Wind fegte durchs Lager, als Raoul eine Stunde später aufgewühlt von der Burg zurückkam. Es hatte zu regnen begonnen. Die letzten Rüstungen waren in sandgefüllten Fässern gereinigt, die letzten Bettler und Scharlatane hatten sich ins Trockene verzogen. Nur noch wenige Knechte kochten über den Feuern Fleischsuppe. Zwischen Zelten und Buden hing Nebel und tauchte die Wimpel in eintöniges Grau, ließ Stimmen, Tierlaute und das Klirren der Rüstungen irgendwo aus dem Nichts kommen. Ein Windstoß fuhr durch seinen schwarzen Waffenrock und das dunkle Haar. Er wirkte verändert. Sein Gesicht hatte die Anspannung verloren, und die scharfe Falte um seinen Mund war weicher.
Als er das Fell vor seinem Zelt zurückschlug und hereintrat, erhob sich Anna langsam. Einen Moment fürchtete sie, zwischen ihnen würde sich derselbe Graben auftun wie zwischen ihr und Ulrich. Sie dachte an das, was er ihr in den Bergen einmal gesagt hatte: Wäre die ganze Welt mein, ich würde sie weggeben, wenn die Königin von England in meinen Armen läge. Aber das war ein Lied. Wenn er erst einmal Herr über eine Burg war, würde er seine Ansicht vielleicht auch ändern.
Hier im Zelt war das ohnehin dämmrige Tageslicht noch einmal gedämpfter. Nur das leise Prasseln des Regens auf den gewachsten Zeltbahnen durchbrach die Stille. Langsam kam er auf sie zu. Er wollte sprechen, aber Anna legte den Finger auf die Lippen. Sie wollte nichts hören. Die meisten Frauen wussten nicht einmal, wie es war, bei einem Mann zu liegen, den sie liebten. Es zählte nur, dass sie hier waren, zusammen. Ganz gleich ob es das letzte Mal war oder nicht.
Sanft legte Raoul sie auf sein Lager und strich ihr Haar zurück, das wie ein rotgoldener Schleier darüberfiel. Anna genoss die Wärme seiner Hände auf ihrem Körper. Als er sie einfach nur immer wieder streichelte und küsste, wusste sie, was ihm das, was sie für ihn getan hatte, bedeutete.
Irgendwann richtete sie sich auf, und er zog sie auf seinen Schoß. Die kleinen Haare auf ihrem Rücken stellten sich auf, als er ihr das Kleid abstreifte und der Stoff über ihre nackte Haut rutschte. Annas Finger glitten über seinen Bart und berührten den Mund. Schwer atmend streiften ihre Lippen über seine. »Mein Geliebter«, flüsterte sie, ehe das Spiel ihrer Leidenschaft von neuem begann.
Zarter feuchter Dunst lag am nächsten Morgen über Kaltenberg. Noch schwieg das Lager zu Füßen des Turnierplatzes in tiefem Schlaf. Einzelne Nebeltropfen schlugen sich glitzernd auf den Zelten nieder, und die Wimpel hingen schwer von der morgendlichen Feuchtigkeit herab. Über den Schwaden sog die Sonne den Dunst an und färbte den Nebel zart golden.
Das taunasse Gras vor Raouls Zelt am Rand des Lagers war unberührt, nur das Licht fiel sanft herein. Am Boden lagen Kleidungsstücke. Außer dem mit Fellen gepolsterten Strohlager und dem Hocker gab es keine Einrichtung. Eng aneinandergeschmiegt schälten sich die beiden nackten Körper aus dem Halbdunkel. Annas Haar, das im ersten Licht flammend rot aufglühte, floss über Raouls Brust. Das dunstvergoldete Licht warf seinen Schimmer auf ihre helle Haut und die dunklere des Mannes.
Sie schlug die Augen auf und blinzelte. Unter ihrer Wange spürte sie das ruhige, regelmäßige Schlagen seines Herzens. Einzelne goldene Fäden zitterten über ihren Nasenflügeln. Erster Rauchduft hing in der Luft, aber das Prasseln des Regens hatte aufgehört. Schlaftrunken richtete sie sich auf.
