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»Du hättest gleich zu mir kommen sollen. So eine Schramme entzündet sich schnell bei der Arbeit mit Pferden.« Maimun, Raouls Diener, packte den Arm seines Patienten fester. Der Reitknecht des Burgherrn, der am Morgen den Unfall gehabt hatte, saß auf einem Fass im Pferdestall. Er hatte den einen Ärmel hochgekrempelt und hielt sichtlich besorgt nach Raoul Ausschau, der allerdings nirgendwo zu sehen war. Der Bursche hatte Arme wie ein Bär, dachte Maimun, als er die Verletzung betrachtete. Die Stände der Pferde nahmen die linke Seite ein, und sie hatten rechts in der breiten Gasse Platz gefunden. Es roch nach Tieren, Leder und Fett. Doch wo sonst gefüttert, getränkt oder gesattelt wurde, war es jetzt erstaunlich ruhig, worüber Maimun angesichts der drangvollen Enge auf der Burg nicht böse war. Die Knechte mieden sie offenbar.

»Womit hast du denn die Wunde behandelt?«, fragte er, während er die geschwollene Stelle vorsichtig mit Wein betupfte. Salzwasser wäre besser gewesen, doch Salz war hier offenbar eine seltene Kostbarkeit. Der Koch hatte sich geweigert, auch nur ein Körnchen herauszugeben.

»Kuahsoach«, antwortete der Reitknecht in seinem breiten Dialekt. Er zuckte zusammen, als es brannte. Maimun sah ihn verständnislos an, und er übersetzte: »Kuhpisse!«

Angeekelt verzog Maimun das Gesicht. Im Dunkel des Stalls war Raoul lautlos herangekommen und lehnte sich an die Bretterwand.

»Der Spielmann und die neue Magd haben die Wunde versorgt«, erklärte der Knecht, der mit dem Rücken zu dem Ritter saß und ihn nicht bemerkt hatte. Er leckte sich die Lippen. Seine Scheu begann zu schwinden, und er wurde gesprächig: »Anna, die Rothaarige – ein sauberer Has! Leider gehört sie dem Herrn Ulrich. Wenn du ein Weibsbild willst, halt dich lieber an die Rosa. Widerspenstig, aber ein bisserl Gewalt macht eine Bauernmagd erst richtig heiß.«

Maimun bemerkte Raouls Überraschung, als der Knecht das Mädchen und den Burgherrn erwähnte. Er wusste, was die Leute über den Fluch redeten, aber das Gesicht des Ritters verriet nicht, was er mit ihr vorhatte. Obwohl sie sich lange kannten, verstand Maimun ihn noch immer nicht. Mehr als einmal hatte er sich durch seine unbeherrschte Art in Schwierigkeiten gebracht. Dann wieder war er so kalt, als wüsste er nicht einmal, wie es sich anfühlte, zu lieben oder selbst zu hassen. Maimun verteilte Ringelblumensalbe auf den geröteten Wundrändern. Der unangenehm riechende Ausfluss war versiegt.

»Das ist Zauberei!«, staunte der Knecht.

Maimun lachte und wickelte noch einen Streifen sauberen Verband um den Arm. »Nichts, was dein Gott nicht hätte wachsen lassen.«

»Nix für ungut.« Das war offenbar eine Entschuldigung. Der Mann zog seinen schmutzigen Ärmel über den Verband. »Man hört viel, von Ketzerei. Die Geschicht’ mit den Templern vor ein paar Jahr’ …«

»Sie wurden enteignet und auf Scheiterhaufen verbrannt«, bestätigte Raouls tiefe Stimme, und der Knecht fuhr herum. »Man sagt, sie hätten in Sodomie und Laster gelebt und auf das Kreuz gespuckt. Aber es sollen sich überall noch versprengte Templer herumtreiben: Satansdiener, Alchimisten mit magischen Kräften.«

Der Knecht bekreuzigte sich und sprang auf. »Vergelt’s Gott!«, stieß er hervor und wies auf seinen Arm. Dann suchte er eilig das Weite.

