3. Januar: Kollision minus 4 Monate, 23 Tage
Lachend traten Diego und Lisa durch die geschnitzte und polierte Tür hinaus auf die Straße. Die appetitlichen Gerüche des Restaurants verbreiteten sich über den ganzen Gehsteig. Diego warf einen Blick in den Abendhimmel. Der fast volle Mond stand hinter dem hohen Turm des Exxon Energy Building. In den dunklen ragenden Gebäudemassen der Umgebung leuchteten kleine gelbliche Rechtecke auf. In den Straßen war kaum Fahrzeugverkehr, aber eine Anzahl Menschen eilte zu den Eingängen der Untergrundbahn.
Lisa hörte das Startgeräusch eines Autos und erkannte den Armee-Dienstwagen, eine vertrauenerweckende graugrüne Limousine. Der Wagen kam heran und stoppte, doch sie schüttelte den Kopf. »Gehen wir ein Stück zu Fuß?«
»Okay.« Diego nickte und beugte sich zum Fahrer hinunter. Die kugelsichere Glasscheibe glitt lautlos hinab, und Diego sagte zu dem Soldaten am Steuer: »Wir gehen zu Fuß bis Travis und dann links. Kommen Sie in einer kleinen Viertelstunde nach, ja? Wir bleiben auf dieser Straßenseite.«
»Sir, auf dem Alamo Boulevard sind Unruhen gemeldet. Die Gabriels oder so was Ähnliches. Schmeißen Fenster kaputt und so. Steigen Sie lieber ein, Sir.«
Diego lächelte. »Danke, Sergeant, aber die Dame möchte sich die Beine vertreten.«
»Wir sitzen lange genug im Modul«, murmelte sie.
»Also warten Sie hier, Sergeant, oder suchen Sie sich eine Bar. Aber in fünfzehn Minuten kommen Sie hinterher. In Ordnung?«
»Jawohl, Sir. Aber seien Sie vorsichtig, Sir, hören Sie?«
Einen Straßenblock weit schlenderten sie dahin. Die Schaufenster waren entweder verklebt oder mit teurem »unzerbrechlichem« Glas versehen. Manchmal waren die Scheiben einfach durch bemalte Metallplatten ersetzt. Die Fußgänger musterten einander mißtrauisch. Diego und Lisa trugen unverfängliches Zivil, und Lisa hatte sich eine Zopffrisur gemacht, um ihr Aussehen zu verändern. Schneidend blies ihnen der kalte Wind in die Gesichter.
»Ich komme mir vor, als ob ich die Schule schwänze«, sagte sie.
»Hm, ja. Und wenn man dann noch Chez Abney’s erstklassiges Essen im Bauch hat – ah!« Er lächelte eine vorübergehende Frau freundlich an, doch sie blickte nur böse und ging eilig weiter.
»Sieh mal, wie viele Leute Knüppel bei sich haben«, bemerkte Lisa.
»Erstaunlich, wie viele ihren Kindern Baseballschläger mitbringen«, kommentierte er achselzuckend.
»Daran ist dieser Gabriel schuld«, murmelte Lisa; sie mußten sich an ein Schaufenster drücken, um einer Bande von sechs oder sieben Zwölfjährigen auszuweichen, die an ihnen vorbeirannten. Einer schleppte einen Fernseher mit baumelnder beschädigter Leitungsschnur. Ein anderer schwenkte ein Frauenkleid. Es hatte ein paar Blutflecken. Lauthals beschimpften sie alle Passanten, doch Diego, der sie drohend ansah, ließen sie in Ruhe.
»Nein, Schiwas Schuld ist es«, entgegnete er und blickte über seine Schulter der Bande nach. »Wenn man etwas Unbelebtem Schuld anlasten darf. Diesen Tod haben sie nicht verdient, und daher schockt er sie so.«
»Aber dann – warum bleiben die einen vernünftig und die anderen gehen kaputt? Warum werden die einen fromm und die anderen heidnisch?«
Er lächelte. »Es gibt auch sehr fromme Heiden, du kleine judeo-christliche Chauvinistin. Überleg mal – warum steigen manche Leute zuerst mit dem linken Fuß in die Hose? Zum Teufel, Lisa, die Menschen reagieren eben je nach ihrer Belastbarkeit. Wenn sie von Natur aus stark sind, halten sie durch; wenn sie Sprünge haben, knacken sie kaputt.« Er zuckte die Achseln.
