6
Am nächsten Morgen versuchte Gerald, sich an den Namen der Krankheit zu erinnern. Aber er wusste nur noch, dass sie mit »Body« anfing, aus vier Worten bestand und das letzte geklungen hatte wie »disaster«. Er hatte versäumt, in seinem Auto zu einem Zettel zu greifen, sobald die beiden anderen fortgefahren waren. Während der Fahrt hatte er immerzu an Franziska denken müssen. Vor seinem geistigen Auge hatte er den Abend Revue passieren lassen, um jede ihrer Gesten und Worte einzufangen. Er hatte in seiner Hochstimmung sogar leise gesummt, und das war ihm seit vielen Monaten nicht mehr passiert.
Nun saß er in seinem Büro, vor sich auf dem Schreibtisch eine Alibi-Akte, und googelte »body« in Verbindung mit »desaster«. Aber die Trefferzahl war unüberschaubar. Dann fügte er den Begriff »Operation« hinzu und stieß, nachdem er zahlreiche Seiten durchgesehen hatte, auf die Abkürzung »BIID«. Das war der Begriff! Gerald fand dazu zwar einige einschlägige Artikel, beschloss aber, sich direkt an eine kompetente Person zu wenden.
Er wählte die Nummer der Gerichtsmedizin, und diesmal hob Dr. Niels Wembler sofort ab.
»Na, Herr van Loren, haben wir beide wieder eine Leiche im Keller?«
Da war erneut diese aufreizende Munterkeit, die Gerald an den Kellner am Vorabend erinnerte. Er konnte sie nur schwer ertragen, besonders am frühen Vormittag.
»Es geht noch einmal um den jungen Mann von Anfang der Woche mit dieser exzentrischen Amputation«, sagte er betont sachlich. »Sie erinnern sich sicher.«
»Ja«, sagte Dr. Wembler, und es klang nicht so, als wäre er begeistert, an den Fall erinnert zu werden.
»Ich habe inzwischen ein wenig mehr über ihn erfahren. Kann es sich dabei um BIID, also ›Body Integrity Identity Disorder‹ handeln?«
Zunächst kam gar keine Reaktion, sodass Gerald schon an eine technische Störung dachte. Schließlich hörte er ein unterdrücktes »Shit, dass ich daran nicht gedacht habe. Verzeihung, es hätte mir auffallen müssen, die Narbe ist ja wie ein Ausrufezeichen. Dieses Krankheitsbild hat zwar nichts mit der Ursache seines Todes zu tun, aber ich hätte es natürlich erkennen müssen. Ich hoffe, ich habe dadurch Ihre Untersuchungen nicht erschwert, Herr van Loren.«
Das Schuldbewusstsein des Mediziners spielte Gerald in die Karten. »Das kann ich momentan nicht beurteilen. Ich dachte nur, bevor ich durchs Internet surfe und mich durch einen Berg von Artikeln quäle …«
»Verstehe. Sie haben etwas gut bei mir. Ich muss in diesen Tagen sowieso ins Präsidium. Soll ich am späten Vormittag auf einen Sprung bei Ihnen vorbeikommen?«
Etwas später tippte Gerald das Aktenzeichen für den Fall Alexander Faden in den Computer ein, und siehe da, die Kollegen von der Streife hatten mittlerweile ihre Pflicht erfüllt. Tendenziell lustlos, wie befürchtet. Gerald las die spärlichen Angaben und stieß auf den Satz: »Eingangstür zur Wohnung nur angelehnt.«
Und das hat euch, liebe Kollegen, nicht zu denken gegeben?, dachte Gerald. Ein Selbstmörder, der die Wohnungstür offen lässt? Es kam immer wieder vor, dass ein vermeintlich Lebensmüder Hinweise gab und gezielt Spuren legte, um rechtzeitig gefunden zu werden. Aber unser Mann hat sich nicht die Pulsadern aufgeschnitten und in die Badewanne gelegt oder ein Röhrchen Schlaftabletten geschluckt und insgeheim gehofft, dass ein Nachbar oder Freund vorbeikommt und den Notarzt alarmiert. Alexander Faden ist aus dem vierten Stock gestürzt, und selbst, wenn er in seinem Innersten auf jemand gehofft hätte, der ihn von seiner Tat abhielte, ergab die nicht verschlossene Tür einfach keinen Sinn. Wollte er, post mortem, der Polizei die Arbeit erleichtern, indem sie die Tür nicht aufbrechen mussten? Es gab zwar Menschen, die vor ihrem Suizid die Wohnung putzten, den Müllsack hinaustrugen, ihre Papiere, Ausweise, den Mietvertrag und die Autoschlüssel säuberlich geordnet neben den Abschiedsbrief legten, aber das alles traf auf Alexander Faden nicht zu. Dies war ein weiteres Indiz, das Geralds Zweifel nährte.
