! Auch wenn sich die Leute auf offener Straße benehmen wie die Kaninchen, seien Sie bloß vorsichtig! Wenn dieser Mist vorbei und alles wieder normal ist, wäre es nicht gut, wenn bekannt würde, daß John Caleb Knowles in der Gegend herumgebumst hat. Die sexuelle Aktivität von Präsidenten mußte irgendwann einmal publik werden. Das war immer der Fall.
»Danke, Mrs. Carr.«
Er legte auf. Welchen Titel hätten Sie wohl gern für Ihre Memoiren, Mrs. Carr? Knowles’ Aufstieg und Schiwas Fall vielleicht? Murray machte ein grimmiges Gesicht und rief mit einem Fingerschnippen einen der Präsidialadjutanten herbei, den er gerade kommen sah.
»Higby!«
»Jawohl, Sir?« Der adrette, ehrgeizige junge Mann war überrascht, daß der mächtige Murray grade auf ihn verfallen war.
»Setzen Sie sich mit General Sutherland in Verbindung, und mit Colonel… äh… Dingsda – der, den uns die Luftwaffe gepumpt hat…?«
»Graham, Sir?«
»Ja, Graham. Sollen sich so bald wie möglich bei mir melden. Sutherland soll alle Notstandspläne für die Evakuierung der Zentrale mitbringen.«
Higby leckte sich die Lippen und enteilte. Nachdenklich sah Murray hinter ihm her. Die Präsidentschaft zu schützen war sogar noch wichtiger, als den Präsidenten selbst zu schützen. Vielleicht sollte der Vizepräsident nicht noch abwarten, sondern Washington sofort verlassen. Er ging wieder ans Telefon und verlangte Sofortverbindung mit Vizepräsident Reed.
»Der ist in Minnesota, Sir.«
»Mir ganz egal, verbinden Sie!«
Murray trommelte an die Wand starrte auf den grauen, leicht flimmernden Bildschirm. Befand sich Reed erst einmal in diesem Fuchsbau in Colorado, so war die Präsidentschaft gesichert. Dort konnte ihm nichts passieren. Unwillkürlich mußte er wieder an Barbara Carr denken. Vielleicht konnte er durch sie den Präsidenten zur Übersiedlung bewegen. Wenn man ihr Angst machen könnte, Angst um ihr Leben? Dann würde sie mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, am sichersten Ort der Welt unterzukriechen. Na ja – sagen wir: einer der sichersten, schränkte er in Gedanken ein. Die Russen hatten zwei ähnliche Fuchslöcher, und die chinesische Hierarchie vermutlich auch.
Brachte man sie nach Colorado, so käme der Präsident mit.
Glatte sichere Sache. Sobald alles vorbei war, konnte er wieder an die Arbeit gehen. Jetzt erst merkte Murray, daß er an die Wand trommelte, und hörte sofort damit auf. Er ließ sich nicht gern etwas anmerken. Aber es waren nun einmal ungewöhnliche Zeiten. Er lächelte, doch ohne Humor. Gab es überhaupt »gewöhnliche« Zeiten?
Barbara kam aus dem Protokollbüro im ersten Stock, wo sie grade die Liste der Dinnergäste durchgesehen hatte. Draußen vor den Fenstern des Nord-Portikos waren zwei helle Lichtflecken; dort nahmen die Fernsehkorrespondenten Auslandsmeldungen auf Band. Unter ihren Schuhen spürte sie den weichen, dicken, blauen Teppich der Eingangshalle. Eilig stieg sie die breite Treppe zum Souterrain hinunter. Mit dienstlichem Lächeln nahm sie die Anwesenheit des Senators Dunn und des Unterstaatssekretärs für Verteidigung Theotis Dudley zur Kenntnis, die an den hohen Flügeltüren des Grünen Saales standen und mit wütendem Ernst diskutierten. Sie hielten inne, als sie Barbara zum Westflügel gehen sahen. Dunn sagte etwas, Dudley grinste; aber Barbara tat, als bemerke sie nichts. Beide waren sture »männliche Chauvinisten«.