»Ich habe ihn erschreckt«, bemerkte Raoul verschlagen. »Hinter meinem Rücken nennen sie mich Pullane – ein Schimpfwort für die orientalischen Christen.«

»Du solltest nicht mit dem Feuer spielen«, erwiderte Maimun und goss aus einer Kupferkanne Wasser über seine Hände. Sobald sie allein waren, war er wieder in ihre arabische Muttersprache gewechselt. »Du könntest sonst eher auf dem Scheiterhaufen enden, als du denkst. Nicht ganz zu Unrecht, mein Freund!«

Raoul hob spöttisch die Augenbrauen.

»Wenn du nicht sagst, wer du bist, darfst du dich nicht wundern, dass sie dich wie einen Fremden behandeln.« Maimun trocknete sich die Finger mit einem sauberen Tuch.

»Das Wetter übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen«, wich Raoul ironisch aus. »Ein Wunder, dass hier überhaupt Menschen leben können. Merkwürdig, dass ihnen das Moos nicht aus den Nasen wächst.«

»Du bist verbittert«, gab Maimun zu bedenken. »Aber das ist das Land, nach dem du dich gesehnt hast. Du hast es mir in den leuchtendsten Farben geschildert.«

Raoul streichelte den Hals seines Pferdes und strich ihm über die zitternden Nüstern. Plötzlich musste er an den glühenden Him mel von Akkon denken, wo er seine Kindheit verbracht hatte: das Gewirr der engen Gassen, in denen sich jeder hoffnungslos verlor, der sie nicht von Geburt an kannte. Wie oft war er als Kind durch diese Gassen gerannt, auf der Flucht vor einem Händler, dem er eine Dattel gestohlen hatte. In den erbarmungslosen Wüsten Palästinas hatte er sich nach Baiern gesehnt. Aber auf einmal vermisste er die gleißende Sonne, die durch die Flechtdächer des Souks brach. Den unverwechselbaren, betäubenden Duft der Karawanen, jene verwirrende Mischung aus Kameldung, Zimt, Opium und Sandelholz. Und wie so oft dachte er an den Palast des Statthalters mit seinen schlanken, sich zu Arabesken verschlingenden Säulen, die Brunnen in verschwenderischen Gärten, das Lachen eines Mädchens … Aber das war Vergangenheit.

Maimun legte ihm die Hand auf den Arm. »Du hast nur noch dein Ziel vor Augen«, sagte er ernst. »Die Mittel, es zu erreichen, werden dir zusehends gleichgültig.«

Grob schob Raoul die Hand von seinem Arm. »Kümmere dich um deine Arzneien und überlass alles andere mir!«

»Was hast du mit dem Mädchen vor?«

Raoul sah ihn mit geheucheltem Unverständnis an.

»Dieses Mädchen, Anna«, erklärte Maimun. »Die Sache mit dem Fluch spricht sich herum, aber du hast offenbar keine Eile, sie zu töten. Und so wie du sie ansiehst …« Er bekam keine Antwort und zuckte die Achseln. »Nun, es geht mich nichts an. Aber deine Absichten scheinen mir nicht gerade sehr ritterlich.«

Raoul lachte trocken. »Rittertum bedeutet Dienen: Gott, dem König und den Frauen. Dazu eigne ich mich nicht. Gott hat mich bisher nicht sehr gnädig behandelt. Den König kenne ich nicht, und die Frauen …« Er spuckte aus: »Für die Frauen zählt nicht, was ein Mann ist, sondern seine Herkunft und seine Güter.« Er nahm die Decke von dem Fass, wo der Knecht gesessen hatte, und warf sie über den Rücken seines Hengstes.

»Es gab Zeiten, da hast du anders darüber gedacht.«

»Das ist vorbei, und du weißt, warum!«

»Sei auf der Hut, Raoul!«, warnte Maimun. »Seine Herkunft kann ein Mann nicht bestimmen. Nur das, was er daraus macht.«

Raoul schwieg einige Atemzüge lang, endlich nickte er. Seine Hände ruhten auf dem warmen, atmenden Rücken des Pferdes und folgten dem Spiel der Muskeln. Doch als Maimun ihm die Hand auf den Arm legte und den Stall verließ, waren seine Lippen hart und entschlossen. Er musste wissen, wer er war. Schon lange konnte er nicht mehr zurück.

