Bahnhof Auschwitz
Die erste Phase ist
gekennzeichnet durch das, was man als Aufnahmeschock bezeichnen
könnte; wobei wir uns allerdings vergegenwärtigen müssen, daß die
psychologische Schockwirkung unter Umständen der formalen Aufnahme
vorausgehen kann. Wie war es beispielsweise bei uns, bei jenem
Transport, mit dem etwa ich selber nach Auschwitz kam? Man stelle
sich vor: Einige Tage und mehrere Nächte ist der Transport von 1500
Personen nun schon unterwegs – in einem Zug, in dessen Waggons je
80 Menschen auf ihrem Gepäck (dem letzten Rest ihrer Habe)
herumliegen, und zwar so, daß gerade noch der oberste Teil der
Coupéfenster von den aufgestapelten Rucksäcken, Taschen usw. frei
ist und eine Sicht in die frühe Morgendämmerung erlaubt. Alles war
der Meinung, der Transport ginge in irgendeinen Rüstungsbetrieb,
dem wir als Zwangsarbeiter zur Verfügung gestellt werden sollten.
Der Zug hält nun anscheinend auf offener Strecke; man weiß noch
nicht recht, ob man sich noch in Schlesien oder bereits in Polen
befindet. Unheimlich klingt das schrille Pfeifen der Lokomotive,
gellend wie ein ahnender Hilfeschrei der durch die Maschine
personifizierten, von ihr in ein großes Unheil geführten
Menschenmasse, während der Zug, nunmehr sichtlich vor einer
größeren Station, zu rangieren beginnt. Plötzlich ein Aufschrei aus
der ängstlich wartenden Menge der Leute im Waggon: »Hier eine Tafel
– Auschwitz!« Wohl jeder muß in diesem Augenblick fühlen, wie das
Herz stockt. Auschwitz war ein Begriff, war der Inbegriff von
undeutlichen, aber dadurch nur um so schreckhafteren Vorstellungen
von Gaskammern, Krematoriumsöfen und Massentötung! Der Zug rollt
langsam weiter, wie zögernd, so, als ob er die unselige
Menschenfracht, die er führt, nur allmählich und gleichsam schonend
vor die Tatsache stellen wollte: »Auschwitz!« Jetzt sieht man schon
mehr: In der fortgeschrittenen Morgendämmerung nimmt man rechts und
links von der Strecke kilometerweit bereits die Umrisse eines
Lagers von ungeheuren Dimensionen wahr. Endlose mehrfache
Stacheldrahtumzäunungen, Wachttürme, Scheinwerfer und lange
Kolonnen zerlumpter, mit Fetzen umgebener Menschengestalten, grau
im Grau der Dämmerung und langsam, müde sich dahinwälzend durch
öde, schnurgerade Lagerstraßen – niemand weiß wohin. Vereinzelte
Kommandopfiffe hört man da und dort – niemand weiß wozu. Schon hat
der eine oder andere von uns Schreckgesichte. Ich z.B. glaubte, ein
paar Galgen und an ihnen Aufgehängte zu sehen. Mir graute, und das
war gut so: wir alle mußten Sekunde für Sekunde, Schritt für
Schritt in das große Grauen eingeführt werden. – Endlich sind wir
in die Station eingefahren. Noch rührt sich nichts. Da –
Kommandorufe in jener eigentümlichen Art von kreischendem, rauhem
Schreien, das wir von nun an immer wieder und in allen Lagern zu
hören bekommen sollten und das so klingt wie der letzte Schrei
eines Gemordeten und doch anders: belegt, heiser, wie aus der Kehle
eines Mannes, der immer wieder so schreien muß, der immer wieder
gemordet wird...
Da werden die
Waggontüren aufgerissen und eine kleine Meute von Häftlingen in der
üblichen gestreiften Häftlingstracht stürmt herein, kahlgeschoren,
aber ausgesprochen gut genährt aussehend; in allen möglichen
europäischen Sprachen sprechen sie, alle jedoch durchwegs in einer
Jovialität, die in diesem Moment und in dieser Situation irgendwie
grotesk anmutet. Wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm, so faßt
mein grundsätzlicher Optimismus, der mich seit damals immer wieder
gerade in den schwersten Lagen überkommt, nach diesem Faktum: sie
schauen nicht schlecht aus, diese Leute, sie sind sichtlich gut
aufgelegt und sie lachen sogar; wer sagt mir, daß ich nicht auch in
die verhältnismäßig günstige und glückliche Lage solcher Häftlinge
kommen werde? Die Psychiatrie kennt das Krankheitsbild des
sogenannten Begnadigungswahns: der zum Tode Verurteilte beginnt
just im letzten Augenblick, unmittelbar vor seiner Hinrichtung zu
wähnen, er würde eben erst im letzten Augenblick begnadigt werden.
So klammerten auch wir uns an Hoffnungen und glaubten auch wir bis
zum letzten Moment, es werde, es könne einfach nicht so arg sein.
Siehe die pausbäckigen und rotwangigen Gesichter dieser Häftlinge!
Noch wußten wir nichts davon, daß es sich bei ihnen um eine »Elite«
handelte, um jene Häftlingsgruppe, die dazu ausersehen war, die
Transporte von Tausenden, die täglich – durch Jahre – in den
Bahnhof Auschwitz einrollten, in Empfang zu nehmen, d.h. ihr Gepäck
zu übernehmen, mitsamt den darin enthaltenen bzw. verborgenen
Werten: den rar gewordenen Gebrauchsgegenständen und geschmuggeltem
Schmuck. Auschwitz war zu dieser Zeit fraglos ein einzigartiges
Zentrum im Spätkriegseuropa: was sich dort, und zwar nicht nur in
den riesigen Magazinen, sondern in den Händen der SS, aber auch der
uns empfangenden Häftlingsgruppe an Gold und Silber, Platin und
Brillanten befand, war wohl einzig dastehend. Während, unmittelbar
vor dem Weitertransport in kleinere Lager, 1100 Häftlinge in einer
einzigen Baracke (ich glaube, sie war für allerhöchstens 200
bestimmt) auf dem bloßen Erdboden kauernd, frierend und hungernd
herumsaßen und -standen – nicht alle hatten zum Sitzen, geschweige
denn zum Hinlegen Platz -, während wir innerhalb von vier Tagen nur
ein einziges Mal ein Stückchen Brot (etwa 150 Gramm) faßten, hörte
ich beispielsweise einmal mit an, wie der Blockälteste dieser
Baracke über eine Krawattennadel aus Platin und mit Brillanten mit
einem Häftling aus jener elitehaften Gruppe handelseinig wurde. Das
meiste wurde freilich schließlich in Schnaps umgesetzt. Ich weiß
allerdings nicht mehr, wieviel tausend Mark das für einen lustigen
Abend ausreichende Quantum Schnaps damals dort kostete. Ich weiß
nur eines: diese langjährigen Häftlinge brauchten den Schnaps. Denn
wer wollte es einem Menschen verargen, wenn er in solcher innerer
und äußerer Situation sich betäuben will? Abgesehen von jener
Gruppe von Häftlingen, die in den Gaskammern und im Krematorium
beschäftigt wurden und ganz genau wußten, daß sie, von einer andern
Gruppe turnusweise abgelöst, eines Tages selber den Weg jener Opfer
gehen müssen, denen gegenüber sie Henkersknechte zu sein gezwungen
waren; dieser Gruppe wurde Alkohol in praktisch beliebigen Mengen
sogar von der SS zur Verfügung gestellt.