img_004 8 img_003

Regnerische Stürme fegten die Blätter von den Bäumen, ehe der Herbst die Laubwälder um Kaltenberg in ein rot und golden schimmerndes Juwel verwandeln konnte. Nach außen hin tat Raoul nichts, was einem Ritter nicht anstand. Doch Anna wurde das Gefühl nicht los, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sein wahres Gesicht zeigen würde. Schon am ersten Tag fiel ihr auf, dass er alleine ausritt – Ulrich hätte die Abwechslung doch begrüßen und ihn begleiten müssen. Offenbar war der Fremde so willkommen wie der Aussatz. Ihre nächtliche Begegnung hatte sie verwirrt. Manchmal beobachtete sie ihn heimlich bei der Arbeit, aber nichts ließ erkennen, was er vorhatte. Die schützenden Mauern allein zu verlassen, wagte Anna trotzdem nicht. Hier drinnen schützte sie wenigstens der Burgfriede.

Der aufgeweichte Boden drohte unter den Mauern einzusinken, und Ulrichs Knechte mussten den Hang unterhalb der Burg mit Palisaden abstützen. Am zweiten Tag nach Raouls Ankunft brachte endlich ein leichter Föhn etwas Sonne, so dass sie sich ans Werk machen konnten. Der Burgherr beaufsichtigte die Arbeiten selbst. Wenn seine Gemahlin auf dem abschüssigen Gelände stürzte, könnte der erhoffte Stammeshalter Schaden nehmen.

»Im nächsten Frühjahr werden wir auch die Ostmauer erneuern müssen«, rief Ulrich seinem Waffenmeister zu, als Anna den Pfad herabkam. In einer kurzen Bauerncotte stand er auf der Nordostseite, wo Knechte und Handwerker schwitzend die Pfosten in den Schlamm rammten. Es war eine gefährliche Arbeit. Der Boden war locker und abschüssig, und herausgerissene Wurzeln behinderten sie. Aber die Mauern mussten halten – und nicht nur der Burg wegen. Wenn der Hang abrutschte, würden auch die dar unterliegenden Felder Schaden nehmen.

Als Anna ihren Krug mit Dünnbier abstellte, fiel ihr auf, dass die Männer nicht scherzten. Sonst nutzten sie das gemeinsame Scharwerk, um Neuigkeiten auszutauschen, aber heute arbeiteten sie verbissen. Immer wieder traf ein widerwilliger Blick den Burgherrn und auch Anna.

Sie konnte sich denken, was sie tuschelten. Ihre eigene Mutter hatte früher oft genug wie ein Häher auf den feinen Burgherrn geschimpft – wenn er auf der Fronarbeit bestand, obwohl zu Hause genug zu tun war. Nachdem das Dorf niedergebrannt war, hätte Ulrich die Männer ruhig erst ihre eigenen Häuser wieder aufbauen lassen können, dachte sie. Schließlich brauchten die Leute ein Dach über dem Kopf. Wenn der Winter so lang würde wie der letzte, würden auch die eingelagerten Vorräte nicht reichen.

»Herr Ulrich!«

Der Küchenjunge kam den Pfad entlanggerannt, der unterhalb der Mauern um die ganze Burg führte. »Schnell!« Keuchend blieb er stehen und hielt sich die Seite. »Der Kaplan, Vater Maurus! Drüben, an der Ostmauer!«

Ohne zu überlegen, sprang Anna die Böschung hinauf. Die Männer kamen ihr nach, und alle folgten dem Jungen.

Entsetzt blieb Anna an der Biegung stehen. Der aufgeweichte Boden unter der Mauer hatte nachgegeben. Wo früher der Pfad um die Burg herumgeführt hatte, war nur noch eine Schlammspur. Tonnenschwere Quader waren herausgebrochen und hatten Steine und Äste mitgerissen, deren Bruchstellen hell aus dem dunklen Schlamm leuchteten. Ganze Büsche waren gut zwanzig Schritt weit den Abhang herabgeglitten, umgestürzte Bäume, die jederzeit weiter hinabstürzen konnten, lagen kreuz und quer. Und mitten in dem Erdrutsch, aufgehalten von einer felsigen Stelle, lag eine verkrümmte, schwarzgekleidete Gestalt.

»Aus der Mauer war ein Stein gebrochen. Er wollte sich den Schaden von unten ansehen«, flüsterte der Junge. Mehrere Männer waren hinter ihnen herangekommen, auch Raoul und sein Diener waren darunter.