»Du kalifornischer Pragmatiker!«
»Hm, ja. Bei manchen reicht eben der Charakter nur bis knapp unter die Haut.«
»Aber mein Gott, Diego, wir…« Sie atmete tief ein, blieb stehen und starrte blicklos in ein Schaufenster voller bizarrer ostindischer Masken. Der Name Schiwa beeinflußte allerlei Gebiete, auch die Mode. »… wir reden doch hier von der totalen Zerstörung der Erde. Wie sollen da die Menschen keine Angst haben?«
»Eben, wie denn nicht? Ich habe Angst, du auch. Sogar Carl. Na, Carl vielleicht nicht. Zur Angst braucht man Phantasie. Aber die Menschen reagieren eben verschieden – sie besaufen sich, sie machen Sex, sie kriechen ins Bett und schlafen, sie verfluchen die Götter, sie…« – er machte eine umfassende Handbewegung – »sie schreien oder erstarren, betteln, beten oder hauen um sich. Ohne das Sicherheitsventil der Vernunft drehen sie eben durch.«
Sie nahm seinen Arm, und sie gingen weiter. An der Travis-Ecke bogen sie ein und sahen einen gelbroten Lichtschein an der Metallverkleidung eines Wolkenkratzers flackern. Doch auf dieser Seite der müllverdreckten Straße leuchtete kein einziges Licht. Lisa blieb stehen. »Stromabschaltung«, sagte sie leise.
»Und es brennt.«
Sie hörten Rufe, dann dumpfes Brüllen, und plötzlich strömte eine Horde Menschen in die Straße. Weit hinten bremste kreischend ein einzelnes Kraftfahrzeug, wendete dann eilig und raste davon. Die Massen gerieten in mahlende Bewegung, rannten hierhin und dorthin, dann kam eine einzelne Frau aus einer Seitenstraße gelaufen. Hinter ihr explodierte etwas, und sie kreischte: »Vernichtet die Ungläubigen! Vernichtet sie!«
Diego zog Lisa von der Straßenecke weg und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kein Dienstwagen zu sehen. »Na so was!«
»Ist ja toll, was die schreit«, sagte Lisa und sah sich aufmerksam um. »Wer mag ihr wohl den Text dafür geschrieben haben?«
»Intelligenzweiber sind nicht gefragt«, murmelte Diego und spähte umher. »Wo steckt der Kerl? Jetzt, wo wir ihn brauchen, ist er nicht da!« Doch bevor Lisa etwas sagen konnte, beantwortete er sich die Frage selbst: »Verdammt, ich habe ihn ja weggeschickt!«
»Bloß weg von hier, der Haufen kommt näher«, murmelte Lisa. »Wenn sie uns erkennen…« Lisa erschauerte, und sie liefen zurück, die Straße entlang. Doch der Mob hinter ihnen rannte ebenfalls, und vor ihnen brodelte ein Trupp Menschen aus der Seitenstraße. Jetzt waren sie zwischen zwei Haufen und konnten nicht weiter. Es kam ihnen in den Sinn, was Major Miller passiert war, der erst gestern in voller Luftwaffenuniform in der Unterstadt von Houston gewesen war. Bradshaw hatte dem Druck des vom Isolationskoller befallenen Basispersonals nachgegeben und Urlaub bewilligt. Ein Haufen Gabriels hatten Miller erkannt, ihn gejagt, seine beiden Begleiter von der Marine umgebracht und ihn selbst an einem Laternenpfahl aufgehängt. Dann hatten sie ihn angezündet.
Militär und Polizei hatten die Gabriels aus der Stadt gefegt, aber Bradshaw hatte trotzdem Bedenken bei Urlaub. Strenge Verbote machten die Leute widerspenstig, und das wollte man auch nicht. Aber die streunenden Gabrielsbanden bildeten sich scheinbar aus dem Nichts, aus den von der Polizei abgesperrten Straßenzügen heraus, tobten herum und lösten sich wieder auf, ehe die Polizei kam.
