Analyse der provisorischen Existenz
Wenn vorhin davon die
Rede war, daß der letzte Grund für die Deformierung der inneren
Lebenswirklichkeit des Menschen im Konzentrationslager nicht in den
aufgezählten psycho-physischen Ursachen liegt, sondern daß ihr
letzlich eine freie Entscheidung zugrunde liegt, so soll dies im
folgenden näher erläutert werden. Die psychologische Beobachtung an
den Lagerhäftlingen hat vor allem ergeben, daß nur derjenige in
seiner Charakterentwicklung den Einflüssen der Lagerwelt verfällt,
der sich zuvor geistig und menschlich eben fallen gelassen hat;
fallen ließ sich aber nur derjenige, der keinen inneren Halt mehr
besaß! Worin hätte nun solch ein innerer Halt bestehen sollen und
können? Dies ist jetzt unsere Frage.
Übereinstimmend hört
man aus Berichten und Selbstschilderungen des Erlebens ehemaliger
Lagerinsassen immer wieder heraus, daß das Bedrückendste eigentlich
die Tatsache gewesen sei, daß der Häftling im allgemeinen nie weiß,
wie lange er noch im Konzentrationslager wird verbleiben müssen. Er
kennt keinen Entlassungstermin! Der Entlassungstermin – sofern ein
solcher überhaupt zur Diskussion stand (in unserem Lager konnte er
z.B. gar nicht zur Diskussion stehen) – war so unbestimmt, daß sich
praktisch und erlebnismäßig nicht nur eine unabgrenzbare, sondern
eine unbegrenzte Haftdauer ergeben mußte. Und wenn ein bekannter
psychologischer Forscher gelegentlich einmal darauf hingewiesen
hat, daß sich die Daseinsweise im Konzentrationslager kennzeichnen
ließe als eine »provisorische Existenz«, dann haben wir sonach
diese Charakterisierung insofern zu ergänzen, als wir sagen: die
Existenz des Häftlings in Konzentrationslagern läßt sich definieren
als »Provisorium ohne Termin«!
Wenn die
Neueingelieferten in einem Lager ankamen, dann wußten sie
gewöhnlich nichts Rechtes über die dort waltenden Zustände. Die
Zurückgekehrten mußten schweigen, und von gewissen Lagern war noch
niemand zurückgekehrt... Mit dem Betreten des Lagers jedoch
wandelte sich die innere Szenerie: mit dem Ende der Ungewißheit kam
auch schon – die Ungewißheit des Endes. Es war nicht abzusehen, ob
überhaupt und, wenn ja, wann diese Daseinsform ihr Ende finden
würde.
Das lateinische Wort
»finis« hat bekanntlich zwei Bedeutungen: Ende – und Ziel. Ein
Mensch nun, der nicht das Ende einer (provisorischen) Daseinsform
abzusehen imstande ist, vermag auch nicht, auf ein Ziel hin zu
leben. Er kann nicht mehr, wie der Mensch im normalen Dasein, auf
die Zukunft hin existieren. Dadurch aber verändert sich die gesamte
Struktur seines Innenlebens. Es kommt zu inneren
Verfallserscheinungen, wie wir sie von andern Lebensgebieten her
bereits kennen. In einer ähnlichen psychologischen Situation
befindet sich nämlich z.B. der Arbeitslose; auch seine Existenz ist
eine provisorische geworden und auch er kann in gewissem Sinne
nicht auf die Zukunft hin, auf ein Ziel in dieser Zukunft hin
leben. Aus psychologischen Reihenuntersuchungen an arbeitslosen
Bergarbeitern hat man die Einwirkungen dieser deformierten
Existenzform auf das Zeiterleben, auf die »innere Zeit« oder
»Erlebniszeit«, wie man das psychologisch nennt, einer genauen
Untersuchung zu unterziehen Gelegenheit gehabt.
Im Lager war es nun
so: Ein kleiner Zeitabschnitt, etwa der Tag – ausgefüllt mit den
stündlichen Schikanen -, schien schier endlos zu dauern; ein
größerer Zeitabschnitt jedoch, etwa die Woche – mit dem täglichen
Einerlei -, schien unheimlich rasch zu vergehen. Und meine
Kameraden gaben mir immer recht, wenn ich sagte: Im Lager dauert
ein Tag länger als eine Woche! So paradox war dieses unheimliche
Zeiterleben.