Eine Stunde später klopfte ein kleiner, rundlicher Mann an die offen stehende Tür. Er war jung, vielleicht Anfang dreißig, hatte dichte, mittelblonde Haare, die gelockt waren und dem vollen Gesicht mit der glatten Haut etwas Bübisches verliehen. Er trug eine helle Hose, ein blaues Hemd und eine passende Krawatte – alles so aufeinander abgestimmt, dass es einen leichten Stich ins Feminine hatte.
»Dr. Wembler?«
Statt zu antworten, hob der Mann einfach die Augenbrauen und lächelte verschmitzt.
»Danke für Ihren Besuch. Bitte setzen Sie sich doch.«
Der Gerichtsmediziner schaute auf den Besuchertisch in der Ecke des Zimmers. »Muss es dort sein? Da fühle ich mich ja wie bei einem Verhör, mit Tonbandgerät und einem zweiten Kollegen, der im Zimmer auf und ab geht und droht, mich zu verhaften, wenn ich mich nicht kooperativ zeige.«
»Sie haben zu viele Krimis gesehen.«
Der Arzt hob beide Hände vor die Brust. »Gott bewahre. Ich stehe keinen Kriminalfilm durch. Ich kann stundenlang zuschauen, wie sich Würmer durch einen Leichnam fressen oder Insekten ihre Larven legen. Das ist wie Heimkino für mich, aber wenn in einem Film ein Kind seinem Mörder begegnet oder eine Frau ihrem Vergewaltiger, ist mein Finger in Lichtgeschwindigkeit an der Fernbedienung. Miss Marple ist das Härteste, was ich mir zumuten kann.«
Gerald wies auf Batzkos Schreibtisch. »Mein Kollege hat heute Urlaub. Wenn Sie möchten …«
Dr. Wembler nahm das Angebot an. Nur war er so viel kleiner als Batzko, dass er kaum über die Schreibtischplatte ragte; als wäre er plötzlich zu einem Schuljungen geschrumpft. Es schien ihn jedoch nicht zu stören. Er legte die Handflächen gegeneinander, blies die Luft durch die Backen und begann. »BIID, also Body Integrity Identity Disorder, ist ein ziemlich junges und sehr kontrovers diskutiertes Phänomen. Die Betroffenen sind nach herkömmlichen Maßstäben physisch vollkommen gesund, aber sie sehnen sich danach, einen Körperteil wie einen Unterschenkel oder einen Arm zu verlieren. Sie empfinden sich paradoxerweise erst durch den Verlust einer Extremität als komplett. Es gibt auch Patienten, die eine Querschnittslähmung wünschen. Der Drang nach dem physischen Verlust kann so stark werden, dass die Betroffenen sich mit der Axt einen Arm abhacken, ein Bein auf ein Bahngleis legen oder das betreffende Körperteil so lange von der Blutzufuhr abtrennen, bis es von einem Chirurgen entfernt werden muss. Das lässt den massiven Leidensdruck ahnen, unter dem diese Menschen stehen. Viele, die nicht zu dieser extremen ›Selbsthilfe‹ greifen, haben tiefe Depressionen, werden arbeitsunfähig, isolieren sich von ihrer Umwelt, der sie ihren Wunsch aus Scham nicht mitteilen wollen.«
»Kennt man die Ursache der Krankheit?«
»Nicht wirklich. Sehen Sie, ich bin Naturwissenschaftler durch und durch, ich habe gerne zu jeder Krankheit eine eindeutige Erklärung. Von A nach B, verstehen Sie, und ich als Mediziner suche die Verbindung, die manchmal unmittelbar ist und manchmal gewunden und kompliziert, aber immerhin vorhanden in dem physiologischen Weltreich, das jeder Mensch darstellt. Es gibt auch für BIID einen entsprechenden neurologischen Ansatz. Demnach liegt eine Schädigung im so genannten somasensorischen Kortex vor, in dem unser Gehirn das Körperbewusstsein abbildet. Stellen Sie es sich so vor, dass in diesem Teil des Gehirns eine Fotografie unseres Körpers liegt, und auf dieser Fotografie fehlt ein Bein. Und diese Fotografie bestimmt tragischerweise das Selbstbild, nicht der reale Körper. Das Bein wird für sie zu einem störenden Fremdkörper, sie fühlen sich, ähnlich wie Transsexuelle, in einem Körper gefangen, den sie nicht als den ihren wahrnehmen. Das Ich führt Krieg gegen die eigene Physis.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, so sind solche Patienten nach einer Amputation zunächst einmal am Ziel ihrer persönlichen Wünsche. Kann das ein Motiv sein, die Operationsnarbe ästhetisch gestalten zu lassen, gleichsam wie zur Bestätigung?«
