Der Hohn macht die Musik

 
Das Schmerzlichste an Schlägen ist sonach begreiflicherweise der Hohn, der sie begleitet. – Einmal schleppen wir schwere, lange Eisenbahnschwellen über die vereisten Geleise. Ein Sturz kann nicht nur den Betreffenden, sondern auch die Kameraden, die an derselben Schwelle mittragen, ungemein gefährden. Ein Kollege und alter Freund von mir hat eine angeborene Hüftgelenksverrenkung. Er ist froh genug, daß er trotzdem halbwegs arbeiten kann, denn für körperlich Behinderte wie ihn bedeutet jede »Selektion« praktisch den sicheren Tod in einer Gaskammer. Nun humpelt er mit einer besonders schweren Schwelle über die Geleise. Wenige Schritte vom Stapelplatz entfernt sehe ich ihn taumeln; er droht zu stürzen und die andern mitzureißen. Ich habe noch keine Schwelle aufgeladen bekommen und springe automatisch hinzu, um ihn zu stützen und ihm beim Tragen zu helfen. Da saust aber auch schon ein Knüppel auf meinen Rücken, und mit wüstem Geschrei werde ich zurechtgewiesen und zurückbeordert. Ein paar Minuten vorher aber hatte der gleiche Aufseher uns höhnisch vorgehalten, wir Schweine kennten keinen Kameradschaftsgeist.
Ein andermal beginnen wir bei minus zwanzig Grad Celsius in einem Wald die oberste, ganz hartgefrorene Erdschicht aufzuhacken; eine Wasserleitung muß gelegt werden. Zu dieser Zeit war ich körperlich schon sehr geschwächt. Der Arbeitsaufseher kommt, pausbackig, rotwangig; sein Gesicht erinnert unbedingt an einen Schweinskopf. Beneidenswert warme Handschuhe hat er an, fällt mir auf, während wir bei dieser grimmigen Kälte ohne Handschuhe dastehen, und eine pelzgefütterte Lederjacke. Eine Weile schaut er mir stumm zu. Ich ahne Böses, weil doch die genau kontrollierbare Menge bereits ausgehobener Erde vor mir liegt. Dann fängt er an: »Du Schweinehund! Dich beobacht ich nun schon die ganze Zeit! Dir werd ich das Arbeiten noch beibringen! Und wenn du den Boden mit den Zähnen aufbeißen mußt! Du krepierst hier, dafür sorg ich schon! In zwei Tagen mach ich dich hin! Du hast ja dein Lebtag nicht gearbeitet, das sieht man gleich. Was warst du denn, du Sau? Geschäftsmann? He?« Mir ist schon alles gleich. Seine Drohung, mich in Kürze zugrunde zu richten, muß ich ja ernst nehmen. So richte ich mich auf und sehe ihm fest in die Augen: »Ich war Arzt; Facharzt.« – »Was? Arzt warst du? Ha, den Leuten hast du das Geld herausgelockt, das glaub ich!« – »Herr Arbeitsführer: zufällig habe ich meine Hauptarbeit unentgeltlich geleistet, in Ambulanzen für Arme.« Das war aber zuviel gesagt. Jetzt stürzt er sich auf mich, stößt mich zu Boden und brüllt wie ein Besessener – ich weiß nicht mehr was. Aber ich hatte Glück. Der Capo meiner Arbeitsgruppe war mir sehr verpflichtet. Er hatte mich in sein Herz geschlossen, seitdem ich seine Liebesgeschichten und Ehekonflikte während des stundenlangen Marsches zum Arbeitsplatz mit sichtlichem beruflichem Verständnis angehört und mit einer charakterologischen Diagnose über ihn sowie psychotherapeutischen Ratschlägen einigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Seither war er mir dankbar. Seine Dankbarkeit war für mich schon seit mehreren Tagen von großem Wert gewesen. Sie bestand darin, daß er mir in der ersten Fünferreihe unserer meist aus 280 Leuten bestehenden Kolonne einen Platz unmittelbar neben sich reserviert hielt. Das war für mich von großer Bedeutung. Man muß sich nur vorstellen: Frühmorgens, noch im Finstern, stellen wir uns auf. Jeder zittert davor, zu spät und daher in eine der hinteren Reihen zu stehen zu kommen. Werden für ein anderes, ungünstiges, unbeliebtes »Arbeitskommando« Leute benötigt, dann erscheint – ein gefürchteter Moment – der Lagerälteste und holt die nötige Anzahl von Männern eben meist aus den letzten Reihen heraus. Die müssen dann zu irgendeinem, aus irgendwelchem Grunde besonders gefürchteten, fremden und ungewohnten Arbeitskommando hinausmarschieren. Es kommt aber auch vor, daß der Lagerälteste – um den »Spekulanten« einen Strich durch die Rechnung zu machen – gerade die ersten Fünferreihen »schnappt«. Alles Betteln oder jeder Protest wird mit ein paar wohlgezielten Fußtritten zum Schweigen gebracht, und die Opfer seiner Auswahl werden mit Püffen und Brüllen über den Appellplatz gejagt.