Einige Leute kamen aus dem Diplomaten-Empfangssaal heraus, als sie eben vorbeiging, und sie mußte sich an den aufgeregten Würdenträgern vorbeischlängeln. Lächelnd grüßte sie Senator Rauchenberg, der in alten Tagen ihrem Mann geholfen hatte, aber er konnte ihr nur flüchtig zuwinken, weil er zu sehr mit dem aufgeregten, fast hysterischen indischen Gesandten beschäftigt war. Derzeit trieben sich im Weißen Hause mehr VIPs herum als sonst, und die meisten sahen ziemlich verstört aus. Sie streifte eine hübsche junge Sekretärin mit unnatürlich glänzenden Augen, die zu einem langen britischen Diplomaten emporlachte, dessen Gesicht vom unbekümmert und kostenlos genossenen Champagner gerötet war. Sie bemerkte vor dem Sprechzimmer des Arztes eine Schlange von Leuten mit leichten Kratzern und Beulen – wahrscheinlich hatten sie sich durch die Demonstranten hindurcharbeiten müssen – und blieb stehen, um weißbejackte Kellner vorbeizulassen, die mit Platten voller hors d’oeuvres aus den riesigen Küchenräumen kamen.
Esset, trinket und seid fröhlich. Sogar im Weißen Hause. Barbara schritt rasch an der Hausmeisterei vorbei und hielt dem Posten ihr Kennschild hin. Ein Marine-Infanterist in tadelloser Uniform berührte es mit einem Analysator, der, wie es sich gehörte, mit einem Klicken reagierte. Barbara nickte den beiden Männern in Zivil, die weiter hinten in der Halle standen, freundlich zu. Sie gehörten zum Regierungs-Sicherheitsdienst und kannten Barbara gut. Trotzdem spürte sie, daß sie von den beiden mit Röntgenaugen gemustert wurde.
Was mochte er von ihr wollen?
Der Gedanke, den sie bis dahin unterdrückt hatte, stieg wieder in ihr auf, während sie sich dem Oval Office näherte. Sie verlangsamte ihre Schritte und blieb sogar einen Moment stehen, um einen Schluck Wasser aus einem Brunnen zu trinken. Du weißt recht gut, was er will, dachte sie. Was er immer gewollt hat und was du auch gewollt hast. Lüg dir nichts vor, Barbara. Zuerst war der Gedanke seltsam gewesen, verboten, dann merkwürdig erregend. Zuerst hatte sie sich nur vorgestellt, daß der Präsident, ein Präsident, mit ihr ins Bett ginge. Das war aufregend gewesen, stimulierend, erotisch. Während der letzten Schritte zum Oval Offize errötete sie, weil sie sich daran erinnerte, wie sie sich selbst berührt hatte, als sie sich das vorstellte.
Dann war es so gekommen, daß in ihren Gedanken nicht der Präsident, nicht einmal Präsident Knowles, sondern John Caleb Knowles Liebe mit ihr gemacht hatte. Kein Image, keine Kreatur der Politik, kein Medien-Monstrum, sondern ein Mann.
Und dann noch näher, noch intimer: Caleb.
Wie bedrückend und doch wundersam war dieser Nachmittag gewesen, den sie zusammen gehabt hatten! Leise, aber zielbewußt hatte sie die Führung übernommen, und er hatte es zugelassen. Von ihrer Seite war es eine plötzliche, ungeplante Geste gewesen, daß sie sich die Schuhe auszog; doch im Herzen wußte sie: Es war mehr als das gewesen. Es war der Ausdruck von fast allem gewesen, was sie sich zu sein wünschte: Frau, Maitresse, Geliebte, Macht groupie, Kurtisane, Nymphomanin – das letzte änderte sie in Gedanken rasch ab: Nymphomaninnen-Lehrling.
Seitdem hatten sie nicht mehr davon gesprochen, hatten nur manchmal gewisse Blicke gewechselt. Offensichtlich war es Knowles peinlich gewesen, es zur Sprache zu bringen, und Barbara fand, ihre Sache sei es schon gar nicht. Sie war damit zufrieden, hinter der Szene zu sein, ihm zu helfen in einer Zeit, da die Hilfe, die sie ihm bieten konnte, vielleicht sehr, sehr wichtig war.
Kurz überdachte sie noch einmal jenen Nachmittag, aus dem eine Nacht geworden war. Beim ersten Mal war er stürmisch gewesen, fordernd, war nach fast peinlich kurzer Paarung in ihr explodiert. Doch dann, als der Druck sich gelöst hatte, Stimmung und Beziehung da waren, hatten sie einander mit liebender Lust und Freude Zärtlichkeit erwiesen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, und sich immer mehr auf einander eingestellt.