»Touché.« Der Arzt ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. Gerald, der seinen Kollegen Batzko, den Einmeterneunzig-Schrank, vor dem geistigen Auge hatte, musste ein Lächeln unterdrücken, als er den promovierten Dreikäsehoch im Sessel geradezu versinken sah.
»Bei rund einem Drittel der Patienten hat der Stumpf eine fetischistische, bisweilen auch sexuelle Komponente. Sie lieben ihren Stumpf, sie finden ihn ästhetisch und hocherotisch. Ich weiß nicht, warum mir das bei der Obduktion nicht aufgefallen ist. Vielleicht hat die eindeutige Todesursache durch die Sturzverletzungen meine Wachsamkeit eingeschläfert. Wie auch immer – deshalb bin ich ja auch persönlich zu Ihnen gekommen.« Wembler zwinkerte mit einem Auge.
»Gibt es eigentlich geschlechtsspezifische Unterschiede bei BIID-Patienten?«
»Ich denke nicht. Keinesfalls sind sie markant. Bemerkenswert ist jedoch, dass eine Mehrzahl der Patienten eine überdurchschnittliche Schulbildung besitzt und ihr Einkommen ebenfalls überdurchschnittlich ist. Der klassische BIID-Betroffene ist gewissermaßen Ihr Nachbar im Reihenhaus, der unauffällig lebt, kein Trinker ist und keine Drogen konsumiert. Andere Studien haben belegt, dass der Anteil an Homosexuellen weit höher ist als im Durchschnitt, aber diese Tatsache kann nach dem aktuellen Wissensstand nur festgestellt und nicht direkt in Bezug zur Krankheit gesetzt werden.«
»Sie sprachen davon, dass sich die Medizin erst in letzter Zeit intensiver mit diesem Phänomen befasst. Heißt das, dass diese Erkrankung vorher nicht in Erscheinung getreten ist? Oder wurde sie lediglich nicht wissenschaftlich wahrgenommen?«
»Sie scheinen ja ein vertieftes Interesse an diesem Fall zu haben«, kommentierte Dr. Wembler. »Tatsächlich gibt es in der Medizingeschichte Berichte von Ärzten, die auf den dringenden Wunsch von Patienten Amputationen vorgenommen haben und die berichten, dass sich diese anschließend wie neugeboren fühlten. Ein Fall aus dem achtzehnten Jahrhundert ist sehr gut dokumentiert, das herzerweichende Dankschreiben des Patienten eingeschlossen. Der Mediziner hat es sicher zu seiner eigenen Legitimation aufbewahrt. Es steht zu vermuten, dass es dieses Krankheitsbild immer schon gab, aber erst in den letzten Jahrzehnten seine Stimme gefunden hat, wenn ich mich so ausdrücken darf. Der Körper ist längst eine enttabuisierte Zone, wir lassen uns Fett absaugen, die Brüste vergrößern, unser Gesicht und die Geschlechtsorgane piercen oder mit Tattoos bemalen – unser Körper als Leinwand unserer Sehnsüchte, Träume und Neurosen. Der Mediziner kreiert einen Körper wie ein Bildhauer eine Skulptur. Die ästhetische Chirurgie lässt kaum noch Wünsche offen, und diese neue Freiheit, in Anführungszeichen, führt dazu, dass viele Menschen über ihre geheimsten Phantasien sprechen und sich darüber im Internet austauschen. Es ist heutzutage viel leichter geworden, sich zu outen. Man kann mit Gleichgesinnten in Foren diskutieren, und man kann, wenn man will, im Internet anonym bleiben.«
»Ist es wirklich so, dass Menschen mit BIID nur durch eine Amputation erlöst werden – auch wenn einem dieser Begriff kaum über die Lippen gehen will?«
Der Gerichtsmediziner antwortete nicht sofort. Er nahm einen Kugelschreiber von Batzkos Schreibunterlage und drehte ihn in seinen Händen. Er wirkte nachdenklich, das Joviale war schlagartig verschwunden.
