6. Mai: Kollision minus 20 Tage

 

Caroline erschauerte in dem kalten Frühjahrswind, der durch die finstere Straße blies. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen. Das ausgebrannte Wrack eines Honda sperrte den Bürgersteig. Vorsichtig umging sie es, scharfer Gestank stach ihr in die Nase. Jemand mußte dringesessen haben, während es brannte, und von dem war noch einiges übrig.

Sie hatte Angst. Das Thales Center hatte kein eigenes Wohnareal, keine leicht zu verteidigende Umzäunung, ungeschützt lag es in der einsamen, verdreckten Straße. Jemand hatte entschieden, daß die Angestellten des Center in Apartmenthäusern untergebracht wurden, in denen man eine Wache eingerichtet hatte.

Wohin ging es mit der Welt? Anarchie oder Vernichtung? Irgendwie waren das die beiden einzig möglichen Alternativen, fand Caroline. Wurde Schiwa nicht gestoppt: Vernichtung. Wurde er gestoppt, blieb die Anarchie vielleicht auf immer. Endlose Reihen ausgebrannter Häuser, Aufruhr, hedonistische Tänzer, predigende Gabriels und die sogenannten »Strauße« – solche, die ständig alles ableugneten, über alles jammerten, ständig behaupteten, das ganze sei ein Riesenschwindel der Konzerne oder der Gewerkschaften oder weiß der Teufel von wem.

An einer Ecke blieb sie stehen und spähte in die Straße. Nach Süden zu brannte es. Im Osten: Feuerwerk. Im Westen: Hubschrauber im hellen Scheinwerferstrahl. Nebel fiel. Irgendwo eine Straßenschlacht. Sie fuhr herum, denn jemand kam, einen halben Häuserblock vor ihr, aus dem Schatten, blieb stehen, starrte aggressiv zu ihr herüber, entfernte sich jedoch. Er hatte einen Baseballschläger bei sich.

Caroline holte ihre Schlüssel heraus und zog mit der anderen Hand einen ganz neuen metallenen Klauenhammer aus ihrer Umhängetasche. Sie hielt ihn fest gepackt, während sie in den Schatten trat. Hier brannten überhaupt keine Straßenlaternen mehr – alle waren kaputtgeschossen, nicht wieder repariert.

Sie blieb stehen und horchte mit gespannten Sinnen ins Dunkel. Wilde sind wir alle, dachte sie. Wie leicht ich diese nächtliche Routine übernommen habe! Noch vor ein paar Monaten hätte ich nach der Polizei geschrien. Aber Polizei war keine da, wenigstens nicht für so etwas. Jeder für sich. Sie hatte gelernt, Geräusche herauszufiltern, die fernen, die nahen und die, die nicht hineingehörten. In der vergangenen Woche war sie von zwei Männern angefallen worden; dem einen hatte sie den Hammer ins Gesicht geschlagen, der andere war geflohen. Der Blutende hatte heiser gebrüllt und ihr Kleid gepackt, bis sie ihm durch einen Hieb mit der flachen Seite ihres Klauenhammers die Finger gebrochen hatte. Keuchend, atemlos war sie weggerannt, froh, noch am Leben zu sein, im Fliehen noch triumphierend. Nicht das geringste Mitgefühl für den Mann, dem sie die Knochen gebrochen hatte. Er hatte ja gewußt, was er tat, und mußte damit rechnen, daß es auch schiefgehen konnte.

Vorsichtig ging sie bis zur Ecke, duckte sich und sah sich um. Ihr Apartment lag nur fünf Häuser weiter. Ein sechsstöckiges Mietshaus mit Klimaanlage, Zentralheizung, Kabelfernsehen, Z-Kanal-Kino, vernünftiger Miete und Nachbarn, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Der Wirt wohnte im Erdgeschoß. Sie lächelte. Es sollte ein Gesetz geben, daß Hauswirte in ihren Häusern wohnen müssen. Wenn die Warmwasseranlage ausfiel oder irgend etwas leckte, dann litten sie selbst darunter. Aber jetzt waren die beiden ersten Stockwerke mit schweren Preßspanplatten vernagelt, die noch epoxidiert und so hart wie Metall waren. Die Diele war eine sandsackbewehrte Festung, in der eine ständige Mieterwache stationiert war. Sie schritt eilig aus, auf die Glastür zu.