Sie schämte sich bei der Erinnerung an einzelne Gedanken, die sie dabei formuliert hatte: Ich, Barbara Ellen Carr, liege hier mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten im Bett. Doch sie konnte nicht anders. Und zugleich lag darin eine Macht, die zu Kopfe stieg. Und Macht war ein Aphrodisiakum, das ließ sich nicht leugnen. Sie sah es jeden Tag. Verteidigungsminister Rogers, als Mann unbedeutend, sollte großen Erfolg bei Frauen haben; nur Senator Tucker vor ein paar Jahren und Kissinger – aber der gehörte zur vorigen Generation – sollten ihm darin übergewesen sein. Doch was Knowles zu ihr zog, war mehr als nur »das«. Sie konnte nicht leugnen, daß sie sich dessen bewußt war; heute allerdings war es, wie sie fand, ausgeglichener: Barbara und Caleb – Caleb und Barbara.
Sie bog in den Gang zum Privatbüro ein. Ein Colonel der Luftwaffe, den sie nicht kannte, saß davor, Sprechfunkgerät auf dem Schoß. Ausdruckslos blickte er sie an. Die Marine-Infanteristen zu Seiten der Tür standen stramm, und der Sergeant klopfte diskret. Auf einen Laut hin, den sie nicht hörte, öffnete der tadellos uniformierte Mariner und ließ sie ein. Lang, der Butler des Präsidenten, ein Erbstück von Knowles’ Vorgänger im Weißen Hause, schenkte Kaffee ein. Er sah sie fragend an, sie nickte, er goß auch eine Tasse für sie ein und zog sich dann lautlos zurück. Barbara blieb wartend stehen.
Der Präsident blickte hoch, lächelte und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Sie setzte sich und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Das alte Washington-Spiel, dachte sie, Gedankenlesen (aber die wirklichen, die wahre Meinung). Sie nahm ihre Kaffeetasse auf, tat Süßstoff hinein und lehnte sich abwartend zurück. Caleb Knowles würde ihr, wenn es soweit war, schon sagen, worum es sich handelte.
Die Stille vertiefte sich. Barbara konnte die Verkehrsgeräusche draußen nicht hören, nicht einmal die schrillen Schreie der Menschen, die in diesen Tagen ständig vor dem Weißen Hause demonstrierten. Die Polizei ließ sie nicht über die Pennsylvania Avenue hinausgelangen, doch der Rasen war längst niedergetreten, und die Straße sah ungewohnt schäbig aus.
Sie starrte in das kleine Holzfeuer und nippte stumm an ihrem Kaffee. Sie hatte sich an diese stillen Minuten mit dem Präsidenten gewöhnt, wenn sie sie auch nicht als etwas Selbstverständliches empfand. Manchmal hatte er sie in sein Büro im Verwaltungsgebäude gebeten, das er oft benutzte; gelegentlich auch ins Oval Office, doch meistens in diesen kleinen, schmucklosen, mehr privaten Raum. Ein Remington an der einen Wand, ein Wyeth an der anderen, amerikanische Klassik; doch an der dritten hing ein abstrakter Goldstone in lebhaften Farben, an eine Regenbogen-Mandala erinnernd. Ein Jammer, wenn das alles verschwinden würde, dachte sie; doch dann fand sie ihre Überheblichkeit dumm und lächerlich. Würde dieser Raum zerstört, dann würden höchstwahrscheinlich auch noch Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen vernichtet.
