Die dritte Phase: Nach der Befreiung aus dem
Lager
Und jetzt wollen wir
uns dem letzten Abschnitt innerhalb einer Psychologie des
Konzentrationslagers zuwenden: der Psychologie des aus dem Lager
befreiten Häftlings.
Bei der Schilderung
des Befreiungserlebnisses, die naturgemäß nie eine unpersönliche
Darstellung sein kann, wollen wir an jenen Teil unseres Berichts
anknüpfen, wo davon bereits die Rede war, wie nach Tagen höchster
Spannung eines Morgens die weiße Fahne am Lagertor wehte. Dieser
seelischen Hochspannung folgte nun eine totale innere Entspannung;
wer aber denkt, daß nun unter uns große Freude geherrscht habe, der
täuscht sich. Wie war es damals aber wirklich?
Mit müden Schritten
schleppen sich die Kameraden zum Lagertor – die Beine tragen sie
kaum. Scheu blicken sie um sich, fragend sehen sie einander an.
Dann machen sie die ersten zaghaften Schritte beim Lagertor hinaus.
Diesmal ertönt kein Kommando, diesmal duckt man sich vor keinem
Faustschlag oder Fußtritt. O nein; diesmal offeriert einem die
Lagerwache Zigaretten. Man erkennt die Posten freilich nicht sofort
als solche, denn sie haben sich inzwischen bereits beeilt,
Zivilkleidung anzulegen. Langsam geht man weiter, die
Zufahrtsstraße entlang. Schon schmerzen einen die Beine und drohen,
den Dienst zu versagen. Man schleppt sich weiter, man will die
Umgebung des Lagers erstmalig sehen – oder besser: sie erstmalig
als freier Mensch sehen. So tritt man in die Natur hinaus und in
die Freiheit. »In die Freiheit«, sagt man sich vor und wiederholt
man in Gedanken immer wieder; aber man kann es einfach nicht
fassen. Das Wort Freiheit war in den jahrelangen Sehnsuchtsträumen
schon zu sehr abgegriffen und der Begriff zu sehr verblaßt; mit der
Wirklichkeit konfrontiert, zerfließt er. Die Wirklichkeit dringt
noch nicht recht ins Bewußtsein ein: man kann es eben einfach noch
nicht fassen.
Da kommt man zu einer
Wiese. Da sieht man blühende Blumen auf ihr. Man nimmt dies alles
zur Kenntnis, aber – nicht »zum Gefühl«. Der erste kleine Funke von
Freude sprüht auf, sobald man einen Hahn bemerkt, der prächtige
vielfarbige Schwanzfedern hat. Aber es bleibt bei einem
Freudefunken, und noch hat man nicht teil an der Welt. Dann setzt
man sich unter einen Kastanienbaum, auf eine kleine Bank; weiß
Gott, welchen Ausdruck da das Gesicht annimmt -, jedenfalls: noch
macht die Welt keinen Eindruck.
Abends, wenn die
Kameraden in ihrer alten Erdhütte wieder zusammenströmen, kommt
einer zum andern und fragt ihn heimlich: »Du, sag einmal -, hast du
dich heute gefreut?« Und einer sagt dem andern – und fühlt sich
noch beschämt, weil er noch nicht weiß, daß es jedem so ergangen –
»Offen gesagt: nein!«... Man hat es buchstäblich verlernt, sich zu
freuen, und man wird es erst wieder lernen müssen.
Was da die befreiten
Kameraden erlebten, läßt sich vom psychologischen Standpunkt als
ausgesprochene Depersonalisation bezeichnen. Alles erscheint
unwirklich, unwahrscheinlich, alles erscheint wie ein bloßer Traum.
Noch kann man es nicht glauben. Zu oft, viel zu oft hat einen in
diesen letzten Jahren der Traum gefoppt. Wie oft hat man nicht
davon geträumt, daß dieser Tag anbricht und daß man sich wird frei
bewegen können! Wie oft hat man nicht davon geträumt, daß man eines
Tages heimkommt, seine Freunde begrüßt und seine Frau umarmt, sich
mit ihnen zu Tische setzt und nun zu erzählen beginnt von all dem,
was man diese Jahre über mitgemacht hat, und auch davon, wie oft
man schon diesen Tag des Wiedersehens in Träumen vorweggenommen -,
diesmal aber sei dieser Tag Wirklichkeit geworden! Da schrillen die
drei Pfiffe ins Ohr, die das »Aufstehen!« kommandieren, und reißen
einen aus dem Traum heraus, als der sich die Freiheit zum
soundsovielten Male wieder erwiesen hat. Und jetzt soll man auf
einmal glauben! Jetzt soll diese Freiheit wirkliche Wirklichkeit geworden sein?
Und doch ist es so,
eines Tages. Der Körper aber hat weniger Hemmungen als die Seele.
Von der ersten Stunde an, in der es nun möglich wird, nützt er die
Wirklichkeit, greift er zu, buchstäblich: man beginnt nämlich zu
fressen. Man ißt stundenlang, tagelang, halbe Nächte lang.
Unbegreiflich, was man da alles zusammenessen kann. Und wenn dann
der eine oder andere befreite Häftling irgendwo bei netten Bauern
in der Nähe des Lagers eingeladen ist, dann ißt er und dann trinkt
er Kaffee – und der löst ihm die Zunge, und nun beginnt er zu
erzählen, stundenlang. Da entlädt sich der jahrelange Druck, der
auf ihm gelastet hat, und vielfach macht dieses Erzählen den
Eindruck, als ob der Betreffende unter einer Art seelischem Zwang
stünde, so dranghaft ist dieses Erzählen, dieses Redenmüssen. (Eine
Beobachtung, die mir auch von Leuten bekannt ist, die, wenn auch
nur für kurze Zeit, so doch unter schwerem Druck gestanden waren,
etwa bei Gestapo-Verhören.)
Tage vergehen, viele
Tage, bis sich nicht bloß die Zunge löst, sondern irgend etwas im
Innern gelöst wird, und bis dann plötzlich das Gefühl eine Bresche
schlägt in jene merkwürdige hemmende Barriere, von der es bis dahin
noch eingedämmt war. Dann gehst du eines Tages, ein paar Tage nach
der Befreiung, übers freie Feld, kilometerweit, durch blühende
Fluren einem Marktflecken in der Umgebung des Lagers zu; Lerchen
steigen auf, schweben zur Höhe, und du hörst ihren Hymnus und ihren
Jubel, der da droben im Freien erschallt. Weit und breit ist kein
Mensch zu sehen, nichts ist um dich als die weite Erde und der
Himmel und das Jubilieren der Lerchen und der freie Raum. Da
unterbrichst du dein Hinschreiten in diesen freien Raum, da bleibst
du stehen, blickst um dich und blickst empor – und dann sinkst du
in die Knie. Du weißt in diesem Augenblick nicht viel von dir und
nicht viel von der Welt, du hörst in dir nur einen Satz, und immer
wieder denselben Satz: »Aus der Enge rief ich den Herrn, und er
antwortete mir im freien Raum.« – Wie lange du dort gekniet hast,
wie oft du diesen Satz wiederholt hast -, die Erinnerung weiß es
nicht mehr zu sagen... Aber an diesem Tage, zu jener Stunde begann
dein neues Leben – das weißt du. Und Schritt für Schritt, nicht
anders, trittst du ein in dieses neue Leben, wirst du wieder
Mensch.