Sie klopfte das verabredete Signal, und einer der Mieter spähte mißtrauisch um die sandsackbewehrte Mauer. Als er sie erkannte, sagte er etwas zu den anderen und kam um die Tür aufzuschließen. »Miss Weinberg, Sie kommen aber mächtig spät.«

»Ich weiß, Mr. Sterling, aber wir hatten noch allerlei zu erledigen. Die Astronauten haben keinen Achtstundentag, wissen Sie.«

»Hm, ja«, sagte Sterling unfreundlich, spähte argwöhnisch die Straße hinunter und verschloß die Tür wieder. Er stieß Caroline an, damit sie vor ihm durch den engen Gang zwischen den Sandsäcken in die kalte Halle ginge. Sie sah sich zwischen den befestigten Wänden um.

»Guten Abend allerseits!«

»Hmm«, sagte Mrs. Murphy.

»Spät!« fügte Mr. Poole mißbilligend hinzu.

»Tut mir leid«, entgegnete Caroline. Sie spielten Karten und blickten nicht auf. Nur die alte Mrs. Keel lächelte ihr zu. »Hören Sie nicht auf diese Dickschädel, Liebchen. Die haben ja keine Ahnung von Ihrer Arbeit und wie wichtig die ist.«

»Na, na, Mrs. Keel«, protestierte Mr. Poole stirnrunzelnd.

»Ist doch wahr! Ihr ärgert euch bloß, weil ihr Wache schieben müßt. Caroline und Doktor Dennis leisten sehr wichtige Arbeit.«

»Pff«, schnaufte Mr. Sterling, setzte sich und nahm seine Karten auf. »Zu spät kommt sie trotzdem. Ihr wißt doch, daß wir bei Dunkelheit zu Hause sein sollen.«

»Ach Sie… Sie Dussel!« ereiferte sich Mrs. Keel. »Sie können ja beim Bridge nicht mal richtig bieten, und da bilden Sie sich ein, Sie könnten verstehen, was dort im Thales Center gemacht wird?«

Sterling schwieg dazu, und Caroline lächelte über seinen Kopf hinweg Mrs. Keel an und warf ihr eine Kußhand zu. An den dunklen Lifts vorbei schritt sie zur Treppe und stieg müde die drei Stockwerke zu ihrem Apartment hinauf. Sie knipste das Licht an, legte ihren Mantel ab und schaltete den Fernseher ein.

»… eine Insel der Vernunft in einer Welt des Irrsinns«, sprach der Reporter. Das Bild zeigte die Zentralkuppel der Mondkolonie, wo die Menschen anscheinend webten und lebten wie immer. »Eine lange Zeit der Kooperation und der interstellaren Kommunikation hat für die Bewohner dieses ältesten Außenpostens der Menschheit Früchte getragen. Hier spricht Earl Packard vom Mond.«

Aber dann erschien wieder der Moderator Victor Mayes auf dem Bildschirm. »Aufruhr überall. Bei einer Revolution in Pakistan soll es zweihunderttausend Tote gegeben haben. Bei einer Straßenschlacht in Tokio sind gestern eine unbekannte Anzahl von Menschen ums Leben gekommen. Dabei wurde der größte Teil des neuen Vergnügungsviertels zerstört, und Kronprinz Yoshohiro fand den Tod. Zahlreiche weitere Todesfälle durch einen Ausbruch von Viruspest in New York. Aus Washington wird gemeldet, daß Präsident Knowles’ Gesundheitszustand zu wünschen übrig läßt, doch dementiert das Weiße Haus Gerüchte, nach denen er unter schwersten Depressionen leidet. Anschließend hören Sie Jane Tomatsu mit einem Bericht aus dem Weißen Hause…«

Caroline schaltete den Apparat ab; das düstere kalte Zimmer wurde plötzlich still. Das Licht brannte nur schwach, ein kleiner glimmender Fleck in der höhlenartigen Atmosphäre. Sie öffnete den Kühlschrank, nahm eine Wurst, ein paar hartgekochte Eier und eine Scheibe Proteen heraus. Sie schnitt sich etwas Wurst auf, teilte das Proteen in mundgerechte Stücke und schälte die Eier. Eine Flasche Diätbier beschloß das Abendbrot. Morgen mußte sie auf den bewachten Markt gehen, um ihre Sonderrationen zu holen. Sie setzte sich auf die Couch und knipste das Licht aus, damit sie genügend Strom für ihr Tonbandgerät hatte. Die besänftigenden Töne von Respighis »Römischen Springbrunnen« füllten das Zimmer, farbig, beschwörend. Sie schob den Teller beiseite, auf dem noch ein paar Würfel des ingwergewürzten Proteens lagen.

