12

Gerald hetzte die Treppe hoch. Die Tür war nur angelehnt. Er klopfte laut, trat in den Flur, zog sich das Jackett und die Schuhe aus.

Nele kam aus dem Schlafzimmer, Severin auf dem Arm. Sie hatte sich ganz gegen ihre Gewohnheit geschminkt, der Lippenstift leuchtete wie eine rote Ampel in stockfinsterer Nacht. Nele empfand ihre Lippen eigentlich als zu schmal und unsinnlich und war deshalb auch immer zurückhaltend mit Lippenstift gewesen. Die Jeans saß hauteng, ebenso das schwarze Top, das er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie an ihr gesehen hatte.

»Entschuldige bitte«, sagte er und spürte die Irritation über ihr Outfit in seiner Stimme. »Ich bin zu spät, ich weiß, aber es ging einfach nicht früher. Der Mordfall …«

Sie schaute ihn frontal an. Ihr Parfüm legte sich wie eine Wolke um seinen Kopf. »Wenn die Zeit sowieso schon abgelaufen ist, kommt es auf die paar Minuten auch nicht mehr an.«

Sie übergab ihm Severin, als wäre er ein Paket, nahm eine Handtasche von der Garderobe und packte ihr Portemonnaie, das Handy und ein Päckchen Taschentücher hinein.

»Dann bin ich jetzt mal weg«, sagte sie, eine Hand am Türgriff. »Es ist vorbereitete Milch im Kühlschrank. Er wird heute nur noch eine Flasche trinken, in circa einer Stunde. Aber eine zweite für die Nacht oder am Morgen ist auch schon fertig. Stell sie ins Wasserbad, sobald er unruhig wird. Pass auf die Temperatur auf, ganz langsam erwärmen.«

»Ich mache es nicht zum ersten Mal«, sagte er gereizt.

»Ich aber«, sagte sie und warf einen letzten kontrollierenden Blick in den Spiegel. Dann war sie verschwunden. Gerald ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und streichelte das Gesicht seines Sohnes. Severin fixierte ihn; es war, als ob seine blauen Augen einen Gang hochschalteten, so sehr intensivierte sich der Blick. Er gurrte etwas, dann lächelte er. Aber nicht die Lippen lächelten, sondern das ganze Gesicht schien sich zu einem Lächeln zu formen. Alles ist eins bei ihm, dachte Gerald, der Kopf, der Körper, das Gefühl. Doch mit der Zeit verlieren wir diese Fähigkeit, uns voll und ganz einem Gefühl hinzugeben. Wieder gurrte Severin. Er bewegte die Beine, strampelte leicht.

»Wenn wir deine Mutter treffen wollten«, sagte Gerald und reichte Severin seinen Zeigefinger, den er sofort mit einer Hand fest umschloss, »müssten wir nur ihrem Parfüm folgen. Es legt eine lange, lange Spur, es würde uns zu ihr führen, wenn sie beispielsweise in die Schwabinger Altstadt gefahren wäre, wo bekanntlich tausend attraktive Männer pro Quadratkilometer in den Kneipen anzutreffen sind.«

Attraktiv? Wer war eigentlich für Franziska attraktiv? Ein sportlicher, unbeschwerter Student oder doch ein arrivierter Erfolgstyp wie Harald Steinhaus? Steinhaus. Der Name schob sich wie ein Schutzwall in Geralds Bewusstsein. Batzko hatte nach der Unterredung bei Chateaux mit der Bank telefoniert: Genauere Auskünfte würde er erst am Montag bekommen, aber was er inoffiziell schon erfahren hatte, ließ die Goldlegierung an der Vita des Börsen-Yuppies abblättern. Ja, er hatte tatsächlich viel Kohle verdient an der Börse, aber er hatte sie in den letzten Jahren wieder in den Sand gesetzt. Sieh an, hatte Batzko gefeixt. Dann hat er doch nicht rechtzeitig den Absprung geschafft und vielleicht die Kontrolle verloren, ist ausgerastet, als Reuther bei ihrem letzten Treffen von der Operation erzählte, die ihn für Wochen, wenn nicht für Monate außer Gefecht gesetzt hätte.