Solange die Aussprachen meines Capos andauerten, ebenso lange konnte mir so etwas nicht passieren. Ich hatte meinen garantierten reservierten Ehrenplatz neben ihm. Aber noch eines: Wie fast alle Lagerinsassen litt ich um diese Zeit schon an schweren Hungerödemen. Meine Beine waren so geschwollen, dadurch die Haut so prall gespannt, daß ich die Kniegelenke nicht recht beugen konnte; die Schuhe aber mußte ich offen lassen, um mit den geschwollenen Füßen hineinzukommen. Schuhfetzen oder Socken, auch wenn es dergleichen gegeben hätte, wären nicht mehr hineingegangen. So waren die halbnackten Füße immer naß und in den Schuhen immer Schnee. Das hatte natürlich alsbald Erfrierungen, aufgebrochene Frostschäden usw. zur Folge. Buchstäblich jeder einzelne Schritt wurde zu einer kleinen Höllenqual. Außerdem bilden sich beim Marsch über die verschneiten Felder am defekten Schuhwerk Eisstollen. Immer wieder stürzen die Kameraden hin und die nachfolgenden über die gestürzten. Dann stockt der betreffende Teil der Kolonne beim Marsch, die Kolonne reißt auseinander – aber nicht für lange. Denn sofort springt einer der begleitenden Wachtposten herbei und haut mit dem Gewehrkolben auf die Kameraden ein, damit sie nur rasch wieder »aufgehn«. Je weiter vorn in der Kolonne du da marschierst, um so weniger wirken sich die immer wiederkehrenden Störungen auf deine Reihe aus, um so weniger mußt du also immer wieder stehen bleiben, um dann – trotz deiner Schmerzen in den Füßen – im Laufschritt aufzuholen. Wie glücklich mußte ich daher sein, als ehrenvoll berufener Leib-Seelenarzt des Herrn Capo neben ihm selber in der ersten Reihe und daher in ganz gleichmäßigem Tempo marschieren zu dürfen. Zu schweigen von einem zusätzlichen Leistungshonorar: Solange es noch auf den Arbeitsplätzen mittags Suppe gab, konnte ich damit rechnen, daß er bei deren Ausgabe, wenn ich an die Reihe kam, mit dem Schöpflöffel ein wenig tiefer griff und vom Boden des Fasses einige Erbsen heraufholte.
Dieser Capo, ein ehemaliger Offizier, hatte sogar hier die Zivilcourage, jenem über mich so erbosten Vorarbeiter abseits zuzuflüstern, er kenne mich sonst als einen »guten Arbeiter«. Es nützte nichts – aber diese eine meiner Lebensrettungen gelang trotz alledem: der Capo schmuggelte mich am nächsten Tag einfach in ein anderes Arbeitskommando hinein. – Was mit dieser, äußerlich gesehen und relativ betrachtet, gewiß harmlosen Episode gezeigt werden sollte, ist nur, daß auch noch den ziemlich Abgestumpften eine Welle der Empörung überkommen kann, eben nicht über irgendeine äußere Roheit oder einen zugefügten körperlichen Schmerz, sondern über den Hohn, der alles begleitet. Damals schoß mir nur so das Blut in den Kopf, als ich mit anhören mußte, wie ein Mann ohne Ahnung von meinem Leben es wertet – ein Mann (und ich muß bekennen: diese nachträgliche Feststellung gegenüber den umstehenden Kameraden erleichterte mich kindischerweise irgendwie), »ein Mann, so ordinär und brutal wirkend, daß ihn meine Stationsschwester in der Spitalsambulanz nicht einmal in den Warteraum gelassen hätte«.
Es gab auch Vorarbeiter, die mit uns Mitleid hatten und ihr Möglichstes taten, unsere Situation wenigstens auf der Baustelle zu mildern. Zwar hielten auch sie uns immer wieder vor, ein normaler Arbeiter leiste in kürzerer Zeit ein Vielfaches von unserem Pensum. Aber sie waren zugänglich, wenn man ihnen entgegenhielt, ein normaler Arbeiter lebe nicht von 300 Gramm (theoretisch; praktisch weniger) Brot und einem Liter Wassersuppe im Tag; ein normaler Arbeiter stehe nicht unter dem seelischen Druck wie wir, die wir von unseren ebenfalls in Lager verschleppten oder aber gleich vergasten Angehörigen nichts wissen; ein normaler Arbeiter stehe nicht unter der ständigen, täglichen und stündlichen Todesdrohung wie wir usw. usw. Einem gutmütigen Vorarbeiter gegenüber konnte ich mir einmal sogar leisten, zu bemerken: »Wenn Sie, Herr Vorarbeiter, in wenigen Wochen so gut Gehirnpunktionen von mir lernen werden, wie ich diese Erdarbeiten da von Ihnen, dann alle Achtung!« Und er schmunzelte.
Die Apathie als Hauptsymptom der zweiten Phase ist ein notwendiger Selbstschutzmechanismus der Psyche. Die Wirklichkeit wird abgeblendet. Alles Trachten und damit auch das gesamte Gefühlsleben konzentriert sich auf eine einzige Aufgabe: die pure Lebenserhaltung – die eigene und die gegenseitige! So konnte man immer wieder hören, wie die Kameraden, wenn sie am Abend vom Arbeitsplatz ins Lager zurückgehetzt wurden, in den typischen Stoßseufzer ausbrachen: »Nun, wieder ein Tag vorbei!«