Was weh tut

 
Die Apathie, die Abstumpfung des Gemüts, die innere Wurstigkeit und das Gleichgültigwerden – die Kennzeichen der von uns herausgestellten zweiten Phase innerhalb der seelischen Reaktionen des Lagerhäftlings – machen ihn bald auch unempfindlich gegen das tägliche und stündliche Geschlagenwerden. Diese Unempfindlichkeit ist eine höchst notwendige Panzerschicht, mit der sich die Seele des Häftlings beizeiten umgibt. Schläge bekommt man im Lager aus den nichtigsten Gründen – oder auch überhaupt ohne Grund. Beispiel: Auf der Baustelle, auf der ich arbeite, wird die »Brotzeit« verteilt. Wir stellen uns an, einer hinter dem andern. Mein Hintermann muß eine Fußlänge seitlich gestanden sein und dem SS-Wachtposten muß das, vielleicht aus optischem Symmetriegefühl, nicht gefallen haben; obzwar es etwa vom disziplinären Standpunkt irrelevant und überflüssig war – standen wir doch mitten auf unebenem, noch unplaniertem Gelände -, paßte es ihm nicht. Ich jedenfalls konnte keine Ahnung haben davon, was hinter mir in der Reihe – und was da wohl auch in der Seele des Wachtpostens vorging. Aber auf einmal spürte ich zwei heftige Schläge auf meinem Schädeldach. Erst dann sah ich, daß der Posten neben mir gestanden war und einen Knüppel benützt hatte.
Der körperliche Schmerz, den Schläge verursachen, ist – bei uns erwachsenen Häftlingen übrigens ebenso wie bei gezüchtigten Kindern! – nicht das Wesentliche; der seelische Schmerz, will heißen: die Empörung über die Ungerechtigkeit bzw. die Grundlosigkeit ist dasjenige, was einem in diesem Moment eigentlich weh tut. So ist es verständlich, daß ein Schlag, der gar nicht trifft, unter Umständen sogar mehr schmerzen kann: Einmal stehe ich z.B. auf offener Bahnstrecke im Schneesturm; trotzdem dürfen wir nicht die Arbeit unterbrechen; schon damit mir nicht allzu kalt wird, »stopfe« ich fleißig Geleise (mit Schotter). Für einen Augenblick halte ich mit der Arbeit inne, um auszuschnaufen, und stütze mich auf den Krampen. Unglückseligerweise wendet sich der Posten im gleichen Augenblick nach mir um und glaubt natürlich, daß ich »tacheniere«. Was mir nun – trotz allem und auch noch trotz der schon sich entwickelnden Abstumpfung – weh tut, ist nicht irgendeine Strafpredigt oder irgendwelche Prügel, die ich zu gewärtigen habe, sondern: daß dieser Posten es nicht einmal der Mühe wert findet, die herabgekommene und zerlumpte Gestalt, die nur mehr noch von ungefähr an eine menschliche Gestalt erinnern mag, diese Gestalt also, die ich da in seinen Augen wohl darstelle, eines Schimpfwortes zu würdigen. Was er nun tut, ist vielmehr folgendes: wie spielerisch hebt er einen Stein vom Boden und wirft ihn nach mir. So, mußte ich empfinden, macht man irgendein Tier aufmerksam, so erinnert man ein Haustier an seine »Arbeitspflicht«, ein Tier, zu dem man so wenig Beziehung hat, daß man es »nicht einmal« straft.