Es war Brauch am Abend von Maria Lichtmess, dass die freien Knechte und Mägde ihren Ausstand feierten. Aus der ganzen Umgebung waren sie gekommen, um ihren letzten Groschen zu vertrinken und zu verspielen, mit dem anderen Geschlecht eine Nacht zu verbringen, kurz: alles noch einmal in vollen Zügen zu genießen, was es in der nahenden Fastenzeit nicht geben würde.
Am liebsten hätte sich Anna mit der gestohlenen Handschrift sofort aus dem Staub gemacht. Sie hatte noch Geld, und gestern war eine Reisegruppe aufgebrochen, die sie einholen konnte. Die eiskalten Augen Herzog Leopolds hatten ihr gezeigt, dass sie keine Gnade zu erwarten hätte, wenn sie ihm in die Hände fiel. Aber vor morgen früh würde er den Diebstahl nicht bemerken. Und vielleicht würde sie Raoul nie wiedersehen. Sie konnte nicht ohne Abschied gehen.
Vor ihren Augen verschwamm die Schenke zu einem flirrenden, kreisenden Band von Farben und ließ sie fast vergessen, was sie getan hatte. An den rußgeschwärzten Wänden brannten schon die Fackeln, Musik dröhnte, und auf dem Boden standen Pfützen aus verschüttetem Bier und Wein. Die Luft in dem niedrigen Gewölbe war wieder einmal zum Schneiden. Anna kam auf den Boden. Erhitzt vom Tanzen und vom Wein strich sie die roten Locken aus dem Gesicht. Da sah sie Raoul.
Er maß sie kurz über die Schulter, dann wandte er sich scheinbar gleichgültig ab. Ihr Tänzer wollte sie wieder hochheben, doch sie schob die abgearbeiteten Hände von ihren Hüften weg. Wieder spürte sie einen Stich, als sie Raouls dunkle Cotte zwischen den Feiernden verfolgte. Er scherzte und trank, und immer wieder sah er kurz in ihre Richtung. Doch er kam nicht herüber.
Die Erinnerung überfiel Anna, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte: in der glühenden Abenddämmerung über Kaltenberg. Als Feind. Sie sah noch die heftige Bewegung vor sich, mit der er den Helm abnahm und die schweißfeuchten Locken zurückwarf. Mit jeder Faser ihres Seins hatte sie ihn gehasst. Aber da war dieser Augenblick in der Köhlerhütte gewesen. Seine ausdrucksstarken Lippen, als er verletzt in ihren Armen lag. Sie ertrug die unsichtbare Mauer zwischen ihnen nicht mehr, die glühenden Wellen, die sie durchliefen, wenn sie irgendwo einen schwarzhaarigen Mann in dunkler Kleidung sah.
Verstohlen flüsterte sie ihrem Tänzer etwas zu, und der lachte. Mit seinen kräftigen Armen hob er sie auf einen Tisch. Er hatte einen Brustkasten wie ein Fass. »Ruhe!«, brüllte er mit seiner volltönenden Stimme, so dass sich alle Augen auf sie richteten.
Herausfordernd fixierte sie Raoul. Mit einem Schuh schob sie ein paar leere Humpen und Schüsseln beiseite und stampfte rhythmisch mit dem Fuß auf.
»Wenn wir zur Taverne gehen, fürchten wir nicht Tod und Teufel.« Sie würde ihm eine Bewegung entlocken, und wenn es der Griff zum Schwert war! Ein Zucken lief über sein Gesicht und feuerte sie an. Die Männer lachten und schlugen im Rhythmus des Liedes auf die Tische:
»Manche spielen, manche saufen, Sitten sind’s zum Haareraufen! … Auf den, der die Zeche zahlt! Zweitens: die im Kerker faulen, … Sechstens auf die leichten Schwestern, siebtens auf die Beutelschneider. Achtens auf perverse Brüder, neuntens auf versprengte Mönche … Zwölftens auf den reu’gen Büßer. Dreizehn: Auf die Fahrenden. Auf den Papst und auf den König! … Trinkt der Arme, trinkt der Kranke, der Verbannte, unbekannte, … trinkt der Bischof, der Dekan, … trinkt die Mutter, trinkt die Alte. … Trinken hundert, trinken tausend! … Wer uns schimpft für uns’re Taten, der soll in der Hölle braten! …«
Die Leute klopften mit den Schuhen den Takt. Ein paar junge Männer fassten sich an den Schultern und begannen zu tanzen. Raoul stellte seinen Becher ab und wandte sich zum Gehen. Aber offenbar kostete es ihn Überwindung. Er zögerte, blieb wieder stehen, um dann entschlossen auf die Tür zuzusteuern.
