1. Februar: Kollision minus 3 Monate, 25 Tage
»Nein, Brennan ist draußen und bleibt auch draußen«, sagte Bradshaw. Carl Jagens und Lisa Bander tauschten Blicke. Sie neigte den Kopf. Jetzt war also Schumacher als Ersatzmann für Brennan beim Omega-Team.
»Na schön«, sagte Carl unbewegt. »Brennan ist der bessere Mann, aber wenn es die oberen Mächte so wollen – bitte.«
Bradshaw sah ihn argwöhnisch an. »Carl, Sie sind mir zu glatt.«
Jagens lächelte liebenswürdig und blickte Lisa, der man ihre Überraschung ansehen konnte, mit erhobenen Brauen an. »Wie Sie meinen, Carl«, sagte sie, »es ist Ihr Team.«
»Sparen wir unsere Kräfte für die Kämpfe, die wir gewinnen können«, antwortete er. »Brennan ist ein Problem. Kaum ist er zum Bodenpersonal versetzt, da reißt er schon wieder das Maul auf.« Sodann wandte sich der blonde Astronaut wieder an Bradshaw. »Wie sind die letzten Daten über die Geschosse?«
Jetzt lächelte Bradshaw und nahm ein Formblatt vom Tisch. »Gut, gut. Viel besser als wir dachten.«
»Reicht es?« fragte Lisa.
Chuck wedelte mit dem Formblatt. »Die Franzosen, die Israelis, die Arabische Liga und Rotchina haben Geschosse geliefert.«
»Rotchina?« Jagens runzelte die Stirn. »Was wollen die denn dabei rausschinden? Wie viele haben sie geschickt?«
»Sechs Stück Kong-Ji IV.« Er breitete die Hände aus. »Keine Hintergedanken. Sie wollen bloß dabeisein, weiter nichts.«
»Weiter nichts? Das gibt es nicht bei den Roten«, erwiderte Carl. »Wieviel haben wir also insgesamt?«
»Alpha hat zweiundzwanzig 20-Megatonner, Omega neunzehn. Dazu natürlich noch die Große.« Er legte das Formblatt wieder hin und legte die gespreizte Hand darauf. »Eine Menge Feuerkraft, Leute. Die größte Atomflotte der Geschichte.«
»Ja ja, natürlich«, sagte Carl ungeduldig, »aber wie erfolgt der Einsatz? Wer bearbeitet die Koordinierung? Diese rotchinesischen Flugkörper sind bestimmt schwer einzuphasen.«
Bradshaw hob die Hand und neigte den Kopf. »Immer mit der Ruhe!« Lächelnd sah er Lisa an, dann wurde er wieder ernst und beantwortete Carls Fragen. »Wir schicken Teams nach Peking, zu den französischen Testanlagen in die Sahara, und nach Kairo. Dort werden sie koordiniert, der Abschluß erfolgt auch von dort, aber unter unserem Kommando. Die Israelis sind kein Problem; wir haben die operative Koordination schon vor drei Jahren gemacht. Alle amerikanischen Flugkörper heben von Vandenberg ab.«
»Und die Russen kommen her?« fragte Lisa.
Chuck strich das Papier glatt und nickte. »Ja. Ich glaube nicht, daß es ihnen paßt, wenn westliche Experten auf ihren Basen herumschnüffeln.«
»Und wir haben nichts zu verbergen?« grinste Carl höhnisch. »Die können hier rumschnüffeln, soviel sie wollen?«
Chuck seufzte. »Eben jetzt sind neun russische Geschosse nach hier unterwegs. Ihre modernsten und besten. An denen können wir ja herumschnüffeln. Ich denke, sie werden schon merken, daß wir auch was davon haben.« Er sah Carl bedeutsam an. »Und Sie werden gute Miene dazu machen! Die Russen haben Menschow zum General hochgeknüppelt; aber Sie bleiben natürlich Kommandant.« Carl legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten und sagte dann gemessen: »Wäre es nicht gut, wenn ich da gleichziehen würde? Konteradmiral zumindest?«
Chuck grinste und schüttelte denn Kopf. »Sie sind ja gerade erst Captain geworden, Carl. Sie kennen doch die Personalpolitik der Marine.«
»Diese ganze Schiwa-Geschichte steht außerhalb aller Politik. Ich finde…«
»Nein, Carl. Lisa wird Colonel. Sie trägt Silberadler, genau wie Sie. So könnt ihr mit Menschows Stern konkurrieren. Das Lametta ist schließlich nicht das Wichtigste. Wenn ihr zurückkommt, gibt’s Beförderungen noch und noch, falls das Ihre Sorge sein sollte.«
Carl hob das Kinn, und Lisa verbarg ein Lächeln. »Nein, natürlich nicht. Ich meinte nur, für eine effektive Kommandoführung wäre Gleichrangigkeit besser.«
»Ja, gewiß«, bestätigte Chuck, »also wenn die Sache ausgestanden ist, gibt’s genug Ruhm, Rang und Gloria für alle Beteiligten.
