Eine spiritistische Séance

 
Hie und da mag einmal auch eine wissenschaftliche Debatte, auch im Lager, sich entspinnen. Ja, einmal habe ich im Lager sogar etwas erlebt, was ich, obzwar es mir professionell irgendwie naheliegen mußte, nicht einmal im früheren, normalen Leben kennengelernt hatte: eine spiritistische Séance. Ich war vom Oberarzt des Lagers, der in mir einen psychologischen Fachmann witterte, zu einer höchst geheimen Veranstaltung in dem engen Verschlag eingeladen, den er im Krankenrevier zur Behausung hatte. Dort versammelte sich ein kleiner Kreis, u.a. höchst illegalerweise der Sanitätsunteroffizier unseres Lagers. Ein ausländischer Kollege begann, mit einer Art Gebet die Geister zu beschwören. Der Revierschreiber saß vor einem leeren Blatt Papier und sollte einen Bleistift darauf halten, ohne jede bewußte Absicht, irgend etwas niederzuschreiben. Im Verlaufe von zehn Minuten – danach wurde die Sitzung wegen angeblichen Versagens der Geister oder des Mediums abgebrochen – zog nun sein Bleistift ganz, ganz langsam ein paar Linien übers Papier, die deutlich zu entziffern waren als »vae v«. Man beteuerte, der Lagerschreiber habe nie Latein gelernt und auch noch nie die Worte »vae victis!« – wehe den Besiegten! – gehört. Fragt man mich, dann sage ich: unbewußt wird er sie wohl schon einmal, irgendwann in seinem Leben, gehört und übersetzt bekommen haben und »dem Geist« – dem Geiste seines Unterbewußtseins – mußte es in unserer damaligen Situation, wenige Monate vor unserer Befreiung bzw. dem Kriegsende, naheliegen, gerade an diese Worte zu denken...