»Tatsächlich gibt es keine erfolgversprechende alternative Behandlung. Weder medikamentös noch psychotherapeutisch. Es scheint aktuell so, dass BIID in sich selbst besteht, sie ist nicht Ausdruck einer anderen, tieferen psychosozialen Störung, die behandelbar wäre. Die Psychotherapie und die Schulmedizin müssen die Waffen strecken, so sieht es im Moment leider aus. Die Krankheit ist eine Provokation, weil sie uns keinen Code zu ihrer Behandlung mitgibt.«
»Bedeutet das, dass ein BIID-Patient eine Amputation jederzeit und an jedem Ort vornehmen lassen kann?«
»Nein. Ein schottischer Psychiater und Chirurg namens Robert Smith hat im Jahre 2000 zwei organisch vollkommen gesunden Männern, die an BIID litten, ein Bein amputiert. Dieses Vorgehen hat in der Fachwelt für Empörung gesorgt, denn es stellt ja die traditionelle medizinische Denkweise auf den Kopf, indem nicht ein kranker Teil des Körpers behandelt, sondern ein gesunder entfernt wird. Aber Robert Smith hat die Fakten für sich sprechen lassen: Zwei seit Jahrzehnten unter Depressionen und Selbstmordabsichten leidende Menschen empfinden ihr Leben nach der Operation als glücklich und erfüllt. Als Arzt habe er also seine Funktion erfüllt, so Smith, indem er die einzig wirksame Behandlung für diese Krankheitsform durchgeführt habe. Aber dieser Kollege befindet sich immer noch in einer heftig attackierten Außenseiterposition. Die Gegner begründen ihre strikt ablehnende Haltung zunächst einmal auf der formalen Ebene damit, dass BIID noch nicht in die internationale Klassifikation der Krankheiten, den so genannten ICD-Katalog, Eingang gefunden hat. BIID ist auch nicht im Handbuch psychischer Störungen, im so genannten DSM, gelistet. Es ist eine Krankheit in einem wissenschaftlichen Niemandsland, gleichsam ohne psychiatrische oder neurologische Daseinsberechtigung. Deshalb beträte jeder Chirurg ein juristisches Minenfeld, wenn er eine solche Operation vornehmen würde, denn eine Amputation wäre ohne eine eindeutige medizinische Indikation strafrechtlich als Körperverletzung zu betrachten und kann in Deutschland mit einer Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden. BIID müsste also zunächst wissenschaftlich in den Rang einer ernsthaften Erkrankung befördert werden, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, um einen Mediziner, der eine derartige Operation durchführen will, rechtlich und auch ethisch zu schützen.«
»Wie verhalten sich die Krankenkassen? Übernehmen sie die Behandlungskosten?«
»Jein. Sie übernehmen die psychotherapeutische – und damit bis dato erfolglose – Behandlung der psychischen Folgeerscheinungen wie Depressionen und Suizidgefahr, aber nicht eine Amputation. Pflaster für die Symptome, nichts gegen die Ursache. Womit wir wieder beim Irrsinn unseres Gesundheitssystems wären. Aber das bitte nur als Randbemerkung.«
»Kann ich also davon ausgehen, dass Alexander Faden nicht in Deutschland operiert wurde?«
»Sie können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Alexander Faden nicht in Deutschland operiert wurde. Vermutlich hat er auf eigene Kosten einen Arzt im europäischen Ausland, vielleicht sogar in Asien kontaktiert.«
Gerald überlegte, welche Position Dr. Chateaux in dieser Frage wohl bezogen hatte. Hatte er Alexander von einer Operation abgeraten, im Vertrauen auf seine psychotherapeutische Behandlung, oder hatte er seinem jungen Patienten vielleicht sogar geholfen, einen Chirurgen zu finden? Gerald entschloss sich, diese Fragen für sich zu behalten. Sie spielten für den Gerichtsmediziner schließlich keine Rolle und standen auch nicht im Widerspruch zu seinen Aussagen.