Severin murrte, wand sich in Geralds Arm. Er hungerte nach Beschäftigung, Bewegung, darauf, bespaßt zu werden. Gerald schloss abwechselnd das linke und rechte Auge, nahm die Babyfaust zwischen seine Lippen und ging mit seinem Sohn auf dem Arm ins Wohnzimmer. Er setzte sich in den Fernsehsessel, nahm einen Untersetzer aus Kork vom Bücherregal – dort hatte er immer sein Glas platziert, wenn er, es musste Jahrhunderte her sein, Musik gehört oder sogar Klarinette geübt hatte – und gab ihn Severin, der ihn umfasste, an ihm kaute, ihn auf seinen Bauch fallen ließ und wieder aufnahm.

Gerald schaute sich um in diesem Zimmer, das in einen merkwürdigen Dornröschenschlaf gefallen schien. Staub auf der Musikanlage, auf der Klarinette, den Böden des Bücherregals. Hier hatte sich nichts bewegt, aber um Gerald und Nele war die Welt aus den Fugen geraten. Die Nacht mit Franziska hatte Gerald nicht nur bewusst gemacht, wie sehr er die Zärtlichkeiten und den Sex vermisst hatte. Sie hatte auch seine Wahrnehmung Nele gegenüber verändert. Nein, das war längst keine nachgeburtliche, mit sexueller Apathie einhergehende Depression mehr. Die Wahrheit war vermutlich einfacher und viel brutaler. Sie hatte keine Lust mehr auf ihn, sie war seiner überdrüssig, und nun sah sie den Zeitpunkt gekommen, ihm das in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. In ihrem Look hatte sie binnen Minuten zehn Batzkos um sich, wenn sie nur an einem Tresen lehnte.

Er spürte plötzlich eine große Angst vor diesem Abend und dem Alleinsein mit Severin. Wann würde sein Sohn einschlafen? Würde er selbst nicht zu erschöpft sein, um ihn mitten in der Nacht zu versorgen, wenn er aufwachte und Nele noch nicht zurückgekehrt war? Er spielte mit dem Gedanken, seine Mutter anzurufen, um sie zu sich zu bitten, aber dazu war seine Verzweiflung dann doch nicht groß genug. Seine Mutter schlich seit Monaten auf Zehenspitzen um die Kleinfamilie herum, schien nur auf den Moment zu warten, in dem die Krise ausbrechen würde. Insgeheim spekulierte sie vielleicht sogar darauf, sie würde ihn, Gerald, wieder zurückbekommen und Gerald als Single-Vater würde sie viel mehr brauchen als jetzt. Gerald atmete tief ein. Vielleicht würde es ja so kommen, aber diesen Abend würde er ohne seine Mutter durchstehen. Und auch ohne Batzko, der vermutlich gerade seinen ersten Drink an der Bar des Fitnesscenters nahm, nachdem er in einer halben Stunde fünfzigtausend Kilo gestemmt hatte. Sie würden ihn hoffentlich etwas abkühlen; wenn Batzko seinen Jähzorn nicht besser in den Griff bekam, würde Gerald ihm vor jeder Zeugenbefragung Handschellen und einen Maulkorb anlegen müssen.

Severin wurde unruhig. Er schien mittlerweile genau zu merken, wann man auf ihn konzentriert war und wann nicht. Gerald hob ihn über die Schulter, stellte sich ans Fenster, erzählte etwas über die Autos, die Straßenbahn, die Bewohner, die mit Einkaufstaschen in ihre Häuser zurückkehrten. Aber die Unruhe steigerte sich zu einer Quengelei, und Gerald begriff, dass es Zeit für die Flasche war.

Eine halbe Stunde später lag Severin auf dem Wickeltisch. Gerald hatte während des Flaschegebens für sich selbst ein paar Wurstscheiben aus dem Kühlschrank genommen, auf trockenes Brot gelegt und mit zwei Flaschen Bier hinuntergespült. Nun fühlte er sich leicht beschwipst. Aber Severin war gesättigt und wirkte müde. Seine Augen verfolgten seinen Vater, versuchten mit größter Anstrengung offen zu bleiben.

