Der Bericht des Häftlings Nr. 119 104: Ein psychologischer Versuch
Wenn hier von der
»Nummer« 119 104 der Versuch unternommen wird, eine Schilderung
dessen zu geben, was dieser Häftling »als Psychologe« im
Konzentrationslager erlebte, dann muß von vornherein bemerkt
werden, daß er im Konzentrationslager natürlich nicht »als
Psychologe« tätig war, ja nicht einmal als Arzt (außer in den
letzten Wochen). Dies ist um so wichtiger, als es ja nicht um eine
Darstellung seiner persönlichen Lebensweise geht, sondern der
Weise, in der eben der gewöhnliche Häftling das Lagerleben erlebte.
Und ich sage nicht ohne Stolz, daß ich nicht mehr als solch ein
»gewöhnlicher« Häftling – eben nichts als die bloße Nr. 119 104
war. Die meiste Zeit war ich als Erdarbeiter und beim Bahnbau als
Streckenarbeiter beschäftigt. Während einige wenige Kollegen das
Glück hatten, in halbwegs geheizten, improvisierten Ambulanzen mit
Papierabfällen Verbände zu machen, habe ich beispielsweise einmal
ganz allein unter einer Straße einen Tunnel (für
Wasserleitungsrohre) gestochen. Auch das war für mich nicht
unwichtig – in Anerkennung dieser meiner »Leistung« habe ich
nämlich kurz vor Weihnachten 1944 zwei sogenannte Prämienscheine
bekommen. Das sind Scheine, die von der Baufirma ausgegeben wurden,
an die wir als Arbeitssklaven vom Lager aus buchstäblich verkauft
wurden (die Firma mußte pro Tag und Häftling der Lagerverwaltung
eine bestimmte Summe zahlen); ein Prämienschein kostete die Firma
fünfzig Pfennige und wurde, freilich zumeist erst nach Wochen, im
Lager gegen sechs Zigaretten eingelöst. Und nun war ich im Besitz
des Gegenwertes von zwölf Zigaretten! Zwölf Zigaretten bedeuteten
aber zwölf Suppen und zwölf Suppen nur allzu häufig eine wirkliche
Lebensrettung vor dem Hungertode, für beiläufig zwei Wochen. Die
Zigaretten aufzurauchen, konnte sich nur ein Capo, der seine
garantierten paar Prämienscheine pro Woche hatte, oder ein Häftling
leisten, der einer Werkstatt oder einem Magazin im Lager vorstand
und für gewisse Gegenleistungen mit Zigaretten belohnt wurde. Alle
übrigen, die gewöhnlichen Häftlinge, pflegten Zigaretten, in deren
Besitz sie auf dem Wege über Prämienscheine und somit über
lebensgefährliche zusätzliche Arbeitsleistungen kamen, in
Nahrungsmittel umzusetzen, außer sie hatten es aufgegeben,
weiterzuleben, hatten ihre Situation für aussichtslos angesehen und
beschlossen, die letzten Lebenstage, die ihnen noch zur Verfügung
standen, zu »genießen«: wenn ein Kamerad einmal begann, seine paar
Zigaretten selber zu rauchen, dann wußten wir, daß er nicht mehr
daran glaubte, weitermachen zu können – und es dann auch
tatsächlich nicht konnte.
Soviel zur
Rechtfertigung und Erklärung dessen, was der Buchtitel besagt.
Fragen wir uns aber nunmehr nach dem eigentlichen Sinn eines
solchen Unternehmens, wie dieser Bericht es darstellt.