»Wenn ich alles richtig verstanden habe«, sagte er, »dann hat Alexander Faden, also vorausgesetzt, er litt an BIID, jene Behandlung gewählt, die geeignet ist, das Leiden zu beenden. Richtig?«
Dr. Wembler nickte.
»Mit anderen Worten: Als Motiv für einen Suizid scheidet die Erkrankung aus.«
»Ja.« Niels Wember sagte es so laut, als sollte es das Schlusswort sein. Er räusperte sich dezent und schaute auf seine Armbanduhr. »Natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, Herr van Loren. Jetzt habe ich allerdings eine andere Verpflichtung.«
»Vielen Dank für das informative Gespräch«, antwortete Gerald und wollte dem Arzt dennoch nicht seine Schlussfrage ersparen. »Ich möchte Ihre Kollegialität nicht überstrapazieren, aber mich würde Ihre persönliche Meinung zu diesem Phänomen brennend interessieren.«
Dr. Wembler drehte sich zur Seite und schaute zum Besuchertisch. »Nun fühle ich mich doch wie beim Verhör«, sagte er und versuchte sich an einem Lächeln, das nicht überspielen konnte, wie unwohl sich der Gerichtsmediziner fühlte. »Es ist eine tückische Zwickmühle in meinen Augen. Ärzte sollen das menschliche Leiden lindern, das ist ihre Aufgabe. Und jedes menschliche Leiden verdient eine angemessene medizinische Betreuung, auch wenn es wie bei BIID unserem Menschenbild radikal widerspricht. Unter diesem Aspekt kann ich einen Chirurgen nicht verdammen, der nach einer gründlichen Untersuchung zur Überzeugung gelangt, dass ein Patient nur durch eine Amputation von seinem Leiden befreit werden kann. Auf der anderen Seite kann man nur hoffen, dass die Krankheit bald besser erforscht sein wird und Therapien gefunden werden, die den Wunsch nach einer Verstümmelung gleichsam einschläfern. Vielleicht handelt es sich ja tatsächlich um eine neurologische Abnormalität, die durch geeignete Medikamente therapierbar ist. Eine Amputation ist irreversibel, hingegen kann eine gute psychotherapeutische Behandlung die Lebensqualität so weit verbessern, dass man Zeit gewinnt, bis alternative Heilungsmethoden entwickelt werden. Deshalb ist auch diese Haltung – abgesehen davon, dass der Gesetzgeber ja erst eine rechtliche Klarheit für eine Amputation schaffen müsste – hundertprozentig zu akzeptieren. Es ist nicht eins zu eins vergleichbar, aber auch in den Fragen der aktiven und passiven Sterbehilfe muss das individuelle Ethos des behandelnden Mediziners die letzte Instanz sein. Er muss ab einem bestimmten Punkt das Recht besitzen zu handeln wie auch das Recht, eine bestimmte Behandlung nicht durchzuführen. Er darf nicht verpflichtet werden, die Apparate abzuschalten, wenn er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Aber er darf verpflichtet werden, seine Haltung transparent zu machen und den Patienten in der Konsequenz auch in die Behandlung eines Kollegen zu übergeben, der genau das tun würde, was er selbst verweigert.«
»Ich verstehe«, sagte Gerald zögerlich. Aber was er eigentlich meinte, war: Ich sehe, dass Sie nicht beantworten wollen oder können, wie Sie selbst sich als behandelnder Arzt verhalten würden.