Knowles setzte sich zurecht und räusperte sich. »Also… hm.« Er wandte den Blick vom Feuer und lächelte sie schüchtern an. »Also Barbara – wie geht’s denn so heute?«
»Prima, Mr. Präsident.« Sie erwiderte sein Lächeln. Die Stunden im Bett waren wie ein Traum, wie eine ihrer häufigen erotischen Phantasien, eine nur noch unvollständig zurückgerufene Erinnerung. »Recht gut, in Anbetracht der Umstände. Und Ihnen, Sir?«
»Ebenfalls. In Anbetracht der Umstände.« Er rückte im Stuhl und setzte sich grade. »Barbara…« Es schien ihm nicht leicht zu fallen die richtigen Worte zu finden, und sie half ihm weiter. »Ja, Sir?«
»Meinst du… meinen Sie nicht, Sie könnten etwas zu mir sagen als Mr. Präsident? Privat, meine ich.« Bevor sie antworten konnte, fuhr er hastig fort: »Man wird dieser Isolation reichlich müde, wissen Sie. Da ist zum Beispiel Senator Clayberg. Wir haben zusammen als Kongreßmänner debütiert. Seine Frau und meine Frau… hm… kannten sich sehr gut. Wir haben uns zusammen betrunken, wir haben zusammen für Wale und Delphine gekämpft, wir haben uns sogar – kaum zu glauben! – mit Exxon angelegt. Die haben wir bis aufs Blut bekämpft, die Leute haben heute noch eine Wut auf mich. Jim Clayberg und ich, wir waren die ›Jungtürken‹, weißt du. Durch das Clayberg/Knowles-Gesetz kamen die Eisberge von der Antartik her; wir haben das Gesetz über die Stationierung von Sonnenkollektoren im Raum durchgeboxt; wir…« Er hielt inne und nickte melancholisch. Barbara wartete geduldig. Die Tasse in ihrer Hand kühlte ab, sie stellte sie weg, beim Klirren der Untertasse blickte Knowles auf und blinzelte. »Ah, ja. Jungtürken. Und wie nennt er mich jetzt?«
»Nun, er sagt Mr. Präsident – ich habe es selbst gehört.«
»Ja. Mr. Präsident. O ja, es handelt sich um das Amt, nicht um mich – und so weiter. Aber wissen Sie was? Ich habe immer gedacht: Wenn einen niemand mehr beim Vornamen nennt, ist man alt. Jetzt kann ich außerdem noch sagen: Wenn man in dieses Amt gewählt wird. Nicht mehr Caleb, nicht mehr J.C., nicht einmal mehr Knowles. Alles formell. Verstehen Sie?«
»Ich… ich glaube ja, Sir.«
»Caleb! Um Gottes willen, es soll jemanden geben, der Caleb zu mir sagt!«
Unvermittelt lächelte Barbara strahlend. »Also… Caleb.«
Jetzt lächelte auch er, warm und herzlich. »Das ist besser. Viel besser.« Wieder räkelte er sich, und das Lächeln verjüngte ihn. »Mal über den Papst nachgedacht?«
»Den Papst, Sir… äh, Caleb?«
»Ja, den Papst. Wer nennt den jemals bei Namen? Die Namen der Päpste sind nicht ihre eigenen, sie nehmen sie an.« Er seufzte. »Nun ja, bis sie sich zu ›Euer Heiligkeit‹ heraufgedient haben, mußten sie jahrelang auf ›Euer Eminenz‹, ›Euer Gnaden‹ und ›Hochwürdiger Herr‹ hören, da haben sie vielleicht ihren eigenen Namen sowieso vergessen.«
»Plopp« machte er mit den Lippen. »Ach, was zum Teufel ist schon ein Name. Spielen Sie Banjo?«
»Banjo? Nein, Sir.«
»Hab immer Banjo spielen wollen. Klingt wirklich großartig, wenn’s einer spielt, der was davon versteht. Kristallklar. Scharf. Wie Harfe, nur mit mehr Pfeffer dahinter, hm – eben kristallklar. Auch irgendwie humoristisch, findest du nicht?«
»Ja, Sir.« Sie sah ihn an, weil er wieder ins Feuer starrte. Doch jetzt lächelte er dabei.
»Hab mir jedes Album von Clyde Brackett angeschafft, wissen Sie? Und Wayne Avery auch. Flatt und Struggs, Pete Whistler, die ganze Bande. Paßt nicht recht zu einem Präsidenten, wie?«
»Warum nicht? Kennedy segelte gern, Lincoln erzählte Witze, Truman spielte Klavier…«
»Was anderes, was ganz anderes«, entgegnete Knowles mit abwehrender Handbewegung. »Eisenhower, Ford und Brown – die spielten Golf. Für die war Segeln hochgestochenes Ostküsten-Establishment. Aber Jefferson hat ein bißchen Geige gespielt. Tyler auch. Coolidge spielte Hamonika, aber ich glaube, davon hat man nicht viel hergemacht. Warren Harding spielte in seiner Jugend Kornett und Althorn. Nein, musikalisch waren nur wenige in diesem Amt. Aber Teddy Roosevelt, der war für Boxen und Ringen, natürlich auch für Schießen und Jagen, sogar für Jiu-Jitsu, stell dir vor! Und Reiten und Tennis. Ein aktiver Mann. Coolidge – der war komisch. Wissen Sie, was der machte? Golf und Angeln, das typisch amerikanische Zeug. Aber am liebsten mähte er eine Wiese, auch Keulenschwingen machte er gern. Und auf dem mechanischen Pferd reiten, und…« Er hielt plötzlich inne und sah Barbara ein bißchen schafsmäßig an. »Ach – na ja.« Wie ein kleiner Junge sieht er aus, dachte sie und lächelte zurück, wobei sie ein Grübchen bekam.