Die Welt und die Nachwelt werden wissen, wer es vollbracht hat.«
»Also dann«, sagte Carl und stand entschlossen auf, »wollen wir wieder an die Arbeit. Ich muß mit dem Team die Landesimulatoren durchexerzieren, für den Fall, daß wir die Große direkt auf die Oberfläche von Schiwa implantieren müssen.«
Er ging zur Tür, blieb stehen und blickte zurück. »Wir dürfen uns von denen keine Propagandapunkte stehlen lassen. Chuck.«
»Nein, nein, natürlich nicht, Carl.«
»Ich gehe dann auch, Chuck, außer Sie brauchen mich noch«, sagte Lisa.
»Ja, bleiben Sie noch einen Moment hier, bitte.« Und mit einem letzten Blick auf Carl: »Unbesorgt, Carl – wenn nicht Gott persönlich dazwischenfährt, sind und bleiben Sie Kommandant von Alpha.«
»Alpha und Omega«, berichtigte Carl, und Chuck nickte. Mit grimmig entschlossener Miene und sehr geradem Rücken ging Carl hinaus. Chuck sah Lisa an und lächelte flüchtig.
»Er wird es schon machen, und zwar gut«, sagte Lisa. »Er ist sehr gut – und weiß verdammt gut, was er will.«
»Ich brauche keine Bestätigungen, Colonel Bander«, erwiderte Chuck etwas kläglich. »Über ihn schon gar nicht.«
Lisa fuhr herum. »Über wen denn?«
Achselzuckend lehnte Chuck sich zurück, so daß sein schwarzer Ledersessel knarrte. Er verschränkte die Hände hinterm Kopf und schaute auf die mit Fotos bedeckten Wände. Eine verblaßte Schwarzweißaufnahme aus White Sands mit einer abhebenden alten V 2. Ein großer farbiger Abzug von der oberen Sektion des Orion; ein Apollo XVI-Modul, von der Descartes-Region abhebend – es sah aus, als sei es aus einem Comic Strip, lauter bunte, nach allen Richtungen starrende Zacken.
Das Bild trug noch das Koordinatensystem der ferngesteuerten TV-Kamera. Daneben hing Bradshaw selbst, wesentlich jünger, durch seinen Helm grinsend, im Hintergrund noch unfertige Mondbasis. Dann die wie aus weißen Klumpen zusammengesetzte Gestalt mit der amerikanischen Flagge auf der steinigen Ebene Arcadia, dahinter am südwestlichen Himmel der ungeheure rote Berg Nix Olympica. Bradshaw mit Präsidenten und Filmstars. Bradshaw bei der Vereidigung. Die Wände sagten aus, daß Bradshaw einiges hinter sich hatte. Er wußte Bescheid. Er war kommandofähig.
»Glauben Sie, wir können es schaffen?« fragte er halblaut.
»Ich dachte, Sie brauchen keine Versicherungen?«
»Ich führe eine Umfrage durch: Haben wir irgendwas vergessen oder übersehen, muß irgendein Prozeß überprüft werden… oder sonstwas?«
»Wenn Sie nichts gefunden haben – ich schon gar nicht.«
Er schwieg, und Lisa wartete geduldig. Sie wußte, das war ein seltener Augenblick. Seine Abwehrkräfte hatten nachgelassen, wenn auch nur um ein weniges. Zweifel drängten sich ein. Im Grunde mußte das auch so sein. Sie führten das größte Raumfahrtunternehmen der Geschichte durch, und ohne vorherige Probe…
Chuck seufzte und sah auf das plane Foto seiner Frau und der beiden Kinder. Sie waren stolz auf ihn, eine große Hilfe. Ihm fiel wieder ein, wie sich Gene auf der Schule in Brownville mit zwei größeren Bengels geboxt hatte, die gesagt hatten, das ganze Mond-Unternehmen wäre Schwindel, die Aufnahmen wären alle bei Sedona im Staate Arizona geschossen worden, wo der Boden auch so rot ist. Und die kaum bemerkbare Linie zwischen den Brauen seiner Frau: Als er sich auf den Marsflug vorbereitete, hatte sie ihm gesagt, alles wäre in Ordnung, und hatte ihm verschwiegen, daß sie schwanger war. Und wie er, als er es dann erfuhr, mit seinen behandschuhten Fingern das Armaturenbrett gepackt hatte, fünfunddreißig Millionen Kilometer weit weg. Viel habe ich in letzter Zeit von den Kindern und ihrer Mutter nicht gesehen, dachte er. Nicht mal über Videophon. Er machte sich eine Notiz: Gene und Frank anrufen, ein Anruf extra für sie.