Als hätte er die Gedanken seines Gesprächspartners gelesen, fuhr der Mediziner mit einem Seufzer der Erleichterung fort. »Kurzum, ich bin nicht unglücklich, zu einer Säge zu greifen, einen Leichnam zu öffnen, Organe zu entnehmen, Proben in Reagenzgläser zu legen und Maden, Würmer und Fliegen zu nähren. Das ist zwar bizarr in den Augen vieler, mir als Mediziner verleiht es jedoch einen Seelenfrieden, den ich als praktizierender Arzt nicht hätte.«
Unvermittelt stand er auf, fingerte in der Brusttasche seines Hemdes nach einer Visitenkarte und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Im nächsten Moment war er aus dem Zimmer verschwunden.
Gerald betrachtete erneut die Fotos, die Wembler ihm vor ein paar Tagen geschickt hatte. Nun konnte er ermessen, wie beschwerlich der Weg zu einer Operation für Alexander Faden gewesen sein musste. Wo hatte er sie durchführen lassen? Wie hatte er sie finanziert?
Du wirst sehen, sagte Gerald zu dem abwesenden Batzko, dass mich mein Instinkt nicht betrogen hat. Hier ist niemand aus freien Stücken in den Tod gesprungen. Hier ist jemand, so merkwürdig es uns erscheinen mag, nach der Wunschoperation ins Leben zurückgekehrt. Aber bei dir, mein lieber Batzko, du Quadratschädel, muss eine Leiche ein Messer im Rücken haben oder es muss ein Zettel am Tatort liegen: Dies war ein Mord. Aber so einfach liegen die Dinge nicht immer und ganz sicher nicht in diesem Fall.
Dann legte er die Mappe zurück auf den Schreibtisch und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken.
»Gerald? Du musst sagen, wenn ich dich gerade störe.« Wie immer ließ seine Mutter ihm nicht einmal die Zeit zum Atmen, bevor sie fortfuhr. »Ich war heute Vormittag in der Gegend, und da habe ich spontan bei euch geklingelt. Ich weiß, dass man sich besser vorher ankündigen sollte, aber am späten Vormittag, dachte ich mir, kann man nun wirklich kein Kind aus dem Schlaf reißen.«
»Mutter, es passt gerade nicht so gut. Ich sitze in meinem Büro und habe einen Haufen Arbeit vor mir liegen«, sagte Gerald müde. Er spürte schon einen ersten Anflug von Kopfschmerzen. Jetzt und hier wollte er sich nicht auch noch mit seiner Familiensituation befassen müssen.
»Ich bin so froh«, fuhr sie in ungedrosseltem Tempo fort, »dass Severin diese scheußliche Ohrengeschichte überwunden hat, und obwohl dir meine Meinung in diesen Dingen wenig oder auch nichts bedeutet, sage ich dir, dass jede überstandene Krankheit die Kinder in ihrer Entwicklung weiterbringt. Severin sieht prächtig aus, er hat einen richtigen Schub gemacht. Das hat die Natur so vorgesehen, das ist ihr Lohn.«
Sie hielt inne, und Gerald spürte, dass sie einen Anlauf nahm, um zu sagen, was sie eigentlich loswerden wollte.
