»In den Draht gehn«?

 
Aber noch sind wir im Verlauf unserer psychologischen Untersuchung und noch waren wir damals, im Verlaufe des Geschehens um uns her und mit uns, nicht so weit. Noch befanden wir uns eben in der ersten Phase der seelischen Reaktion. Die Ausweglosigkeit der Situation, die täglich, stündlich, minütlich lauernde Todesgefahr, die Nähe des Todes anderer – der Majorität – machte es eigentlich selbstverständlich, daß nahezu jedem eine wenn auch noch so kurze Zeit lang der Gedanke an einen Selbstmord kam. Aus einer weltanschaulichen Grundeinstellung heraus, die an andern Stellen noch klar werden wird, habe ich selber unmittelbar vor dem Einschlafen am ersten Abend in Auschwitz sozusagen von einer Hand in die andere mir das Versprechen abgenommen, nicht »in den Draht zu laufen«. Mit diesem lagerüblichen Ausdruck wird die lagerübliche Methode der Selbsttötung bezeichnet: Berühren des mit elektrischer Hochspannung geladenen Stacheldrahts. Nicht in den Draht zu gehen, dieser negative Entschluß brauchte einem in Auschwitz freilich nicht schwer zu fallen: der Selbsttötungsversuch war dort schließlich ziemlich gegenstandslos; der durchschnittliche dortige Lagerinsasse konnte, rein erwartungsmäßig im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsrechnung oder ziffernmäßigen »Lebenserwartung«, doch nicht damit rechnen, zu dem ganz geringen Prozentsatz derer zählen zu dürfen, die auch alle weiteren, noch bevorstehenden Selektionen und diversen Selektionsarten überleben würden. In Auschwitz fürchtet der Häftling, der noch im Schockstadium steht, den Tod ganz und gar nicht; ihm ist in den ersten Tagen seines Aufenthaltes die Gaskammer längst kein Schrecken mehr, in seinen Augen stellt sie lediglich etwas dar, was den Selbstmord erspart.
Ich persönlich habe, laut wiederholten Aussagen unvoreingenommener Kameraden, kaum zu denen gehört, die der Aufnahmeschock besonders down gekriegt hatte, das darf ich wohl sagen; trotzdem habe ich nur lächeln können und dies ganz aufrichtig, als am Vormittag nach der ersten Auschwitzer Nacht folgendes sich abspielte: Trotz »Blocksperre« – während derer niemand ohne ausdrücklichen Auftrag seine Baracke verlassen darf – hatte sich ein bekannter Kollege, der schon Wochen vor uns in Auschwitz gelandet war, in unsere Baracke geschwindelt. Er wollte uns beruhigen, aufklären und trösten. Schon so abgemagert, daß wir ihn zuerst gar nicht wiedererkannt hatten, aber mit mehr oder minder gespielter Heiterkeit und Wurstigkeit gab er uns in aller gebotenen Eile einige Tips: »Keine Angst! Habt keine Angst vor den Selektionen! Der M. (SS-Oberarzt des Lagers) hat für Ärzte etwas übrig.« (Es war nicht wahr; aber ich will hier nicht darauf eingehen, wie falsch es war und wie teuflisch der Anschein gemeint war, den dieser »Arzt« sich zu geben pflegte. Ich weiß nur eines: ein Blockarzt, selber Häftling, ein Mann von etwa sechzig Jahren, schilderte mir, wie er den Dr. M. angefleht hatte, seinen Sohn, der für die Gaskammer bestimmt worden war, ihm herauszugeben – Dr. M. aber hatte das ebenso kalt wie strikt abgelehnt.) »Nur eines bitte und rate ich euch, rasiert euch, wenn möglich, täglich, womit immer, meinetwegen mit einem Glasscherben, oder gebt euer letztes Stück Brot dafür her, daß einer euch rasiert. Ihr schaut dann jünger aus und die Wangen werden rosiger, wenn an ihnen herumgeschabt worden ist. Nur nicht krank werden, nur nicht krank aussehen! Wollt ihr am Leben bleiben, dann gibt es nur ein Mittel: den Eindruck der Arbeitsfähigkeit erwecken. Es genügt hier, daß ihr wegen einer kleinen, banalen Verletzung, wegen einer Schuhdruckstelle, hinkt. Sieht so einen die SS, winkt sie ihn herbei und am nächsten Tag geht er garantiert ins Gas. Wißt ihr schon, was man bei uns einen Muselman nennt? Eine Jammergestalt, einen Herabgekommenen, der kränklich aussieht, abgemagert ist und körperlich nicht mehr schwer arbeiten kann. Über kurz oder lang, meist über kurz, wandert jeder Muselman ins Gas! Daher nochmals: rasiert euch, steht und geht immer stramm! Dann braucht ihr keine Angst vor dem Gas zu haben. Wie ihr da vor mir steht, zwar erst vierundzwanzig Stunden im Lager, aber immerhin, ihr braucht alle keine Angst vor dem Gas zu haben, außer vielleicht einer von euch – du«; jetzt wies er auf mich; »du bist mir doch nicht bös? Aber ich sag’s euch offen: höchstens der«, jetzt deutete er mit dem Kopf wieder nach mir, »unter euch allen höchstens der kommt für die nächste Selektion in Betracht. Also beruhigt euch!« Ich schwöre: ich habe damals gelächelt; und ich bin überzeugt, jeder andere an meiner Stelle und an diesem Tage hätte nichts anderes getan.
Gotthold Ephraim Lessing war es, der einmal gesagt hat: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.« In einer abnormalen Situation ist eine abnormale Reaktion eben das normale Verhalten. Auch als Psychiater erwarten wir sozusagen, daß ein Mensch, je normaler er ist, desto abnormaler auf die Tatsache reagieren wird, daß er in die abnorme Situation geraten ist, etwa in eine Irrenanstalt aufgenommen worden zu sein. Auch die Reaktion des Häftlings auf seine Aufnahme ins Konzentrationslager stellt einen abnormen Seelenzustand dar, an sich betrachtet aber eine normale und, wie sich zeigen soll, typische Gemütsreaktion, sofern sie im Zusammenhang der so gegebenen Situation gesehen wird.