Er bemerkte, daß Lisa immer noch stumm wartete und lächelte sie verwirrt an.
»Entschuldigung. War ’n paar Millionen Meilen weit weg.« Er deutete mit dem Daumen auf das Familienfoto. »Dachte an die Bengels. Hab sie und ihre Mutter lange nicht gesehen. Das hier…« – er machte eine Armbewegung – »ist seit Wochen mein Zuhause.«
»Ihre Familie wird es verstehen.«
»Hm, ja. Louise hat mir geschrieben. Sie hat mich im Fernsehen gesehen. Ich soll besser essen, schreibt sie. Dazu muß sie mich in der Röhre sehen.« Müde schüttelte er den Kopf. »Na ja, Lisa, wir schaffen es, wir schaffen es bestimmt.«
»Wir müssen.«
»Werden wir auch. Und dann… dann mache ich mit Louise eine Weltreise. Sehen uns alles an. Den Mond, wenn sie möchte. So richtig… Essen, Schlafen, Liebe, Ausruhen. Und dann geh ich mit den Bengels auf Campingfahrt. In die Sierras wahrscheinlich. Nur wir drei. Paar Wochen einfaches Leben. Kein Taschenpiepser, keine Drucktasten, nicht ein einziger verdammter Computer, keine Videogespräche, keine Präsidenten, keine…«
»Keine Astronauten, Kosmonauten, Beerdigungsredner, Besserwisser, Montagmorgen-Sesselpuper…« Voller Zuneigung lächelte sie ihn an. »Hört sich gut an. Ähnliches habe ich auch vor.« Chuck sah sie mit erhobenen Brauen an, und sie nickte. »Dieses Weg-von-allem-Syndrom, Boss. Wir haben doch die kleine – na ja – Hütte da oben in den Rocky Mountains. Ich dachte, wir nehmen eine Kiste Moet et Chandon mit, ein paar richtige Beefsteaks, und diese australischen Granny-Smith-Äpfel, wo der Saft so rausspritzt, wenn man reinbeißt… Und eine Weile niemanden sehen.«
»Sie und Diego?«
»Wer sonst?«
»Wenn es vorbei ist…«
»Ja, wenn es vorbei ist.«
Sie schwiegen. Dann sagte Lisa: »Mein Vater hat immer gesagt, damals Anfang der Vierziger hieß es ›nach dem Kriege‹. Und dann, in den Achtzigern, hieß es ›Wenn wieder Ruhe ist‹.« Sie lächelte. »Wenn Schiwa vorbei ist, wird alles so weitergehen wie vorher…«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Seit zweitausend Jahren rechnen wir ab Christi Geburt. Vielleicht wird es jetzt heißen vor oder nach Schiwa. Nicht im Kalender, aber…« Er zuckte die Achseln.
Trübe entgegnete Lisa: »Mein Vater hat gesagt, jetzt heißt es immer ›vor oder nach Kennedys Ermordung‹. Danach war alles anders.«
»Ach, es ist immer anders.« Chuck nahm die Hände vom Kopf, schlug auf die Tischplatte und seufzte: »Schön, Colonel Bander. Ich danke Ihnen für Ihre Meinungsäußerung. Jetzt schleichen Sie sich und gehen Sie wieder an Ihren Dienst. Ich habe keine Zeit, ich muß die Welt retten.«
»Jawohl, Sir«, antwortete sie, sprang auf und grüßte militärisch. Sie war noch nicht draußen, da blaffte er schon in den Videoschirm: »Zum Teufel, Lawrence, die Daten über die Sonnenprotuberanzen sind mir ganz egal – ich brauche die Fein-Daten über den voraussichtlichen Thirring-Effect, wenn Schiwa wieder hereinkommt! Das kann sich auswirken auf – «
Still machte Lisa die Tür hinter sich zu. Chuck Bradshaw saß wieder im Sattel.