»Gerald? Darf ich offen zu dir sein?«
»Ich werde es nicht verhindern können.«
Sie räusperte sich, und ihre Stimme klang mit einem Mal verunsichert. »Ich kann nicht sagen, dass ich mich bei deiner Partnerin wohlfühle. Ich gebe mir alle erdenkliche Mühe, hilfsbereit zu sein. Aber wenn ich Sevi auf den Arm nehme, werde ich ermahnt, eine Hand unter den Kopf zu legen, weil seine Nackenmuskulatur noch nicht ausgeprägt genug ist. Wenn er auf meinem Schoß sitzt, muss ich ihn an beiden Händen festhalten, damit er ja nicht nach hinten kippt. Wenn ich ihn wickeln will, darf ich das Eincremen nicht vergessen; aber ja nicht zu viel. Gerald, ich kann die Überempfindlichkeit deiner Lebensgefährtin gut verstehen, aber es ist ja nicht so, dass der Klapperstorch dich am Tag der Einschulung bei mir abgegeben hätte.«
Gerald spürte wie immer den Nadelstich, wenn seine Mutter von »deiner Lebensgefährtin« oder »deiner Partnerin« sprach, anstatt einfach »Nele« zu sagen. Er empfand diesen Ausdruck als bewusst distanzierend, so wie sie Gerald gegenüber nur von »deinem Vater« sprach, wenn sie ihren Ehemann meinte, der vor über zwanzig Jahren eines Nachts die Wohnung verlassen hatte, um niemals zurückzukehren. Sein einziges Lebenszeichen waren die Unterhaltszahlungen bis zu seiner Volljährigkeit gewesen. Weder er noch seine Mutter wussten seitdem, wo und wie und ob er überhaupt noch lebte. Es hatte sich deshalb eine besondere Nähe zwischen ihm und seiner Mutter entwickelt, und vor Nele hatte er ihr nur zwei Freundinnen offiziell vorgestellt. Seine Mutter hatte diese Freundinnen akzeptiert, aber bereits die erste Begegnung mit Nele vor gut einem Jahr hatte ein anderes Vorzeichen getragen, als hätte seine Mutter instinktiv erkannt, dass es diese Frau sein würde, mit der Gerald den Rest seines Lebens verbringen wollte. Und mit der er eine Familie gründen würde. Die ihr das niederdrückende Gefühl vermitteln würde, nicht mehr unersetzbar zu sein, in einem Wort: sterblich.
»Gerald, bist du noch dran? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Natürlich, Mutter.« Er hatte im Stillen schon seit längerem auf einen Ausbruch dieser Art gewartet. Neles Argwohn seiner Mutter gegenüber war auch ihm aufgefallen. Wenn Geralds Mutter ihren Enkel anzog, korrigierte Nele anschließend immer den Sitz des Stramplers. Wenn sie mit ihm spielte, mahnte Nele, keine zu heftigen Bewegungen zu machen. Wenn sie ihn auf die Wange küsste, erwähnte Nele wie beiläufig die Empfindlichkeit der Babyhaut.
»Es ist ja nicht so, Mutter, dass Nele deine Hilfe ablehnen würde. Sie hat nur Angst, dass etwas passieren könnte. Ihre Übervorsicht ist nicht nur auf dich bezogen. Sie bezieht sich auf alle, die sich Severin auf mehr als drei Meter nähern, den Kinderarzt eingeschlossen.«
»Und den Vater des Kindes«, fügte sie hinzu.
Gerald beschloss, ihre Bemerkung zu überhören. »Das wird sich von selbst korrigieren, Mutter. Beim achten oder neunten Kind wird sie schon lockerer werden.«
»Ich weiß, dass es im Grunde nicht persönlich gemeint ist.« Ihre besorgte Stimme signalisierte, dass sein Versuch, das Gespräch in ein entspannteres Fahrwasser zu lenken, gescheitert war. »Zumindest hoffe ich es. Meine Freundinnen, die bereits Großmütter sind, machen letztlich dieselben Erfahrungen. Ihr lest ein halbes Dutzend Bücher über Schwangerschaft und Geburt, ihr besucht Vorbereitungskurse bei Hebammen und im Krankenhaus, als würdet ihr euch auf eine bemannte Raumfahrt vorbereiten. Aber ich habe den Eindruck, dass ihr euch dadurch nur darauf konzentriert, was man alles falsch machen kann. In meiner Generation hatten wir das Zutrauen, dass alles schon seinen Weg gehen würde. Ich habe mich einfach auf meinen Instinkt verlassen, aber den scheint ihr verloren zu haben. Deine Partnerin ist ja ein einziges Nervenbündel. Ich kann es kaum mit ansehen.«
»Es wird schon besser werden«, antwortete er und ärgerte sich erneut darüber, dass sie Neles Namen partout nicht aussprechen wollte.