»Weiter!«
»Nein. Nein.« Er schüttelte den Kopf und starrte wieder ins Feuer. »Na ja.« Er atmete tief ein und laut aus. »Mein Banjo.
Ein Vega-Wyte-Lydie-Instrument mit Deluxe-Kopfmechanik«, sagte er voller Stolz. »Scruggs-Wirbel, fünf Saiten natürlich, adjustierbare Spur für die fünfte Saite. Lackierung und Politur von Frank Seliger.«
»Ist das… ist das was Gutes?«
»Das Beste. Vom Guten das Beste. Hab bloß… hab bloß nicht viel Gelegenheit zum Spielen. Mrs. Carr, würden Sie sich dazu verstehen können, meine… hm… Geliebte zu werden?«
Barbara blinzelte vor Überraschung. »Sir?«
Sein Lächeln war verschwunden. »Kann Sie im Moment nicht heiraten. Das ist ein Riesentheater. Protokoll und so. Kann Ihnen nicht einmal genau sagen, ob ich Sie überhaupt heiraten will – wenn Sie die Wahrheit hören wollen. Aber ich… ich brauche die Liebe einer Frau wie Sie.« Er wandte ihr wieder die Augen zu, und sie erkannte die stumme Bitte, den Schmerz, die Verwirrung. »Ich bin nicht besonders gut in solchen Sachen. Meine Frau und ich… es ist so lange her, daß…« Er lächelte scheu. »Also, ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, wie man einer Frau sowas sagt. Ich denke immer, ich müßte das aushandeln, sozusagen, wie im Kongreß. Diesmal aber, wissen Sie, bedeutet es mir etwas…«
»Bitte, Caleb, nicht!«
»Was – nicht? Nicht weitersprechen, nicht mehr daran denken?«
»Nein, Caleb, ich wollte nur sagen, das ist alles nicht nötig. Ja, es wäre mir eine große Ehre, Ihre Geliebte zu werden.«
»Saublödes Wort, nicht wahr? Aber mir fällt kein passenderes ein. Vielleicht sollte man ein Preisausschreiben veranstalten. Freundin – das klingt nicht ganz richtig. ›Meine Bekannte‹…« Er schüttelte den Kopf. »›Partnerin‹ klingt ganz gut.« Er lachte – ein kurzes Bellen, und dann ein gedämpftes, knurrendes Nach-Gelächter. »Preisausschreiben – das ist das richtige. Wie nennt man eine Frau statt ›Geliebte‹ oder ›Maitresse‹ – alles so sexistische Wörter. Oder einen Mann in der entsprechenden Situation. Und dann – wäre da noch die Kerbe im Arsch.«
Sie blickte ihn mit erhobenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn an.
»Die Teilung dahinten, zwischen den Backen. Dafür gibt’s auch keinen vernünftigen Namen. Hab’ mal Admiral Begelman danach gefragt. Großer Marine-Arzt. Hat er nicht gewußt. Die haben Namen für jede verdammte kleine Muskel und Ader im Körper, aber nicht für die Glutealspalte. Das war sein Vorschlag. Glutealspalte. Dämlicher Name. Kein Mensch sagt so.« Er grinste sie an. »Wie sagen Sie denn dazu?«
»Oh, Caleb!« Sie tat empört, aber der Kopf drehte sich ihr. Geliebte des Präsidenten!
Knowles lächelte in sich hinein. »Na, wie ist es?«
Sie wußten beide, was er meinte. Sie lächelte, als er es aussprach, aber es war ein leiser Vorwurf dabei. »Ich habe schon romantischere Anträge bekommen.«
Er machte eine wegwerfende Gebärde. »Ja, kann ich mir denken. Ist aber nicht meine Art, tut mir leid.« Er verzog das Gesicht. »Hat mir schon viel Ärger eingebracht. Die Menschen gehen gern ein bißchen darum herum, schnuppern, stochern, überlegen. Ich nicht. Ganz bestimmt nicht jetzt, mit Schiwa und alldem…« Er sah sie an, und wieder hatten seine Augen diesen herzzerreißend schmerzvollen Ausdruck.