»Holt ihn auf den Pfad!«, befahl Ulrich. Gemeinsam mit den Knechten machte er sich vorsichtig daran, zu dem Gestürzten vorzudringen. Der aufgeweichte Boden gab unter ihnen nach. Ulrich rutschte ab und ruderte mit den Armen. Anna hielt den Atem an. Er hatte einen Baum gepackt und fand sein Gleichgewicht wieder. »Es ist zu gefährlich«, rief er, als er wieder festen Boden erreichte. Schwer atmend wischte er sich den Schlamm von den Beinlingen. »Bleibt zurück und betet für ihn! Wir können nichts mehr für ihn tun.«

Vater Maurus’ Hand hob sich ein Stück und fiel wieder herab.

»Er bewegt sich!«, rief Anna erleichtert. Sie dachte daran, wie der Kaplan ihr die Beichte abgenommen hatte. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie nicht aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen war wie eine Hure. Niemals würde sie ihn jetzt im Stich lassen. Entschlossen hielt sie sich an einem Baum fest, dessen Wurzeln sich am Rande des Erdrutsches in den Hang klammerten. Dann warf sie den roten Zopf auf den Rücken, um zu dem Verletzten zu gelangen.

»Anna, bleib hier!«, befahl Ulrich zornig.

»Aber er lebt!«, schrie sie zurück. »Wir können ihn doch nicht hier sterben lassen!« Auf allen vieren tastete sie sich langsam vorwärts. Sie war leichter als die Männer, der lockere Boden trug sie. Trotz ihrer Vorsicht rutschte sie einmal und griff haltsuchend nach einem bemoosten, glatten Felsbrocken. Ihre knöchellange Cotte war von oben bis unten schlammbespritzt, als sie Vater Maurus endlich erreichte.

Obwohl sie schon schwere Verletzungen gesehen hatte, zuckte sie zusammen. Der Kaplan hatte seine Kappe verloren. Der eingedrückte Schädel war blutig, und weißliche Knochenspitzen ragten heraus. In seinen Mundwinkeln und auf dem Skapulier klebte säuerlich riechendes Erbrochenes. Aus Nase und Ohren rann eine dünne Spur Blut, vermischt mit einer klaren Flüssigkeit. Um die geschlossenen Augen hatte sich ein dunkler Bluterguss gebildet, er atmete nur flach. Dass er überhaupt noch lebte, war ein Wunder.

Mühsam bekämpfte Anna die Übelkeit. Ihre Hand schloss sich um die eiskalten Finger. »Lasst mich nicht allein!«, flüsterte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie wusste, dass sie Maurus mit Tränen allein nicht helfen würde.

»Er hat das Bewusstsein verloren«, rief sie über die Schulter zurück. »Sein Schädel ist gebrochen.«

Ulrich bekreuzigte sich, und seine Männer taten es ihm nach. Sie wussten, was das bedeutete.

Nur Raoul sah seinen Diener an und nickte ihr zu. »Wir brauchen Träger und ein Brett, um ihn auf die Burg zu bringen.«

»Er ist so gut wie tot«, erwiderte Ulrich gereizt. »Soll ich noch mehr Leben aufs Spiel setzen?«

Überrascht von seinem Ton sah sie auf. Es klang, als sei er nicht das erste Mal ungehalten über seinen Gast.

Ebenso gereizt erwiderte Raoul: »Habt Ihr Angst?«

Die beiden Männer starrten sich an. Wäre es nicht so absurd gewesen, hätte Anna gedacht, dass blanker Hass in ihrem Blick stand.

»Ulrich!« Verzweifelt sah sie zu ihm hinüber und dann wieder auf Vater Maurus.

Raoul raffte plötzlich die gegürtete Cotte. Mit einem herausfordernden Lächeln setzte er den Stiefel in den Schlamm.

»Ihr seid ein Narr!«, schrie Ulrich ihm nach. »Der Föhn hat Euch den Kopf vernebelt – dann brecht Euch doch den Hals!«, brüllte er, als Raoul seine Warnung missachtete. Wütend schlug er die Faust gegen einen Stamm.

Vorsichtig, aber mit sicheren Schritten kam Raoul heran. Er hatte so viel christliche Milde in sich wie ein maurischer Schindknecht, dachte Anna misstrauisch. Wenn er sein Leben wagte, um dem Kaplan zu helfen, dann entweder, um Ulrich zu demütigen, oder aber …

Mit wild klopfendem Herzen sah sie den steilen Abhang hinab. Wenn er sich ihrer entledigen wollte, ohne den Burgfrieden zu brechen, hätte er keine bessere Gelegenheit finden können. Jeder hatte gesehen, wie gefährlich der Erdrutsch war.