Ulrich hatte Anna versichert, dass sie von Raoul nichts zu befürchten hatte, solange sie auf Kaltenberg war. Sie war seine Schutzbefohlene, und ein Gast musste den Burgfrieden achten. Aber angeblich stand Raoul nicht mehr in den Diensten Friedrichs von Österreich. Er war ein Mann des mächtigen Grafen von Tirol, was es unmöglich machte, ihn abzuweisen. Nicht einmal, dass er die Burgsiedlung niedergebrannt hatte, ließ Ulrich gelten: Plünderungen gehörten nun einmal zum Kriegsalltag. Auch wenn der Burgherr entschlossen war, die Augen offenzuhalten, hatte er Anna doch unmissverständlich klargemacht, dass er nichts gegen Raoul unternehmen konnte.

Enttäuscht und zornig war Anna zur Arbeit in die Küche zurückgekehrt. Sie hatte fest mit seiner Hilfe gerechnet. Den ganzen Tag fuhr sie die anderen Mägde an, nicht einmal vor der alten Gertraut scheute sie zurück. Der Gedanke, mit einem Mann auf der Burg zu leben, der sie töten konnte, sobald Ulrich nicht hinsah, war beängstigend. Sie fror, das ständige Knacken des Feuers, das sie ihre Kindheit hindurch begleitet hatte, fehlte ihr. Und immer musste sie an Martin denken. Auch wenn Raoul ihn nicht selbst getötet hatte, ihr Bruder könnte noch leben, wenn er nicht gewesen wäre. Niemals würde sie sich damit abfinden.

Beim Abendmahl im Gesindehaus blickte sie nachdenklich über die langen Tische, an denen Knechte und Mägde saßen. Das Gewölbe roch nach Bohnen und Schmalz. Wer Glück hatte, konnte aus den gemeinsamen Schüsseln auch noch die Reste der sauren Lunge ergattern, doch sie bemühte sich nicht einmal darum. Nachdenklich starrte sie auf das Kruzifix im Herrgottswinkel und kaute auf dem groben Dinkelbrot herum. Raoul beherrschte die Gespräche schon den ganzen Abend.

»Keiner weiß, wie lange er bleiben wird und warum er hier ist«, murmelte Gertraut, während sie Brot schnitt. »Nicht einmal die Burgherrin. Und an sein Gepäck lässt er keinen heran, vielleicht hat er magische Pulver und Tränke bei sich?«

»Schaut euch meinen Arm an!«, stimmte Gernot zu, der Reitknecht, der sich am Morgen verletzt hatte. »Sein Diener hat ihn versorgt, und er entzündet sich nicht einmal. Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«

»Warum trägt er nicht das Wappen und die Farben seiner Familie?« Gertraut beugte sich über den Tisch und zischte: »Die Landsberger behaupten, sie hätten noch nie einen Mann so kämpfen sehen. Ich sage euch, er steht unterm Banner des Teufels!«

Anna horchte auf. Wenn das stimmte, hätte Raoul sie mühelos mit der Armbrust treffen können, als sie auf die Burg geflohen war. Grübelnd formte sie ihr Brot zu einem Klumpen.

»Er ist ein Templer«, steuerte Gernot bei. »Mit seinen schwarzen Augen hat er mich angesehen wie der Leibhaftige. Und die Weiber«, flüsterte er mit einem Seitenblick auf die Frauen, die gebannt zuhörten, »die Weiber macht er toll und lüstern!«

»Habt ihr nicht gehört, er hat einen mächtigen Gönner«, flüsterte Rosa, das Küchenmädchen. »Vielleicht …« Sie verstummte und bekreuzigte sich. Die anderen sahen sie an, und mit bleichen Lippen formte sie stumm das Wort »Luzifer«.

»Abergläubisches Gerede«, beendete Hartmut, der andere Reitknecht, das Gespräch. »Er wird im Dienst eines Fürsten stehen, mit dem sich Herr Ulrich nicht anlegen will. Raoul ist gerissen. Er weiß, dass man ihn kaum hinauswerfen kann und dass er sich fast alles erlauben kann.«

Sie musste etwas finden, das es Ulrich ermöglichte, gegen ihn vorzugehen, dachte Anna. Und wenn Raoul wirklich magische Tinkturen verwahrte, konnte das genügen, um ihn hinauszuwerfen.

Unvermittelt schob sie ihrer Nachbarin die gemeinsame Schüssel hinüber. Der Eintopf schwappte vom Tisch, und knurrend balgten sich die struppigen grauen Hunde darum. Gertraut sah überrascht auf, als Anna die Tiere mit dem Fuß beiseitescheuchte und aufstand.