Können sie es schaffen? Und wenn nicht – was dann? Würde Schiwa an der Erde vorbeigehen? Und wenn ja – würde das Leben dann jemals so sein wie früher? Paris lag zum größten Teil in Trümmern. Tel Aviv war durch terroristische Anschläge weitgehend zerstört. In Hunderten von Städten rasten Feuersbrünste, unbekämpft, fraßen Läden und Geschäfte, die niemand mehr schützen mochte. Warum sind wir so zerbrechlich, dachte sie. Ist das das Geheimnis hinter Bruder Gabriels Bewegung und den anderen von ähnlicher Art? Nach dem Rezept: akzeptieren, was man nicht verhindern kann? Seine Hilflosigkeit zu etwas Positivem machen, indem man sie auf sich nimmt, ja sogar willkommen heißt? Pockennarbig war die Erde von mächtigen, blasenwerfenden Pfuhlen, und ihrer mehr würden noch entstehen. Was kann der Mensch gegen dieses Schnellfeuergewehr des Himmels tun? Selbst die Kräfte des Atoms reichten nicht aus. Erschauernd sprang Caroline auf und holte sich einen Sweater. Es war kalt.

Wenn Wade doch endlich käme! Sie waren aus Sicherheitsgründen zusammengezogen, und um Energie zu sparen, sagten sie. Doch es war mehr als das. Verzweiflung. Tagsüber, im Dienst, waren sie cool, distanziert, verschanzten sich hinter Galgenhumor. Sie waren ja beide Profis. Doch nachts, in der Dunkelheit des Schlafzimmers, klammerten sie sich aneinander, liebten sich mit verzweifelter Leidenschaft, die wütend zu den kalten Sternen hinaufschrie: Wir leben! Manchmal weinten sie, alle beide, doch sie sprachen nicht darüber. In diesen Tagen weinen die Menschen viel, dachte Caroline, brechen in aller Öffentlichkeit plötzlich in Tränen aus, mächtige pladdernde Ströme von Tränen – eine Erleichterung, von der niemand Notiz nahm. Doch manchmal steckte so ein Weinkrampf ein Lokal, einen Bus voller Menschen an, und alle empfanden es als eine seltsame Katharsis. Ein paar Minuten lang fühlten sie sich besser. Sie nahmen teil. Sie erkannten, daß sie sterblich waren und erkannten die zerbrechliche Mortalität der menschlichen Rasse selbst.

Im Finstern lächelte Caroline wehmütig und schaute auf den glimmenden Brand im Osten. Jedenfalls würde Schiwa den Menschen von der Erde lösen, würde ihn zwingen, in die Sterne zu fahren, so oder so. Zum Überleben. Selbst wenn Schiwa diese Heimatwelt nicht zerschlagen konnte – die Menschheit würde es nie vergessen. Sie würde sich so ausbreiten, daß sie niemals völlig ausgelöscht werden konnte.

Wenn – Schiwa gestoppt wurde.

Caroline schlang die Arme um sich.

Warum bleibt Wade so lange weg? Er soll nach Hause kommen! Sie hatte ihn gern. Liebe – dessen war sie sich nicht sicher. Noch nicht.

Ich möchte das Gefühl haben, daß mein Mann sich aus eigener Kraft am Leben erhalten kann, dachte sie; daß er nicht zusammenbricht, wenn es schlimm kommt, nicht zurückschreckt vor den Problemen des Alltags. Und doch soll er sensibel genug sein, um mit mir diskutieren zu können, auch über Dinge, die ihm nahegehen und ihn schmerzen. Er braucht kein Monolith, keine Festung zu sein. Ich möchte einen, der stark und verwundbar zugleich ist. Ich möchte denken können, daß er mich beschützt, wenn es schiefläuft… und es läuft ja wirklich schief. Alle Frauen brauchen das wohl. Ich glaube, jede Frau braucht einen Mann, der sich in den grundlegenden Dingen um sie kümmert. Aber Männer brauchen dasselbe: sie brauchen die Frau, nach der sie suchen, und die nach ihnen sucht. Ich habe Wade gern, dachte sie; für ihn gibt es nicht viel, das seine Männlichkeit bedroht; er hat keine Angst vor Dingen, die ihn schwach erscheinen lassen könnten.

Aber wo ist er? Ich brauche ihn. Jetzt sofort.

Ihre Finger berührten ihren Körper, ihren Bauch, liefen kreuz und quer über ihre Haut. Die andere Hand kroch in die Bluse und umfaßte eine Brust. Diese wahnwitzige Selbstzerstörung der Welt – was war das nur? Ihre Hand glitt tiefer, bis die Fingerspitzen an der feuchten Stelle waren.

Wie mag es wohl sein, wenn man eine Erektion hat? Wenn man das heiße Pulsieren des Blutes spürt, diese treibende Lust? Manchmal verändert es die Männer so… oder zeigt sie so, wie sie wirklich sind.