In diesem
Zusammenhang wäre übrigens auch an die treffenden psychologischen
Bemerkungen zu erinnern, die sich etwa in Thomas Manns Roman »Der
Zauberberg« finden, wo die seelische Entwicklung von Menschen
geschildert wird, die sich in einer analogen psychologischen
Situation befinden: tuberkulöse Sanatoriumsinsassen, die ebenfalls
keinen Entlassungstermin kennen und in einer ebenso
»zukunftslosen«, nicht auf ein zukünftiges Ziel hin ausgerichteten
Existenz dahinleben wie die hier in Frage stehenden Menschentypen,
die Insassen von Konzentrationslagern.
Einer der
Lagerhäftlinge, der seinerzeit in einer langen Kolonne von neu
zugehenden künftigen Insassen vom Bahnhof zum Konzentrationslager
dahinmarschiert war, berichtete mir später einmal, er hätte das
Gefühl gehabt, als ob er »hinter seiner eigenen Leiche« herzöge. So
intensiv erlebte er damals seine absolute Zukunftslosigkeit, die
ihn zwang, sein ganzes Leben lediglich unter dem Gesichtspunkt der
Vergangenheit zu betrachten, als etwas Vergangenes anzusehen – wie
das eines Toten. Aber dieses Erlebnis, »lebender Leichnam« zu sein,
wird noch durch anderweitige Momente vertieft. Während in der Zeit
die Unbegrenztheit der Haftdauer sich fühlbar macht, macht sich im
Raum die Begrenztheit, das Eingesperrtsein fühlbar: Was außerhalb
des Stacheldrahts liegt, erscheint alsbald unnahbar, unzugänglich
und schließlich irgendwie unwirklich. Die Vorgänge da draußen
ebenso wie die Menschen außerhalb des Lagers, alles normale Leben
dort draußen wirkt auf den im Lager befindlichen irgendwie
gespenstisch. Soweit er einen Blick hinaus tun kann, erscheint ihm
das Leben dort so, wie es einem Verstorbenen erscheinen mag, der
vom »Jenseits« her auf die Welt herabblickt. Der normalen Welt
gegenüber muß daher der Häftling mit der Zeit das Gefühl bekommen,
als ob er dieser »Welt abhanden gekommen« wäre.
Die innere Lebensform
im Konzentrationslager wird so für den Menschen, der sich
menschlich fallen läßt, weil er keinen Halt mehr an einem Zielpunkt
in der Zukunft findet, zu einer retrospektiven Daseinsweise. Von
ihr, von der Tendenz zur Rückwendung auf die Vergangenheit, haben
wir in anderem Zusammenhang bereits gesprochen. Sie dient der
Entwertung der Gegenwart, samt deren Schrecken. Die Entwertung der
Gegenwart, der umgebenden Wirklichkeit, birgt aber eine gewisse
Gefahr in sich. Werden doch die Ansatzmöglichkeiten einer
Wirklichkeitsgestaltung – die es ja auch noch im Lagerleben
irgendwie gibt, wie so manches heroische Beispiel beweist – dann
leicht übersehen. Die totale Entwertung der Realität, wie sie der
provisorischen Existenzweise des Lagerhäftlings entspricht,
verführt einen vollends dazu, sich gehen zu lassen, sich fallen zu
lassen – da ja ohnedies »alles zwecklos« sei. Solche Menschen
vergessen, daß oft gerade eine außergewöhnlich schwierige äußere
Situation dem Menschen Gelegenheit gibt, innerlich über sich selbst
hinauszuwachsen. Statt gerade die äußeren Schwierigkeiten des
Lagerlebens zu einer inneren Bewährungsprobe zu gestalten, nehmen
sie das gegenwärtige Dasein nicht ernst, sie entwerten es zu etwas
Uneigentlichem, vor dem man sich am besten verschließt, indem man
sich nur mehr mit dem vergangenen Leben abgibt. Das Leben solcher
Menschen versandet dann, statt – wozu grundsätzlich die Möglichkeit
gegeben wäre – gerade unter diesen denkbar größten Schwierigkeiten
der Haftzeit zu einem Höhepunkt sich aufzuschwingen. Natürlich sind
nur wenige Menschen hierzu fähig; ihnen aber ist es gelungen, noch
im äußeren Scheitern und auch noch im Sterben zu einer menschlichen
Größe zu gelangen, die ihnen früher, in ihrer Alltagsexistenz,
vielleicht niemals beschieden gewesen wäre; für die andern jedoch,
für uns Mittelmäßige und für uns Laue, galt das Mahnwort von
Bismarck, der einmal sagte: Im Leben geht es einem so wie beim
Zahnarzt: immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und
inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die
meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren
Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in
Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben
im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von
Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein inneres
Siegen.