»Und du? Wie gehst du damit um? Versteht ihr beide euch weiterhin gut?«
»Natürlich. Wie kommst du jetzt darauf, Mutter?«
Sie gab lange keinen Ton von sich. Gerald kannte das: Es handelte sich um ihre »Ich-glaube-dir-einfach-nicht«-Stille. Und die konterte Gerald mit derselben Waffe. Von seiner Seite handelte es sich um die »Mutter, das-geht-dich-nichts-an«-Stille.
»Kommt ihr am Sonntag vielleicht zum Essen?«, fragte sie nach gefühlten zehn Schweigeminuten. »Oder zum Kaffee, wenn es wegen des Stillens zu kompliziert sein sollte mit einem Mittagessen?«
»Ich weiß noch nicht, Mutter. Wir rufen dich an.«
»Gerald?« Ihr Tonfall hatte sich geändert. Das Aufgeregte war gewichen und hatte einer ernsten Anteilnahme Platz gemacht.
»Ich wollte dir, das heißt, euch anbieten … Sobald deine Lebensgefährtin abgestillt hat, könnte ich den kleinen Sevi gern für ein paar Tage zu mir nehmen. Ich traue mich nicht, ihr den Vorschlag zu machen. Aber dir sage ich es. Fahrt ein paar Tage weg. Erholt euch. Ich mache mir wirklich Sorgen um euch.«
Der Vorschlag traf ihn vollkommen unvorbereitet. Blitzartig erkannte er, dass seine Mutter ins Schwarze getroffen hatte. Es war das, was sie wirklich tun sollten, aber das konnte er seiner Mutter unmöglich eingestehen.
»Das ist nett von dir.« Er spürte, wie sich jetzt auch seine Stimme veränderte. »Ich muss los zu einer Besprechung. Wir telefonieren wieder. Tut mir leid, aber die Pflicht ruft.«
Von wegen Pflicht. Er hatte sich in die Formelhaftigkeit geflüchtet, aus Furcht, die Selbstkontrolle zu verlieren. Er wollte seiner Mutter nicht mitteilen, wie sehr ihn die Situation in seinen vier Wänden deprimierte. Und das Schlimmste daran war, dass er mit Nele nicht darüber reden konnte. Gerald stand auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. Er konnte nicht nur mit Nele nicht reden, er konnte eigentlich mit keinem reden. Es gab niemanden, den er jetzt anrufen konnte, um ihm mitzuteilen, wie es ihm ging. Seine Arbeit und die Geburt von Severin hatten ihn in letzter Zeit so vereinnahmt, dass er seine Freunde vernachlässigt hatte. Und jetzt fehlte ihm der Mut, sich wieder bei ihnen zu melden.
An der Pinwand zuhause in der Diele hing eine Telefonliste aus dem Geburtsvorbereitungskurs für Paare; fünf Abende, die er anfangs aus Interesse und bald nur noch aus Pflichtgefühl absolviert hatte. Die anderen Teilnehmer waren zwar ganz nett gewesen, aber auch in den Pausen hatte sich alles nur um das Baby gedreht, als wäre die Schwangerschaft ein gemeinsamer biologischer Zustand. So war er, zu Neles Missfallen, in der Gruppe immer wortkarger geworden und hatte sich nach Severins Geburt vor weiteren Treffen gedrückt. Eine Stunde mit praktischen Tipps für das Wickeln, Baden und Fiebermessen hätte ihm vollkommen gereicht. Aber das durfte man heutzutage nicht laut sagen.
Franziska, dachte er plötzlich, mit ihr würde er reden können. Sie war warmherzig, unkompliziert, sie hatte ihn angelächelt. Wann hatte ihn Nele zuletzt mit dieser Offenheit angelächelt? Er wusste es nicht. Ebenso wenig wusste er, wann sie zuletzt miteinander geschlafen hatten.