Raoul hatte sie fast erreicht. Mit einer Hand hielt er sich an einer Wurzel fest, die noch im lockeren Boden verankert war. Sein muskulöser Oberkörper war nach vorne gebeugt, um über eine schlammige Stelle zu springen. Er hob die Lider und sah sie aus seinen schwarzen Augen an.

Anna wich unwillkürlich zurück und geriet ins Rutschen. Erschrocken schrie sie auf. Ein Lederhandschuh packte ihren Ellbogen. Raoul hatte das Hindernis mit einem geschmeidigen Satz überwunden und zog sie mit festem Griff zu sich heran. Als könne er ihre Gedanken erraten, lächelte er: »Hier stehst du sicher.«

Anna bezweifelte das, solange er in der Nähe war. Seine taufeuchte Cotte streifte sie, und sie spürte seine Körperwärme. Schnell trat sie zur Seite. Hinter ihm war sein Diener Maimun herangekommen und kniete bei dem Kaplan nieder. Er streifte die Kapuze ab und runzelte die Stirn, als er die offene Kopfverletzung sah. Vorsichtig bewegte er die Glieder des Gestürzten und betastete den Bluterguss um die Augen. Dann sah er Raoul ernst an und schüttelte den Kopf. Anna schlug die Hand vor den Mund und betete stumm.

Als gebe er nichts darauf, warf Raoul seinen dunklen Mantel ab. Er rollte ihn zusammen und schob ihn unter die Füße des Gestürzten. Anna hätte dankbar sein sollen. Sie war erleichtert, doch zugleich hasste sie ihn dafür, dass ausgerechnet er es war, der half. Tränen der Wut und Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.

Einer der Knechte war zur Burg gelaufen und kam mit sauberen Tüchern zurück. Raoul fing den Packen mit einer Hand auf. Vorsichtig begann Maimun, den gebrochenen Schädel zu verbinden.

»Wir müssen verhindern, dass sein Atem aussetzt und die Organe den Dienst versagen«, erklärte er. Behutsam breitete er Maurus’ Arme aus, um ihm das Atmen zu erleichtern. Anna folgte den geübten Griffen. Diese Sicherheit gab ihr etwas Hoffnung. »Bewegt ihn so wenig wie möglich. Nur wenn er sich noch einmal erbricht, müssen wir ihn zur Seite drehen. Und geht weg von seinem Kopf, alle beide!«

Anna griff nach Maurus’ knochigen Füßen, um sie zu halten. Im selben Moment beugte sich Raoul über ihn, und ihre Blicke begegneten sich über dem Körper.

Rasch sah Anna zur Seite. Sie begann lautlos zu weinen. Immer traf es die Falschen, erst Martin und jetzt Vater Maurus.

Der flache Atem verstummte.

»Vater Maurus!«, rief Anna. Sie wollte aufspringen, doch Maimun schob sie zur Seite. Er legte die Hand auf die Brust des Kaplans. Als er keinen Puls fühlte, drückte er kräftig mit beiden Handwurzeln darauf, dann blies er ihm Luft in den Mund.

»Nicht auch noch er!«, flüsterte Anna. »Nein!«

Raoul erhob sich langsam und trat zurück. Anna schloss die Augen. Sie wusste, dass es zu spät war, ehe Maimun die Hände sinken ließ.

Die Männer bekreuzigten sich. Jemand hatte ein Brett und Seile gebracht. Als sie den Toten auf den Pfad schleiften und der schmächtige Leichnam über die Unebenheiten gezerrt wurde, schlossen sich Annas gefaltete Hände verzweifelt ineinander. Auf dem sicheren Boden legten die Knechte ihn auf das Brett. Niemand sprach ein Wort.

Irgendwie kam sie zurück auf den Pfad. Hartmut streckte ihr die Hand entgegen und zog sie die letzten Schritte nach oben. Annas Lippen zitterten. Sie sank in die Hocke. Fassungslos schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte.

Ein widerlicher Geschmack lag ihr auf der Zunge, auf einmal hatte sie das Gefühl, der Boden käme ihr entgegen. Haltsuchend griff sie nach einem Stamm, dann würgte sie und übergab sich.

Ihre Hände bebten, und die Tränen strömten unaufhaltsam über ihre Wangen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich gefasst hatte und aufblickte.

Unerreichbar hoch über ihr ragte der Palas aus dem Wald. Die Männer waren mit dem Leichnam hinter den Bäumen verschwunden. Nur Raoul stand wenige Schritte oberhalb auf dem schmalen Pfad – zwischen ihr und dem Burgtor.

Langsam erhob sich Anna. Ihre Finger krallten sich in den Stoff des Kleides, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie waren allein. Außerhalb der Mauern.