»Na dann«, sagte Diego gepreßt. Die beiden Horden rückten einander näher. Glas ging zu Bruch. In der Seitenstraße explodierte etwas, und Schreie ertönten. Irgendwo fiel ein Gewehrschuß, im zehnten Stock eines Hauses zersplitterte ein Fenster, und es regnete Scherben. Lisa und Diego drückten sich in einen Ladeneingang, als der tödliche Schauer auf Bürgersteig und Fahrbahn klirrte. »Na«, sagte Diego, »wenn man sie nicht schlagen kann, muß man mitmachen.« Er trat auf den Bürgersteig hinaus Glas knirschte unter seinen Füßen. Er riß die Faust hoch und schrie eine von Bruder Gabriels Lieblingsparolen: »Sie dürfen es nicht! Der Versuch ist Sünde!«
Abgerissene Schreie überall. Lisa trat hinaus und verstärkte mit ihrem Kampfschrei: »Nieder mit den Wissenschaftlern!« den wachsenden Tumult. Zu Diego sagte sie leise: »Ich komme mir wie ein Verräter vor.«
»Laß das. Du mußt überleben. Du bist zu wertvoll.«
»In den Reserveteams sind genügend andere Astronauten.«
»Ach, hol der Teufel die NASA! Mir bist du zu wertvoll. Ich habe dich noch nicht aufgebraucht.«
»Also, das ist das Netteste, was du mir jemals – autsch!« Wieder schmetterte ein Schuß in den Beton über ihnen. Weitere Schüsse knallten. Anscheinend kümmerte sich keine der beiden Gruppen darum, daß ihre eigenen Leute durch Glasscherben und Querschläger gefährdet wurden. Wieder schrie Diego, aber diesmal etwas Unartikuliertes, und sie wurden in den Zusammenstoß der beiden Haufen hineingesogen.
»Ewiger Segen, Bruder«, schrie ein Mann mit weitaufgerissenen Augen. Er hatte ein Stück Stahlrohr in der Hand, mit dem er ohne weiteres durch das Schaufenstergitter die Scheibe einschlug. Die Klebestreifen rissen, und das Fenster brach schmetternd ein. Mit einem orgiastischen Schrei schlug er nochmals zu. Diego zerrte Lisa weg, doch jemand hieb mit einer Holzlatte nach ihm und traf ihn an der Schulter, so daß er in die Knie sank. Lisa war von der brüllenden Masse mitgerissen worden, doch sie kämpfte sich zu Diego zurück und half ihm auf. »Komm weg!« schrie sie und wehrte die Menschen ab. Benommen schüttelte Diego den Kopf, dann stapfte er voraus, um Platz für sie beide zu machen.
Der Mob riß sie mit; Diego versuchte, herauszukommen und eine Seitenstraße zu gewinnen, doch die Menschen waren zu dicht gedrängt und zu unberechenbar. Erst rannten sie die Straße hinunter, dann drehten sie in Richtung auf das Stadtzentrum ab. In der Ferne heulten Sirenen. Plötzlich stand eine Frau mit weitaufgerissenen Augen vor Diego und schwang ein blutiges Fleischermesser.
»Sei gesegnet, Bruder!« Sie wollte zustoßen, aber Diego versetzte ihr einen harten Hieb in die Magengegend. Sie fiel seitlich hin, erbrach sich, und er stolperte über ihre Beine, als die Menge sich weiterschob, ohne auf die gestürzte Frau zu achten.
Ein Armee-Tank erschien ein paar Straßen weiter und bog rumpelnd in die Avenue ein, hinter ihm eine Anzahl Soldaten. Mit abgerissenen Schreien rannte der Mob auf den Tank zu. Ein zweiter Tank tauchte auf, ihm folgten mehrere Truppentransporter, die stoppten und Soldaten mit Schutzhelmen absetzten.
