Nach dem Sinn des Lebens fragen
Was hier not tut, ist
eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens:
Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren,
daß es eigentlich nie und nimmer darauf
ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr
lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet! Zünftig
philosophisch gesprochen könnte man sagen, daß es hier also um eine
Art kopernikanische Wende geht, so zwar, daß wir nicht mehr einfach
nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern daß wir uns selbst als die
Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und
stündlich Fragen stellt – Fragen, die wir zu beantworten haben,
indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein
Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben
heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für
die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der
Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung
der Forderung der Stunde.
Diese Forderung, und
mit ihr der Sinn des Daseins, wechselt von Mensch zu Mensch und von
Augenblick zu Augenblick. Nie kann also der Sinn menschlichen
Lebens allgemein angegeben werden, nie läßt sich die Frage nach
diesem Sinn allgemein beantworten – das Leben, wie es hier gemeint
ist, ist nichts Vages, sondern jeweils etwas Konkretes, und so sind
auch die Forderungen des Lebens an uns jeweils ganz konkrete. Diese
Konkretheit bringt das Schicksal des Menschen mit sich, das für
jeden ein einmaliges und einzigartiges ist. Kein Mensch und kein
Schicksal läßt sich mit einem andern vergleichen; keine Situation
wiederholt sich. Und in jeder Situation ist der Mensch zu anderem
Verhalten aufgerufen. Bald verlangt seine konkrete Situation von
ihm, daß er handle, sein Schicksal also tätig zu gestalten
versuche, bald wieder, daß er von einer Gelegenheit Gebrauch mache,
erlebend (etwa genießend) Wertmöglichkeiten zu verwirklichen, bald
wieder, daß er das Schicksal eben schlicht auf sich nehme. Immer
aber ist jede Situation ausgezeichnet durch jene Einmaligkeit und
Einzigartigkeit, die jeweils nur eine, eine einzige, eben die
richtige »Antwort« auf die Frage zuläßt, die in der konkreten
Situation enthalten ist.
Sofern nun das
konkrete Schicksal dem Menschen ein Leid auferlegt, wird er auch in
diesem Leid eine Aufgabe, und ebenfalls eine ganz einmalige
Aufgabe, sehen müssen. Der Mensch muß sich auch dem Leid gegenüber
zu dem Bewußtsein durchringen, daß er mit diesem leidvollen
Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig
dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner
Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von
diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt, darin liegt auch
die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen
Leistung.
Für uns im
Konzentrationslager war dies alles nichts weniger als lebensfremde
Spekulation. Für uns waren solche Gedanken das einzige, was uns
noch helfen konnte! Denn diese Gedanken waren es, die uns auch dann
nicht verzweifeln ließen, wenn wir keine Chance mehr sahen, mit dem
Leben davonzukommen. Denn uns ging es längst nicht mehr um die
Frage nach dem Sinn des Lebens, wie sie oft in Naivität gestellt
wird und nichts weiter meint als die Verwirklichung irgendeines
Zieles dadurch, daß wir schaffend etwas hervorbringen. Uns ging es
um den Sinn des Lebens als jener Totalität, die auch noch den Tod
mit einbegreift und so nicht nur den Sinn von »Leben«
gewährleistet, sondern auch den Sinn von Leiden und Sterben: um
diesen Sinn haben wir gerungen!