Der perfekte Moment, um ihm eine frische Windel für die Nacht anzuziehen. Gerald trug ihn ins Bad und zog ihn auf dem Wickeltisch aus. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, an ihm zu riechen. Wenn Engel einen Geruch hätten, wäre es der von Babys. Unvermittelt musste er an Franziskas Körper denken. Sie war ein wenig größer und schlanker als Nele. Sie hatten sehr behutsam miteinander geschlafen. Anders als Nele, die ihn immer direkt aufgefordert hatte, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, und regelrecht schnalzte, wenn ihre Erregung stieg, war Franziska zurückhaltend und leise geblieben. Aber sie hatte sich sehr viel Zeit gelassen, seinen Körper zu erkunden, von den Ohrläppchen bis zu den Zehen, in einer Intensität und Ausdauer, in der vielleicht Blinde einen Gegenstand erkunden. Gerald hatte ihr vollkommen vertraut, er hatte sich angenommen gefühlt und nicht als sexueller Dienstleister. Dieses Gefühl hatte ihm Nele manchmal vermittelt, wie er sich nun eingestehen musste.

Wenig später trug er Sevi, dessen Augen glasig wurden, nach nebenan und legte ihn neben sich ins Bett. Dann schloss er selbst die Augen, ein kleiner Akt der Manipulation, der manchmal erstaunlich gut funktionierte. Sevi blieb still, und als Gerald nach wenigen Minuten die Augen öffnete, war sein Sohn eingeschlafen. Die kleine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Gerald hoffte inständig, dass er bis mindestens vier Uhr durchschlafen würde.

Er ging ins Wohnzimmer und füllte ein Wasserglas mit Whiskey. Vor dem ersten Schluck zögerte er noch: Was, wenn Severin wach würde, gewickelt werden musste, wenn er plötzlich hohes Fieber bekäme und Gerald einen Arzt kommen lassen müsste – sollte er den mit einer Whiskeyfahne begrüßen? Doch dann verlor selbst diese Vorstellung ihren Schrecken, und er nahm zwei kräftige Schlucke.

Nach einer halben Stunde, in der er nichts weiter tat, als noch mehr zu trinken und dem abnehmenden Verkehr auf der Lindenschmitstraße zuzuhören (da war kein Taxi, das vor dem Haus hielt, keine Nele, die ausstieg, die Treppen hochrannte, ins Wohnzimmer kam und ihn um Entschuldigung bat), griff er zum Telefon.

Er musste es viermal klingeln lassen, bis er ihre Stimme hörte.

»Ja? Hallo?«

Er schluckte, wischte sich über den Mund, als könne er dadurch den Alkoholkonsum verdecken.

»Ich bin es. Entschuldige, wenn ich dich störe.«

Sie zögerte einen Moment und seufzte dann leicht.

»Du störst nicht. Was gibt’s?«

»Mein Gott. Ich fühle mich derzeit so weit weg von dem Punkt, überhaupt zu erkennen, was gut für mich ist. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das jemals gewusst habe. Nur bei dir habe ich gewusst, dass es gut für mich ist, was wir tun.«

Sie schwieg, und mit jeder Sekunde vergrößerte sich seine Angst vor ihrer Antwort. »In diesem Moment bist du alles für mich. Alles, was ich habe und was ich will. Leg bitte nicht auf.«

»Ich lege nicht auf. Wie kommst du darauf?«

»Nichts. Ich hatte nur gerade den Eindruck. Willst du denn auflegen?«

Sie holte tief Luft. Dann war ein Geräusch zu hören, als würde sie sich setzen oder zumindest ihre Position ändern, in der sie mit ihm sprach.

»Bist du betrunken, Gerald? Ich will unseren Kontakt nicht beenden. Aber ich habe den Eindruck, dass du durch mich deine Probleme nicht wirklich lösen kannst. Ich glaube, wir beide können nicht aus unserem Leben springen, nur weil wir eine problematische Phase durchmachen.«

»Ja. Ich weiß. Aber das alleine hat uns doch nicht zusammengebracht. Wir sind doch viel mehr als die Summe unserer jeweiligen Schwierigkeiten. Da ist viel mehr, was dahinterliegt. Ich spüre es. Nur bei dir finde ich die Ruhe, nach der ich mich immer gesehnt habe. Bei dir habe ich nicht das Gefühl, für Liebe kämpfen zu müssen. Oder etwas beweisen zu müssen. Bei dir spüre ich, dass es gut ist, so wie es ist. Ich liebe dich, Franziska.« Als er diesen Satz aussprach, vielmehr ihn hörte, als ob ein anderer ihn gesprochen hätte, fühlte er, dass es die Wahrheit war, aber er war nicht betrunken genug, um zu leugnen, dass die Wahrheit aus weit mehr bestand als aus diesem einen Satz.