Diego und Lisa wurden mitgerissen, zerschrammt und keuchend. Eine Menschenmenge trennte sie, und Lisa geriet in die Mitte der Straße. Steine und Eisenrohre flogen durch die Luft, schepperten an die Tanks. Die erste Gasgranate detonierte, die Vordersten schwankten und fielen unter dem Knockout-Gas. Diego konnte Lisa nicht mehr sehen und kämpfte sich zur Straßenmitte durch. »Du Mexicano!« brüllte ein riesiger Mann, hieb mit seiner knotigen Faust nach Diego und erwischte ihn seitlich am Hals. Diego schwankte und fiel beinahe, duckte aber den nächsten Hieb ab und versetzte dem Mann einen Karateschlag gegen die Kehle. Noch zwei Gasgranaten detonierten, und in den vorderen Reihen brachen noch mehr Menschen zusammen. Der Tank war bis zu den vordersten auf der Straße liegenden Aufrührern gerumpelt und dort stehengeblieben. Da sah Diego, daß Lisa halb unter zwei bewußtlosen Männern lag und sich nicht rührte. Über Arme und Beine stolpernd, rannte Diego zu ihr.
Wieder blaffte eine Gasgranate, und Diego stürzte. In derselben Sekunde versank er in Schwärze.
Lisa hockte auf der Kante einer Koje in der Unfallklinik des Johnson Space Center und hielt sich den Kopf. Lyle Orr, der unentwegte Public-Relation-Direktor der NASA, bot ihr einen Becher Kaffee. Sie nahm ihn und fragte: »Wo… wo ist Diego?«
»Kommt langsam zu sich. Paar Kratzer, nichts Ernsthaftes. Jack ist bei ihm.«
Lisa nickte und nippte an ihrem Kaffee. Wenn sie die Augen schloß, bekam sie Gleichgewichtsstörungen und geriet ins Schwanken. »Das ist ja eine schöne Sorte Gas…«
»Ohne diese Granaten geht es nicht. Der Mob wird jeden Tag schlimmer. Besonders hier in der Nähe vom Cape und in Vandenberg. Washington auch.« Er zuckte die Achseln. »Chuck mußte alle Basen dichtmachen. Jetzt kommt keiner mehr so leicht rein oder raus.«
»Die ganze Zeit?« fragte sie und sah ihn von der Seite an.
Er nickte achselzuckend. »Ging nicht anders. Sind Sie jetzt okay?«
Sie nickte mühsam und hielt sich die Schläfe. »Lassen Sie mich zu Diego.«
»Gewiß doch. Hier lang.«
Sie gingen in den nächsten Behandlungsraum, wo Diego sie müde, aber lächelnd begrüßte: »Hei! Bist du all right?«
»Schwach, aber willig. Hast du dir was gebrochen?«
»Nee. Paar Kratzer und Beulen.« Er deutete mit dem Daumen auf Jack Barrow, den PR-Assistenten. »Der da erzählt mir grade, daß alle NASA-Anlagen abgeriegelt sind. Schade, Baby, ich wollte morgen noch mal mit dir fein essen gehen.«
Sie umarmte ihn. »Von jetzt an nur noch die Cafeteria in der Kaserne, Liebling.«
»Wir veröffentlichen nichts darüber«, bemerkte Jack mit einem Blick auf seinen Boss.
»Stimmt«, bestätigte Orr, »also reden Sie bitte nicht davon. Die Leute sollen nicht den Eindruck haben, daß wir so verletzlich sind. Ein Glück, daß der Offizier Sie beide erkannt hat, als der ganze Haufen in den Knast transportiert wurde.«
Lisa verzog das Gesicht. Es hätte verdammt gefährlich werden können, dachte sie, wenn wir in einer Zelle von Gabriels unsere Personalien hätten angeben müssen. »Ich komme mir so blöd vor«, sagte sie.
Orr zuckte die Achseln. »Blöd sind die Gabriels. Wie sie sich einbilden können, daß Schiwa die Erde reinigen wird, ist mir schleierhaft. Das ist ja nicht so wie bei denen, die in die Rocky Mountains oder in den Himalaja gehen und Kolonien für eine neue Gesellschaft säen wollen. Die stecken mit den Köpfen in philosophischen Löchern.« Knurrend schickte er sich zum Gehen an. »Seht euch von jetzt ab ein bißchen vor, ja?«
»Hier unten gewiß«, grinste Diego.