Raouls dichtbewimperte Lider waren geschlossen. Die vorstehenden Wangenknochen und das kräftige Kinn wurden vom Morgenlicht aus dem Schatten gemeißelt. Mühsam widerstand sie der Versuchung, ihn wieder zu küssen, stattdessen zog sie zärtlich das Fell über ihn. Er würde seine Kräfte brauchen.
Sie wollte aufstehen, doch er hielt sie am Ellbogen zurück. Überrascht blickte sie auf ihn herab. Er hatte die Augen geöffnet und sah sie hellwach an. Von draußen drang gedämpft der Ruf eines Herolds herein. »Es ist Morgen«, flüsterte sie. »Hör doch.«
»Soll ich wirklich?« Lächelnd legte Raoul die Hand auf ihren Nacken, und sein Arm schimmerte durch ihr Haar. Sie wünschte, die Nacht würde noch dauern, nur einen Augenblick, dann noch einen … Anna beugte sich über ihn. »Vielleicht ist es doch noch nicht so spät.«
Er zog sie zu sich herab, und alles andere wurde ihr gleichgültig. Es gab nur noch sie beide, hier und jetzt. Ihre Lippen fanden sich in langen, fordernden Küssen. Unter ihren Händen bewegten sich die Muskeln unter seiner gebräunten Haut, seine Finger glitten über ihren Rücken. In seinen Armen fühlte sie sich stark und glücklich, hatte vor nichts mehr Angst. Wieder rief der Herold, diesmal etwas näher. Widerwillig befreite sie sich. »Es ist Zeit.«
Er beobachtete sie, während sie ihr Unterkleid aufhob, und sie genoss seine Blicke mit langsamen Bewegungen. Schließlich zog sie noch das Haar aus dem Kleid und ließ es über den Rücken fallen.
Während er nach seinem Hemd griff, sah sie hinaus, wo das morgendlich ruhige Lager vor ihr ausgebreitet lag. Ein Junge trieb eine Herde blökender Ziegen durch die Zelte, die ersten Ritter krochen aus ihren Zelten und reckten die geschundenen Körper in den Hemden. Sie hörte Raoul hinter sich herankommen, schmiegte sich in seine Arme und spürte seine Lippen, die ihre suchten und fanden. Seine Hände auf ihren Hüften weckten das Verlangen von neuem.
Steffen war nirgends zu sehen, nur Maimun tauchte verschlafen auf und etwas später Sebastian. Also half Anna ihrem Geliebten in das schwere gesteppte Untergewand aus Filz und Wolle. Darüber kamen Kettenhemd, Kapuze und Beinlinge, die am Gürtel befestigt und unter den Sohlen geschnürt wurden, und schließlich Arm- und Beinschienen und der leinene, mit Eisen verstärkte Plattenrock. Während sie die Lederriemen festzog, folgte er ihr mit Blicken, und immer wieder lächelten sie sich verstohlen zu.
»Sobald ich Herr von Kaltenberg bin, bist du meine Leibeigene, nicht mehr die von Hermann. Dann werde ich dafür sorgen, dass es niemand wagt, dich eine Hexe zu nennen«, versprach Raoul und zog sie an sich. »Wärst du ein Mann, könntest du es weit bringen, weißt du das?«
Anna nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn. Er wusste genauso gut wie sie, dass das nichts änderte. Ein Mann konnte mit viel Glück und Begabung die Schranken seiner Geburt überwinden. Eine Frau niemals.
Während er den Topfhelm festschnüren ließ, nahm sie die Lanze und den neuen Schild, der aus mehreren verleimten Holzschichten bestand, mit Leder überzogen und mit Eisen beschlagen war. Zum Schluss reichte sie ihm noch das lange Schwert in den Sattel. Ihre Hände berührten sich dabei.