Es regnete schon wieder, fröstelnd rieb sie sich die Arme. Sie machte sich nichts vor, sie hatte Angst. Ein einfaches Mädchen, das einen Ritter herausforderte! Sie musste verrückt sein. Aber lieber wäre sie gestorben, als sich Tag und Nacht vor Raoul zu verstecken. Die erleuchteten Fenster des Rittersaals verrieten, dass die Herrschaft noch speiste. Raoul würde an Ulrichs Tisch sitzen. Entschlossen raffte sie das schlammbespritzte Kleid und lief durch die Pfützen zum Stall.

Im Halbdunkel war es warm und roch nach Heu. Die mahlenden Laute der Pferdekiefer waren zu hören, gleichmäßig und beruhigend. Nur das schwarze Pferd schnaubte unruhig. Die Satteltasche lag am Boden, der Fremde schien Diebe nicht zu fürchten.

Jemand packte sie und drückte sie gegen die Wand. Anna wollte schreien, doch ehe sie einen Laut herausbrachte, spürte sie einen schweren Lederhandschuh auf Mund und Nase. Mit einem erstickten Laut versuchte sie sich zu befreien. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, so dass sie den Mann nicht sehen konnte. Mehr aus einem Gefühl heraus denn aus Überlegung befreite sie sich mit einer geschmeidigen Drehung, schrie und schlug auf ihn ein. Er packte sie erneut. Wütend trat sie nach ihm und biss ihn in den Arm. Sie bekam einen Handschuh zu fassen und taumelte, als er die Hand zurückzog. Eine Ohrfeige schleuderte sie so heftig gegen die Wand, dass ihr die Luft wegblieb. Sie spürte seinen Körper auf ihrem, die Hand legte sich wieder auf ihr Gesicht. Der harte Widerstand von Metall drückte auf ihre Hüfte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Der Mann trug eine Waffe.

In dem Augenblick, als sie zu ersticken glaubte, löste er seine Finger und packte sie an beiden Handgelenken. Stöhnend sog Anna die Luft ein. Ein leichter Duft brannte sich ihr ins Gedächtnis – herb und fremd. Noch nie hatte sie erlebt, dass ein Fahrender ein Parfüm benutzte. Er nagelte ihre Hände neben dem Kopf an der Wand fest, sie schüttelte die Haare aus dem Gesicht.

»Verdammter Mörder!«, schrie sie hasserfüllt. In ihrer Panik riss sie sich los, zog den Dolch aus seinem Gürtel und wollte ihn blindlings nach seiner Brust stoßen. Im letzten Augenblick wich er zurück.

»Du?«, keuchte Raoul. Sofort hatte er sich wieder in der Gewalt. Er hob seinen Handschuh auf und streckte die Hand aus. Die Bewegung war ruhig – eher so, als wolle er sie erinnern, dass ihr Stand und Geschlecht verboten, eine Waffe zu führen. Wenn sie ihn nicht tötete, würde er sie umbringen. Annas Finger schlossen sich um den Griff, um zuzustoßen. Da sah sie in seine Augen.

Langsam ließ sie den Dolch sinken.

Raoul nutzte die Atempause. Ehe sie begriff, was geschah, hatte er ihr die Waffe entwunden. Als er sie in den Gürtel steckte, fielen ihr seine Hände auf, schlank, aber kräftig. Mühsam kämpfte Anna gegen den Impuls an, sich zu bekreuzigen. Nein, dachte sie, der Teufel war kein stinkender Hahnrei mit Bocksfüßen. Der Teufel war ein junger Mann. Ein beunruhigend schöner Mann.

Ihre Wange brannte, und sie musste sich die Schulter verletzt haben. Das nasse Haar fiel ihr wie ein klammer Schleier auf die Brust, das Wasser tropfte auf ihre nackten Füße und zwischen die Zehen. Anna wartete nicht, ob Raoul den Burgfrieden brechen würde. Sie stürzte an ihm vorbei auf den schmalen Türspalt zu, durch den das Licht hereinfiel. Gewandt drückte sie sich ins Freie und rannte über den Hof und die Stiege zu ihrer Kammer hinauf.

Am Treppenabsatz blieb sie stehen und begann zu zittern. Sie hatte die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten. Warum hatte sie es nicht getan?