Anna war wie besessen von dem Gedanken, dass er jetzt nicht gehen durfte. Sie packte das Schwert, das ein Ritter an den Tisch gelehnt hatte und schlug mit der flachen Klinge auf den Tisch. Mit glühendem Gesicht warf sie die Locken zurück und sang:
»Chramer, gip die Varwe mir … Kramer, gib mir Schminke, die die Wangen rötet, damit ich die jungen Männer verführe, ob sie wollen oder nicht!«
Der Rhythmus riss sie mit, Wein rauschte in ihrem Kopf, das rote Kleid klebte an ihr. Sie nestelte an ihrem Gürtel. Langsam lockerte sie das Band und ließ die Hände um ihre Hüften nach vorn gleiten. »Seht mich an, junge Männer, lasst mich euch gefallen!«
Sie warf den Gürtel in die Menge. Ein blonder Kerl fing ihn, und sofort stürzten sich alle johlend auf ihn, um ihm seine Beute abzujagen. Krachend flogen die Holzbecher zu Boden. Anna lachte und hob ihren Humpen, einer zog sie an sich. Er begann sie zu befingern und flüsterte ihr fordernde Worte ins Ohr.
Anna lachte und wollte ihn wegschieben. In diesem Moment packte ihn jemand von hinten. Brutal riss Raoul den Knecht zurück und stieß ihn mitten in die Menge.
»Hör auf damit!«, fuhr Raoul sie an. Auf seinem Haar glänzte der rötliche Fackelschein. Die Knechte hatten sich auf ihn stürzen wollen, aber als er sich zu ihnen umdrehte, wichen sie zurück.
»Ihr habt mich gehen lassen, also gebt mir keine Befehle!«, schrie sie zurück. Sie wusste nicht einmal, ob es das war, ob ihre Wut wirklich ihm galt oder ihr selbst. Warum musste er sie so ansehen! Unbeherrscht spuckte sie das rote Haar aus, das sie mit dem Atem eingesogen hatte. »Ich wäre schon selbst mit diesem Schwachkopf fertig geworden.«
Rücksichtslos drängte sie sich an den Mägden vorbei durch die schmale Pforte ins Freie. Kalte Abendluft schlug ihr entgegen, die schneebedeckten Berge hoben sich schwarz vom wolkenzerrissenen Himmel ab. Das Tor zur überdachten Brücke war noch offen. Tränen der Wut liefen Anna über die Wangen, als sie auf die kleine Scheune am andern Ende zulief. Der Eisack unter ihr führte schon Schmelzwasser und rauschte so laut, dass sie den Lärm aus der Taverne nur gedämpft wahrnahm.
Schnelle Schritte näherten sich hinter ihr auf den Bohlen, sie drehte sich um. Der Wind wehte ihr die Locken ins Gesicht und drohte Raoul den Mantel von den Schultern zu fegen. Warum hörte er nicht endlich auf, sie zu quälen!
»Ich habe erfahren, wer mein Vater ist«, sagte er. Er sprach gehetzt, wie sie es noch nie bei ihm erlebt hatte. »Sein Name ist Konrad von Haldenberg. Kaltenberg ist sein Besitz, und ich werde mit Ulrich darum kämpfen.«
Und dann würde er die Frau nicht am Leben lassen können, die einen Fluch gegen ihn ausgesprochen hatte.
Er trat an das Geländer und legte die Hände darauf, wie um sie nicht ansehen zu müssen. Der Föhn trieb Wolkenfetzen über den glühenden Himmel, zerrte an seinem Haar und der Cotte wie bei ihrer ersten Begegnung. Plötzlich warf Raoul den Kopf zurück, und die unsichtbare Mauer zwischen ihnen brach zusammen. »Verdammt, ich will dich nicht töten!«, schrie er sie an.
Anna starrte ihn an. Jahrelang hatte sie nur der Gedanke an Ulrich aufrecht gehalten. Für ihn hatte sie alles ertragen, den Hunger, die Kälte, selbst die Schande. Für ihn hatte sie alles aufs Spiel gesetzt, alles geopfert. Niemals würde sie ihn aufgeben. Und doch musste sie gewaltsam gegen das Bedürfnis ankämpfen, Raoul zu berühren. Mit Tränen in den Augen schrie sie zurück: »Ich hasse dich! Zum Teufel mit dir!«
Mit aller Kraft schlug sie nach ihm. Er fing ihre Hand ab und hielt sie auf seiner Brust fest. Mit einem Blick, der in ihr Innerstes drang, sah er ihr in die Augen. Ihre Lippen zitterten. Nicht Raoul!, pochte es in ihr. Jeder, nur nicht er – niemals!