Raoul musste zur Frühmesse und nahm Sebastian und Maimun mit. Anna folgte ihm mit den Augen, bis sein Rappe zwischen den Zelten nicht mehr zu sehen war. Ein Schwein schnüffelte zwischen den Zelten herum, der Duft von frischem Brot und Dünnbier erinnerte sie daran, dass sie noch nichts gegessen hatte. Es war noch etwas Zeit: Knirschend polierte der Knappe nebenan die Brechscheibe an der Lanze seines Herrn. Er hatte nicht die ganze anderthalb Klafter lange Lanze zusammengesteckt, sondern nur den unteren Teil vor sich. Auch Raouls Lanze trug eine solche Scheibe. Er hatte ihr gesagt, warum: So konnte man besser auf den Gegner achten und die Waffe ruhiger halten. Anna strich über ihr Kleid und bemerkte, dass sie ihren Gürtel vergessen hatte. Vielleicht lag er noch im Zelt.
»Das dachte ich mir, dass wir sie hier finden.«
Anna fuhr beim Klang von Ulrichs Stimme herum.
Im Morgengrauen wirkte er größer als sonst. Seine Augen hatten den gewohnten verhangenen Ausdruck, aber sie fand nichts Reizvolles mehr daran. Vergeblich suchte sie den Mann, den sie geliebt hatte, doch verglichen mit Raoul erschien er ihr jetzt farblos. Ulrich war unbewaffnet bis auf das Schwert, doch hinter ihm näherten sich seine Knechte. »Komm her, Anna.«
Sie warf den Kopf zurück. »Wozu? Selbst wenn du mir die Ehe versprechen würdest, ich wäre lieber Raouls Hure als deine Frau.«
Er lachte hart, und sie spürte, dass sie ihn verletzt hatte. »Die Ehe versprechen! Einer davongelaufenen Leibeigenen!« Er gab seinen Männern ein Zeichen. Zwei von ihnen packten Annas Arme und zogen sie herüber. Erschrocken schrie sie auf. Sie wehrte sich wie wild, kratzte und biss, aber vergeblich. Die Knechte aus den anderen Zelten sahen zwar nach ihnen, und der eine oder andere kam auch herüber. Anna wusste jedoch, dass ihr niemand helfen würde. Dem Buchstaben nach war Ulrich im Recht. Er war ihr Herr.
Ulrich trat zu Anna und hob ihr Kinn. Seine Blicke glitten über ihr ungebändigtes Haar und das gerötete Gesicht. Damals hatte er es geliebt, wenn sie ihr Haar offen trug. Anna bemühte sich, ihm nicht zu zeigen, dass sie Angst hatte. Hoch aufgerichtet sah sie an ihm vorbei. Ganz gleich was er tun würde, er würde sie nie wieder besitzen.
»Sie hat ein Buch bei sich. Nehmt es mit auf die Burg.« Er lächelte kalt. »Ich fürchte, ich kann keine Rücksicht darauf nehmen, dass du damit deine Unschuld beweisen könntest. Der König wird sich erkenntlich zeigen, wenn ich es ihm gebe.«
Und wenn er sich nebenbei noch an der Bauernmagd rächen konnte, die es gewagt hatte, ihm die Stirn zu bieten, umso besser. Anna wurde klar, wie sehr ihn seine neue Macht verändert hatte. Oder war es schon immer in ihm gewesen? Der brutale Krieg der letzten Jahre hatte auch aus anständigeren Menschen grausame Tiere gemacht. Aber ewig, dachte sie, würden sich selbst seine Bauern das nicht gefallen lassen.
»Wenn es darum geht, spart euch die Mühe«, stieß sie verächtlich hervor. Mit einer ruckartigen Bewegung befreite sie sich aus Ulrichs Griff. Sie zeigte auf den Hocker hinten im Zelt, über den ein Fell gebreitet war. »Das Buch ist dort, unter dem Fell.«
Ulrich nickte seinem Waffenknecht zu, und der Mann förderte ein in dunkles Leder gebundenes Buch zutage. Der Rohrbacher wog es in der Hand und blätterte darin. »Es sieht nicht besonders wertvoll aus.«
Anna zuckte die Achseln. »Ich verstehe nichts davon. Und jetzt lass mich gehen!«
Ulrich lachte leise. Früher einmal hatte sie dieses Lachen geliebt, aber jetzt jagte es ihr einen Schauer über den Rücken.
»Bringt sie hinauf zur Burg«, befahl er. »Sobald der Turnierfriede endet, werden wir das Urteil an der Hexe vollstrecken: Ich werde ihr die Nase abschneiden lassen wie einer Hure und sie dann verbrennen.«