»Ja. Ja, Caleb.«
Er seufzte tief auf. Dann sah er sie listig von der Seite an. »Keine Forderungen, keine Bedingungen?«
»Caleb, du wußtest doch vorher, was ich für eine Frau bin. Jetzt hör auf, dir Gedanken zu machen und nach Ausflüchten zu suchen.«
»Ich mache keine Ausflüchte.« Sie lächelte nur mit schiefgelegtem Kopf. »Na ja – ich glaube, ich hatte etwas anderes erwartet.«
»Es ist lange her, Caleb, daß du mit Frauen… in dieser Art zu tun hattest. Ich glaube, wir sind heute anders als damals, als du ein junger Mann warst und den Mädchen den Hof machtest.«
»September Song. Oh, das habe ich geliebt.«
»Was?«
»Ein Lied. Junger Mann, der einem Mädel den Hof macht. Aber nichts fürs Banjo.« Er sah sie an und lachte. »Weißt du, ich fühle mich ausgezeichnet.« Unwillkürlich betastete er seine Magengegend. »Was hast du heute nachmittag vor?«
Sie zuckte die Achseln. »Nichts, was ich nicht verschieben könnte.«
Er stand auf, sie ebenfalls. Beide lächelten, aber ziemlich verwirrt. Sollte sie ihm einen Kuß geben oder nicht? »Ich habe noch etwa eine Stunde zu tun«, sagte er. »Vielleicht kannst du dich bis dahin auch… freimachen.«
»Ja. Ich… ich bin dann in der Privatwohnung.«
»Ja. Hm.« Er kam sich noch unbeholfener vor. Auf einmal beugte er sich vor, nahm Barbara bei den Schultern und küßte sie auf die Wange, nahe beim Mund. Diese unbeholfene, impulsive Geste rührte sie sehr. Er ließ sie los, immer noch sichtlich verlegen, aber strahlend. »Ja. Also dann in einer Stunde.«
»In einer Stunde.«
Er ging hinaus und schloß die Tür leise hinter sich. Barbara setzte sich wieder; in ihrem Innern brach einiges zusammen. Doch sie empfand dabei weder Panik noch Bedrücktheit. Nun, sagte sie sich, schließlich bist du hierher nach Washington gekommen, weil du die Macht liebst, und dieses Trunkenheitsgefühl in Gipfelnähe. Jetzt bist du wirklich drin. Aber so, wie du es dir nie vorgestellt hättest, nicht in tausend Jahren. Nicht richtig, nicht wirklich wirklich, nur in deinen dummen Phantasien.
Sie atmete tief ein, hielt den Atem an, atmete aus. Nichts wie ran, Mädchen, sprach sie zu sich selbst.
Caleb arbeitete flott hintereinanderweg, doch seine Gedanken waren anderswo. Er verschob die Verhängung des nationalen Kriegsrechts, bestätigte es jedoch für Los Angeles, New York, Chicago, St. Paul, Dallas und Atlanta. Es war bedauerlicherweise notwendig und verstärkte die auf der Regierung lastende Bürde.
Er unterzeichnete Verfügungen, paraphierte Entwürfe, diktierte ein politisches Statement über die kanadische Situation, wies das Verteidigungsministerium an, die Verantwortung über die Pipelines von Alaska nach Mexiko zu übernehmen, unterzeichnete das Gesetz über Katastrophenhilfe und ernannte einen neuen Gesandten für China – der alte hatte Selbstmord begangen.
Doch er dachte an Barbara Carr so erregt, wie ein Junge an seine erste Verabredung. Gradezu unanständig für einen Mann meines Alters und meiner Position, dachte er, entwürdigend! Doch seine Erregung wuchs, er konnte es nicht ändern. Sex war nicht einmal das Ausschlaggebende, wenn der auch dazugehörte. Barbara war für ihn eine Zuflucht, nicht eine schlampige Sexaffäre. Ihm fiel ein, was man sich über Kennedy erzählte: Der hatte tatsächlich zwei seiner Kabinettsmitglieder, Bundy und McNamara, in seinem Schlafzimmer empfangen, war nackt aus dem Bett gehüpft, ungeniert durchs Zimmer gegangen und hatte sich den Bademantel übergezogen – und in dem Bett lag eine Frau, die nicht seine Frau war. Sex im Weißen Haus war nichts Neues, wohl aber für John Caleb Knowles.
Vielleicht kann ich ihr hinterher was vorspielen. Die Bourrée für Laute von Bach? Den »Salty Dog Rag«?
»Foggy Mountain Chimes« – das wäre vielleicht grade das richtige.