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Hoch auf dem Felsen duckte sich das letzte Tiroler Zollhaus an die Bergflanke. Die tiefhängenden Dachsparren hätten auch dann kaum Licht in die Gaststube gelassen, wenn das mit einer Schweinsblase bespannte Fenster größer gewesen wäre. Aber weder die Dunkelheit noch die von Fackeln verrauchte Luft störte Anna.

Sie war froh gewesen, eine Reisegruppe zu treffen, die ihr Schutz bot. Die erbarmungslosen Augen Herzog Leopolds hatten ihr unmissverständlich gezeigt, dass sie ihm niemals in die Hände fallen durfte. Mit dem Geld, das sie von König Ludwig und von freigebigen Pilgern hatte, war sie schneller denn je über die Berge gekommen. Mehrmals hatte sie die Grenze zwischen Tirol und dem Bistum Freising überschritten. Aber offenbar war die Nachricht von ihrer Flucht noch nicht zu den entlegenen Grenzposten gedrungen. So war sie jetzt fast am Walchensee und endlich auf dem Boden des Klosters Benediktbeuern.

Es hatte sie fast zerrissen, Raoul zu verlassen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, hatte sie sich aus seinen Armen befreit. Nur mühsam hatte sie sich beherrscht, die ausdrucksstarken Lippen und die Lider unter den dunklen Brauen zu küssen. Er weckte etwas in ihr, das sie an sich nicht gekannt hatte. In seinen Armen fühlte sie sich stark, die ganze Welt herauszufordern. In der Nacht mit ihm war sie vollkommen glücklich gewesen. Wenn sie daran dachte, lächelte sie verstohlen. Ihr Herz schlug schneller, und sie wurde fast verrückt vor Sehnsucht nach ihm. Ich liebe dich, flüsterte Raoul in ihrem Kopf. Ich liebe dich, Anna.

»Er ist ein Ritter von Herzog Leopold, das sag ich euch. Vielleicht sucht er jemand.« Der Kaufmann war vom Kloster heraufgekommen und hatte noch in der Tür seine Neuigkeiten zum Besten gegeben. Breitbeinig kam er herüber an den einen der beiden Tische, wo Anna saß. »Trieb sich in der Gegend von Benediktbeuern herum, ein grauhaariger Bursche im weißen Waffenrock.«

Wachsam sah Anna von ihrer Kohlsuppe auf. Sie tastete nach der Handschrift an ihrem Gürtel. Dass sie das Buch aus der Kapelle von Neustift gestohlen hatte, konnte sie an den Galgen bringen. Besorgt sah sie sich um. Die Reisegesellschaft im Zollhaus war nicht groß: ein junger Ritter, der sich im Augenblick beim Schachbrett bemühte, die Aufmerksamkeit seiner Dame zu erwecken. Ein paar Kaufleute und ein Tuchmacher aus Venedig, der nur schlecht Bairisch sprach. Das Gefolge soff sich hinten um den Verstand. Ob Leopolds Arm bis hierher reichte?

Der Wirt schob einen Trinker beiseite, der den Kopf in den Armen vergraben hatte, um dem Ankömmling Platz zu machen.

»Miserables Wetter«, meinte der Kaufmann und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er bestellte Dünnbier, Haferkuchen und Zwiebeln. »Der Saumpfad hinunter nach Kochel ist halb vom Schmelzwasser weggerissen worden. Seht euch vor, es ist alles unterspült. Und auf dem Pass ist eine Mure abgegangen. Ich musste auf allen vieren über Schlamm und Steine kriechen. Aber in ein paar Tagen bin ich wieder bei meiner Frau. Sie soll zu Ostern niederkommen.«

Anna ließ den Löffel sinken. Bisher war ihr der Gedanke noch nicht gekommen, dass sie gut von Raoul schwanger sein konnte. Sie wollte nicht daran denken. Jahrelang hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als endlich von der Straße wegzukommen. Sich nicht mehr verstecken zu müssen, zurück in ihr Dorf, wo sie zu Hause war. Und zu Ulrich.