Ihre Finger kreisten, preßten, preßten sich ein. Was bleibt uns noch? Ein paar Augenblicke der Lust, dann endgültige Leere? Kann das wahr sein? Nichts mehr jenseits des Nichts? Hatten die Tänzer Schiwas und die anderen alle recht? Es gibt nur den Augenblick, und die Zahl der Augenblicke ist gemessen? Tage, Stunden – endlich und gezählt?

Schiwa.

Er beherrschte alles, sogar ihre Lust.

Schiwa, dessen Symbol der Lingam ist, das Phallus-Emblem. Er wurde angebetet als die schöpferische Kraft des Universums. Aber das war nicht der wirkliche Schiwa – nur ein Asteroid.

Die Wärme breitete sich aus und wurde stärker. Die Welt wird neu erschaffen werden, ob Schiwa zuschlägt oder vorbeigeht. Sie wird nie wieder die alte sein. Vielleicht ist das gar nicht einmal so schlecht. Jetzt wissen wir, worauf es am meisten ankommt, wir haben es erkennen müssen – jeder einzelne, jede Rasse, jede Nation.

Sie stöhnte und bäumte sich auf. Ihre geübten Fingerspitzen wußten, was sie zu tun hatten. Sie hatten es immer gewußt, besser als jeder andere. Wie die Finger eines Virtuosen streichelten sie die Musik aus ihr heraus.

Schiwa. Ein Gott, der herniederfährt.

Befehlend. Besitzergreifend. Versehrend. Lust machend.

… aufsteigende Wärme, Explosionen seidenen Lichts…

Laut erklang ihr Stöhnen in dem leeren Zimmer.

Glatte Haut, feuchtwarm, gespannt und fettlos, ein Zusammenziehen…

»Ahhh…«

Eine Woge von Lust und Wärme, ausströmend, durch das zitternde Fleisch, durch das pulsende Blut…

Keuchend sank sie zurück.

Leeres Zimmer.

Leeres Leben. Angst und Nichts.

Erschlaffung, heiß.

Feuchte, krampfende Wärme. Erwachen. Ins leere Zimmer. In die Angst. Ins Jetzt.

 

Einen Tag vor dem Start des Alpha-Schiffes von Vandenberg gab die NASA die Resultate der endgültigen Systemanalyse des Alpha-Planes bekannt. Die Zuverlässigkeit des Antriebssystems betrug 87%. Die Zuverlässigkeit des Leitsystems betrug 92%. Das waren die kontrollierbaren Inputs, die Ernte jahrzehnteelanger Erfahrungen im Raum. Doch die Arbeit unter ganz neuen Bedingungen, nach einer zehntägigen Anreise, mußte sich negativ auf die personelle Zuverlässigkeit auswirken; diese wurde auf 64% geschätzt. Wenn man zu diesen Werten noch die Fehlerinhärenzen der astronomischen Daten rechnete – die genaue Geschwindigkeit, Position, Masse und Form Schiwa –, so kam man auf eine totale Systemzuverlässigkeit von 72%.

»Wir könnten noch genauer rechnen«, sagte einer der Mathematiker zu Chuck Bradshaw, »aber die Russen weigern sich immer noch, uns volle Einsicht in die Personalakten ihrer Leute zu gewähren.« Er zuckte die Achseln. »So müssen wir also schätzen und im übrigen auf das zurückgreifen, was sie seit ihrer Ankunft hier gezeigt haben.«

Für die Omega-Gruppe war die Wahrscheinlichkeitsquote des Erfolges noch schwerer zu errechnen. Diese Berechnung setzte im Grunde voraus, daß Alpha keinen Erfolg gehabt hatte und daß man die Ursache dafür kannte. Ohne diese Prämisse lehnte es die Systemgruppe ab, auch nur eine Schätzung abzugeben. Doch innerhalb der Organisation kursierten vage Prognosen von einer Erfolgswahrscheinlichkeit zwischen 38 und 42%, je nachdem, mit wem man grade sprach. Chuck Bradshaw entschloß sich, dem Omega-Team zu sagen, seine Chancen seien gut, aber unberechenbar. Diese Entscheidung wurde erst nach beträchtlichen Überlegungen gefällt. Bradshaw hatte sogar angeordnet, daß eine Studie erstellt werden sollte. Deren Ergebnisse waren so geheim, daß sie nie in den gängigen Berichten, im normalen Betriebsklatsch genannt wurden. Die optimistischsten Schätzungen lagen um 18% Wahrscheinlichkeit dafür, daß Omega schaffen würde, was Alpha gegebenenfalls nicht geschafft hatte. Die Chancen dafür, daß Omega seine offizielle Aufgabe, nämlich die Aufräumungsarbeiten nach einem Erfolg von Alpha, erfüllen würde, sollten bei 65% liegen, doch niemand interessierte sich sonderlich für diesen Aspekt der Mission.