Tatsachenberichte über die Konzentrationslager sind ja schon in
genügender Anzahl erschienen. Hier sollen jedoch Tatsachen nur
insofern vorgebracht werden, als das Erlebnis eines Menschen
jeweils das Erlebnis tatsächlichen Geschehens ist; dem Erlebnis als
solchem jedoch gelten die folgenden psychologischen Bemühungen. Ihr
Sinn ist ein doppelter, je nachdem, ob der Leser das
Konzentrationslager und das Leben daselbst aus eigenem Erleben
kennt oder nicht. Für die erstere Gruppe von Lesern soll hier das,
was sie selber tatsächlich erlebt haben, mit den zur Zeit zur
Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden zu erklären
versucht werden; für die zweite Gruppe aber soll das, was der
ersteren erklärbar ist, verstehbar werden. Es wird also darum
gehen, auch dem Außenstehenden das Erlebnis der andern verständlich
zu machen, die Erlebnisweise des Häftlings verstehen zu lassen und
so schließlich um Verständnis zu werben für den nur allzu geringen
Prozentsatz der überlebenden ehemaligen Häftlinge, für deren
eigenartige und, psychologisch gesehen, etwas durchaus Neuartiges
darstellende Einstellung zum Leben. Denn diese ist nicht so ohne
weiteres verständlich; hören wir doch die betreffenden Menschen
immer wieder sagen: »Wir sprechen nicht gerne über unser Erlebnis:
wer selber in einem Lager war, dem brauchen wir nichts zu erklären;
und wer es nicht war, dem werden wir nie begreiflich machen, wie es
in uns ausgesehen hat – und wie es auch jetzt noch in uns
aussieht.«
In methodischer
Beziehung stellen sich einem derartigen psychologischen Versuch
allerdings gewisse Schwierigkeiten. Psychologie erfordert
wissenschaftliche Distanz. Hat aber nun derjenige, der das
Lagerleben selber erlebt hat, überhaupt oder gar während des
Erlebens, zur Zeit also, da er seine einschlägigen Beobachtungen
machen mußte, die nötige Distanz? Der Außenstehende hatte die
Distanz, aber er hat auch schon zu viel Distanz, steht zu sehr
außerhalb des Erlebnisstromes, um irgendwelche gültigen Aussagen
machen zu können. Wer aber »mittendrin« stand, hat zwar vielleicht
zu wenig Distanz, um ein ganz objektives Urteil abgeben zu können
-, er allein aber weiß um das in Frage stehende Erlebnis. Natürlich
ist es nicht nur möglich, sondern nachgerade wahrscheinlich, daß
der Maßstab, den er an die Dinge anlegt, gleichsam selber verzerrt
ist. Dies läßt sich nicht ausschalten. Nur wird es darauf ankommen,
zu versuchen, das sozusagen Private aus der Darstellung womöglich
auszuschließen, wo aber nötig – auch den Mut zu einer persönlichen
Darstellung des Erlebens aufzubringen. Denn die eigentliche Gefahr
einer solchen psychologischen Untersuchung liegt ja nicht darin,
daß sie eine persönliche Tönung erfährt, sondern nur darin: daß sie
eine tendenziöse Färbung erhält. Ich kann es daher ruhig andern
überlassen, das hier Vorgebrachte nochmals und gleichsam bis zur
Unpersönlichkeit zu destillieren und so aus dem hier dargebotenen
Extrakt subjektiver Erlebnisse objektive Theorien
herauskristallisieren zu lassen.
Die psychologischen
Theorien, um die es sich hierbei handeln mag, würden als Beiträge
zu einer Psychologie bzw. Psychopathologie der Haft gehören, wie
sie ja seit Jahrzehnten bereits vorliegt. Beiträge zu ihr hat
bekanntlich schon der Erste Weltkrieg geliefert. Hat er uns doch
mit dem Krankheitsbild der »Stacheldrahtkrankheit« (barbed wire
disease) erstmalig bekanntgemacht, jener krankhaften seelischen
Reaktion, die in Kriegsgefangenenlagern zu beobachten war. Dem
Zweiten Weltkrieg war es vorbehalten, die »Psychopathologie der
Massen« – wenn man so in Variierung des bekannten Ausdrucks und
Buchtitels von Le Bon sagen darf – weiter zu bereichern: erstens
insofern, als er uns den sogenannten »Nervenkrieg« bescherte, und
zweitens, indem er uns eben das Erlebnismaterial der
Konzentrationslager beschied.
An dieser Stelle
möchte ich bemerken, daß ich dieses Buch ursprünglich nicht unter
meinem Namen erscheinen lassen wollte, sondern nur mit Angabe
meiner Häftlingsnummer. Maßgeblich war mir hiefür meine Abneigung
gegen ein Exhibitionieren von Erlebtem. Tatsächlich war die
Niederschrift schon beendet, als ich mich davon überzeugen ließ,
daß eine anonyme Veröffentlichung insofern entwertet würde, als der
Mut zum Bekenntnis den Wert einer Erkenntnis erhöht. Daraufhin habe
ich um der Sache willen auch auf nachträgliche Streichungen
verzichtet und so den gebotenen Mut zum Bekennen gegen die Scheu
vor dem Exhibitionieren ausgespielt – und damit gleichsam mir
selber einen Streich gespielt.