Sie hatte ihn verraten. Der Gedanke tat weh. Die ganze Zeit war sie nie in Versuchung gewesen, bei einem anderen zu liegen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Dass es nun doch geschehen war – oder dass es ausgerechnet Raoul war: der Mann, den sie hassen müsste, solange auch nur ein Funken Leben in ihr war. Anna löffelte ihren Napf leer und stand auf. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, diese Nacht zu bereuen. Aber sie wusste auch, was sie zu tun hatte. Jetzt kam es darauf an, Kaltenberg zu erreichen, ohne Leopolds Häschern in die Hände zu fallen. Und das würde schwer genug sein.

Am nächsten Abend kurz vor der Abtei Benediktbeuern trennte sie sich von der Reisegesellschaft. Anna wollte nicht weiter, sondern in der Klostersiedlung übernachten. Seit Tagen fühlte sie sich müde, und immer wieder hustete sie.

Das Dorf lag am Rand des gefährlichen Loisachmoors. Nebel verdichtete sich in der Dämmerung zu weißen Streifen, und die wuchtigen Türme der Basilika hoben sich kaum heraus. Die Enklave musste gewaltig sein, schon von fern waren Anna die abweisenden Mauern aufgefallen. Aber vor dem Berg dahinter, der Benediktenwand, wirkten Dorf wie Kloster winzig.

Es dämmerte schon, und kaum noch jemand war auf der Straße. Nur ein Junge zog einen Handkarren mit Brot hinter sich her. Anna wollte ihn nach einer Unterkunft fragen, da sah er über die Schulter. Er schrie, ließ seinen Karren fallen und rannte davon. Anna folgte seinem Blick.

Eine Jagdgesellschaft galoppierte heran. Das Reh hetzte quer über den Acker rechts der Straße auf die Benediktenwand zu, und die Ritter jagten hinterher. Ohne sich zu kümmern, dass sie den Boden und die ersten zarten Pflänzchen zerstampften, trieben sie ihre Pferde übers Feld. Sie würden sie einfach niederreiten.

Anna versuchte seitlich auszuweichen, aber auf dem Boden kam sie kaum vorwärts. Die Schollen beschwerten ihre Schuhe. Sie stürzte und blickte keuchend vor Panik über die Schulter.

Johlend jagten die Reiter über den Acker. Die Pferde drohten zu stolpern. Donnernd preschten sie an ihr vorbei, so nahe, dass die von den Hufen aufgewühlte Erde auf sie spritzte und sie von oben bis unten besudelte.

Hustend kam Anna auf die Beine und wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht. In einigem Abstand hinter der Jagdgesellschaft sah sie noch ein Pferd auf sich zukommen. Der Reiter trug einen hellen Waffenrock. Er hatte sein Pferd gezügelt und sah zu ihr herüber. Anna dachte an den Kaufmann im Zollhaus. War das der Ritter des Herzogs? Und sie war ihm aufgefallen!

Verzweifelt sah sie sich um. Die Dörfler hatten ihre Türen verriegelt. Auch die Klosterpforte musste längst zur Nacht verschlossen sein. Am Feldrand stand eine einzelne Hütte mit zwei Nebengebäuden. Sie erkannte ein paar vernachlässigte Bienenstöcke und einen grob aus Ästen gefügten Zaun. Dahinter erhob sich die langgezogene Mauer der Enklave. Vielleicht ein Hof des Klosters, den man bald aufgeben würde, weil er zu wenig abwarf. Sie lief dorthin und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür.

Ein Mönch öffnete, und mit einem Schrei fuhr Anna zurück. Ein Geschwür verunstaltete fast seine ganze linke Wange. Er stank nach einer Mischung aus krankem Fleisch und scharfen Salben. »Es ist spät, aber wir weisen niemanden ab«, sagte er. »Dies ist das Lepraspital von Benediktbeuern.«