Mit einem erstickten Laut ließ er sie los.
Anna ließ ihre Hand auf seiner Cotte liegen. Seine Wärme war durch den Stoff spürbar, das leichte Heben und Senken seiner Brust. Zum ersten Mal hatte sie diese Wärme in der Köhlerhütte gespürt. Sie erinnerte sich an den Ledergeruch, der sich in sein Parfüm mischte. Unter ihnen rauschte der Fluss, und die überdachte Brücke schirmte sie von der Welt ab. Widerstrebend glitten ihre Finger nach oben. Sie berührten seinen Mund und glitten über den Bart auf seinen Nacken.
Raoul beugte sich zu ihr und küsste sie.
Anna schloss die Augen. Er berührte sie wie etwas unendlich Kostbares, das er nicht zerstören wollte. Unter den Händen fühlte sie die warmen Muskeln seiner Schultern, seine Finger in ihrem Haar. Ihre Lippen spielten miteinander und fanden sich wieder. Sie hatte nicht geglaubt, dass dieser Mann zärtlich sein konnte.
Ein Prickeln lief ihren Nacken hinab. Sie konnte sich nicht mehr belügen. Ihr Widerstand, ihre Ziele, ihre Pläne wurden weggerissen wie das Eis am Ufer des Wildwassers.
Raoul drängte sie an das Geländer, die schweren Balken schnitten in ihren Rücken. Anna vergrub die Finger in seinen Locken. Ihr Körper bebte unter seinen Händen, seinen fordernden Lippen, die Berührung entzündete ein wildes, schmerzhaftes Verlangen. Mit verzweifelter Leidenschaft presste sie sich an ihn, küsste ihn, wie sie noch nie einen Mann geküsst hatte. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich in den Armen eines Mannes nicht wehrlos.
»Du wolltest mich zur Hölle schicken, wenn ich dich berühre!«, stieß er hervor.
Wortlos verschloss sie ihm den Mund mit den Lippen und tastete nach seinem Gürtel. Was gestern gewesen war, bedeutete nichts mehr, es war unwichtig, wie das, was kommen würde. Sie wollte ihn so heftig, dass es in ihrem ganzen Körper pochte.
Raoul hob sie auf und trug sie über die Brücke zur Scheune. Anna schlang die Beine um seine Hüften. Sie konnte sich nicht von seinen Lippen lösen.
Eine Linde war halb in das Schindeldach gewachsen, die Wände völlig mit Wildrosen zugewuchert. Raoul stieß die Tür auf und setzte Anna sanft ab. Ihre Kleider landeten irgendwo im Stroh. Ein fahler Lichtstreifen fiel auf die schimmernde Haut seiner Schultern, tauchte ihn wieder ins Dunkel und hob ihre Brüste hervor, ihre nackten Arme. Lächelnd fanden sich ihre Lippen. Annas langes Haar floss auf ihn herab, ihre Hände glitten über seinen Körper, und er ließ es zu. Nie hatte ihr ein Mann erlaubt, ihn so zu berühren.
Raoul beugte sich wieder über sie. Zärtlich strich er ihr eine feuchte Strähne aus der Stirn, ihre Blicke trafen sich. Sie überließ sich seinen zärtlichen Händen, die sie wärmten. Seine unrasierte Haut kratzte auf ihrer, und ein zitterndes Seufzen rang sich über ihre Lippen. Mit langsamen, leidenschaftlichen Bewegungen spielte er mit ihrem Begehren, bis sie glaubte, sie würde wahnsinnig werden. Als sein Mund über ihren Hals glitt, spürte sie an seinem stoßweise gehenden Atem, dass auch er sich nur mühsam zurückhielt.
Anna zog ihn fester an sich. Sie liebten sich heftig, als hätten sie jahrelang danach gehungert. Der Sturm rüttelte an den Wänden und übertönte ihre rhythmischen Schreie. Sie hörte es nicht mehr. Es gab nur noch ihn und sie und das alles überwältigende Verlangen nach ihm, das zitternde Glücksschauer durch ihren Körper jagte. Mit allen Sinnen wollte sie diesen Augenblick festhalten.
Irgendwann, als ihre schweißfeuchten Körper noch vom Nachhall der Lust bebten, sank er auf sie und küsste sie. Und halb benommen hörte sie ihn die Worte flüstern, die ihr Ulrich nie gesagt hatte: »Ich liebe dich … Ich liebe dich, Anna!«