»Gerald, wir wollten allein schon wegen der Ermittlungen nicht miteinander sprechen. Das war eine feste Abmachung. Davon unabhängig, wissen wir im Grunde doch beide, dass wir eine Pause machen sollten. Es war nicht gut, dass wir uns so nahe gekommen sind. Nach Alexanders Tod … Ich war schrecklich deprimiert und allein. Du warst mir von Anfang an sehr sympathisch. In gewissem Sinne glaube ich, dass mich dein Unglück, deine Zerquältheit angezogen hat. So fühlte ich mich selbst weniger isoliert. Ich konnte mit niemandem reden, das war das Schlimmste. Arno hatte viel zu viel mit sich selbst und seinen Problemen zu tun. Alexander war nicht mehr da, der einzige Mensch, mit dem ich rückhaltlos über alles reden konnte, war aus meinem Leben gerissen worden. Er hätte sich niemals umgebracht, allein schon aus Verantwortung und Liebe mir gegenüber. Aber wem hätte ich das sagen können? Chateaux hat sich so seltsam verhalten, er hat Alexander aus unserem Kreis verbannt, als wäre er niemals bei uns gewesen.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. »Wie weit seid ihr eigentlich? Gibt es Neuigkeiten? Auch über Arnos Tod?« Sie sprach die letzten Sätze sehr schnell, als wäre sie froh, nicht über sich selbst und ihn sprechen zu müssen. Und er hatte nicht mehr die Kraft, sich dagegenzustemmen.

»Wir ermitteln und ermitteln. Es gibt Verdächtige, ja, aber es wird noch etwas dauern, bis wir ein vollständiges Bild haben. Gehst du eigentlich noch zu Chateaux?«

»Er hat die Gruppentherapie für einen Monat ausgesetzt. Er hat Arnos Tod zum Anlass genommen, die Sommerpause für die Gruppe, die er eigentlich für August geplant hatte, vorzuziehen. »

»Verstehe. Siehst du ihn dennoch, ich meine, redest du mit ihm über deine Operation?«

»Ich glaube schon, dass ich mit ihm reden werde. So in ein, zwei Wochen, wenn sich die Aufregungen etwas gelegt haben werden. Aber weißt du was? Lutz hat bei mir angerufen und gefragt, ob wir, also die Therapiegruppe, uns in dem Monat nicht auf privater Ebene treffen können. Ausgerechnet Lutz! Das hat mich völlig überrascht. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass er seine aggressive Panzerung so langsam aufgeben will. Ich habe zugestimmt. Es wird traurig ohne Arno, aber das Alleinsein wäre für mich noch viel trauriger, denke ich. Lutz will die anderen anrufen. Morgen treffen wir uns bei mir. Wir haben überlegt, ob wir Chateaux überhaupt davon in Kenntnis setzen sollen. Lutz war dagegen, aber ich habe Chateaux angerufen, damit er das nicht als Vertrauensbruch auffasst. Er war nicht gerade begeistert und hat nur unter der Bedingung zugestimmt, dass alle mit dieser Regelung einverstanden sind und an den Treffen teilnehmen. Er will verhindern, dass sich etwas verändert, bis sich die Gruppe wieder in seiner Praxis versammelt. Chateaux kann eben auch ein ziemlicher Kontrollfreak sein.«

Gerald schwieg. Er spürte, dass die Gruppe ihm zu fehlen begann. Er war ihr als verdeckter Ermittler beigetreten und hatte hier in der Gruppe paradoxerweise offener über sich selbst gesprochen als zu irgendeinem anderen Menschen in den letzten Jahren. Seine Identität dort war ein Fake, und gleichwohl hatte er viel über seine wahren Gefühle und Ängste erfahren. Wie ein Schauspieler, der seinen Text spricht und plötzlich feststellt, dass er ihn selbst und nicht die dargestellte Figur betrifft.

Dann hörte er, wie Severin zuerst schluchzte und schließlich zu schreien begann. Vermutlich musste er noch einmal gewickelt werden. Gerald stand auf und spürte zu seiner großen Erleichterung, dass er sicher auf den Beinen stand. Severins Schreien wurde lauter. Überstürzt verabschiedete sich Gerald von Franziska und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie über das vorzeitige Ende des Telefonats erleichtert war.