Zwei Tage später blickten die Reisiger von hastig aufgeschütteten Erdwällen hinab nach Mühldorf. Noch hatte es nicht zur Komplet geläutet. Von hier aus konnte man die Fackeln auf den Türmen sehen, wenn die Wach soldaten unten ihre Runde auf den Mauern machten. Die Männer hielten die Hand ständig am Spieß, entschlossen, keinen feindlichen Spion einzulassen. Hier hatte ein König sein Heer lager aufgeschlagen: Ludwig der Baier war seinem Rivalen Friedrich entgegengezogen.
Die Waffenknechte hoben neugierig die Köpfe, als eine junge Frau mit gerafften Röcken direkt auf sie zurannte und keuchend um Einlass bat. Sie wechselte atemlos geflüsterte Worte mit dem Posten, dann packte er sie am Arm.
»Verrat, Herr!«, keuchte Anna, als man sie vor dem Scherenstuhl im Zelt des Königs zu Boden warf. »Der Bischof von Freising schickt mich. Herzog Leopold steht bei Fürstenfeld, um Euch in den Rücken zu fallen. In Eurem Heer sollen sich gedungene Mörder befinden. Sie haben den Auftrag, Euch zu töten, ehe es zur Schlacht kommt!«
Atemlos sank ihr Kopf auf die Brust. Sie war geritten, so schnell eine Gauklerin konnte. Oft hatte sie sich im letzten Augenblick ins Gebüsch gerettet, wenn Ritter durch die Auwälder galoppierten. Kurz vor dem Ziel war das Pferd in einem Erdloch gestolpert. Hastig hatte sie das lahmende Tier angebunden und war die letzte Strecke gerannt. Ihr Kleid war schweißfeucht, und trotz des Kohlenbeckens fror sie. Aber ihre Augen leuchteten wieder. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht mehr nur als ehrlose Vagantin, sondern hatte eine Aufgabe.
Ludwig war aufgesprungen. »Meuchelmörder?«, wiederholte er. Er war totenbleich geworden. Offenbar hatte er noch nicht geschlafen, denn neben dem Stuhl lag ein aufgeschlagenes Buch. Aber er trug weder Rüstung noch Mantel, sondern nur eine lange blaue Cotte aus feinem Leinen. Das rötlich blonde Haar hing ihm, nicht zu Locken gedreht, glatt herab und ließ sein Gesicht schmaler und die beweglichen Augen größer wirken.
»Euer Spion …« Anna reichte ihm den Brief. »Er brachte die Nachricht nach Freising, zu meinem Herrn.«
Der König lief wie von Sinnen vor der Barriere aus Weidengeflecht hin und her, die vermutlich seinen Schlafbereich abteilte. Gähnend kamen seine Ratgeber ins Zelt, und Anna sah sich unwillkürlich nach Ulrich um. Aber selbst wenn er hier war, wäre er viel zu jung gewesen, um hinzugerufen zu werden. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie nicht plötzlich seinem Vater gegenüberstand. Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen, und ängstlich sah sie zum Eingang.
»Wir müssen abziehen«, meinte ein graubärtiger Patriarch, als er den Brief überflogen hatte.
»Das hätte ich ihm nicht zugetraut«, stieß Ludwig hervor. »Wir waren enger als Brüder, wir haben im selben Bett geschlafen!« Er lief auf und ab. Entschlossen sagte er endlich: »Dieser Krieg verschlingt mein Vermögen und zerstört mein Land. Es muss eine Entscheidung geben. Wir kämpfen.«
»Herr! Wir wissen nicht einmal, wer der Verräter ist. Wenn der König gefangen oder tot ist, ist der ganze Krieg verloren. Die Männer würden davonlaufen, wenn sie Euch nicht sehen.« Der Graubärtige flüsterte dem König etwas zu. Anna verstand etwas wie »eine Frau im Heer bringt Unglück«.
Ludwig nickte ihr zu. »Ich danke dir für die Nachricht, Mädchen. Sag deinem Herrn in Freising, ich werde seine Hilfe nicht vergessen.«
»Verzeiht, Herr«, stieß Anna hervor, was ihr seit Monaten auf der Seele lag. »Ulrich von Rohrbach … ist er am Leben?«
Der König wechselte einen überraschten Blick mit seinen Männern. »Er wurde in der Hohenlohe verletzt«, erwiderte schließlich einer der Ratgeber. »Aber inzwischen ist er wieder gesund.«
Als die Wachposten Anna ins Freie schoben, blieb sie stehen. Über ihr waren nur wenige Sterne zu erkennen. Sie war enttäuscht, für ihren Gewaltritt hätte sie sich etwas mehr erwartet. Trotzdem war sie so erleichtert, dass sie am liebsten getanzt hätte. Ulrich war am Leben! Auch wenn sie ihm vielleicht nie wieder in die Augen sehen konnte, er lebte.
»Mädchen, warte!« Ein junger Knappe in den Farben des Königs war ihr nachgelaufen. Er reichte ihr einen bestickten Beutel. »Dein Lohn.«
Überrascht nahm Anna das Säckel entgegen. Es war alles andere als leicht – König Ludwig war trotz seiner Geldnot großzügig.
Ein leichter Föhn wehte von Süden her. Anna blickte über die terrassenartigen Schwellen hinunter zu den sumpfigen Auwäldern und zur Stadt Mühldorf. Das glänzende Band des Inns war nur schwach zu erahnen. Dass Ulrich lebte, war ein Hoffnungsschimmer und gab ihr neue Kraft.
Sie suchte die dunkle Bergkette am Horizont, und wieder kam ihr der Gedanke, den sie so oft in den letzten Monaten gehabt hatte. Dort lag Tirol, und das Kloster Neustift, von dem Falconet gesprochen hatte. Ein Dutzend Mal hatte sie sich vorgenommen, seinen letzten Wunsch zu erfüllen und das Spielmannsbuch dorthin zu bringen. Aber sie hatte sich nicht davon trennen können. Anna sah in die Dunkelheit und wog den Beutel nachdenklich in der Hand. Es war an der Zeit, dachte sie, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Das Geld ermöglichte ihr eine sichere Reise. Und wenn sie erst den Mann gefunden hatte, der die Carmina geschrieben hatte, würde sie König Ludwig selbst um seinen Richtspruch bitten. Dann würde sie auch Ulrich wieder in die Augen sehen können. Mit etwas Glück konnte sie Eva und Steffen bewegen mitzukommen. Klöster versprachen fette Braten und volle Tafeln.
Eine Stunde später sahen die Posten auf den wuchtigen Stadtmauern von Mühldorf überrascht bergauf. Von der Anhöhe, wo Feuerstellen das Heer König Ludwigs verrieten, schallte laute Musik und Gelächter. Offenbar ging es dort oben lustig zu, dachten die österreichischen Waffenknechte neidisch. Sie ahnten nicht, dass sie genau das denken sollten.
Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, sah man nur noch kahle Stellen und verglühende Feuer hinter den aus Ästen gefügten Zäunen und Erdwällen. Das Lager König Ludwigs war verlassen – im Schutze der Nacht und der Musik war das bairische Heer abgezogen.
Der Wind fuhr durch Friedrich von Österreichs seidiges Haar, als er mit zorngeschwelltem Hals die Steintreppe zu den Wällen heraufkam. Außer sich packte er den nächstbesten Soldaten und begann in hilfloser Wut auf ihn einzuschlagen. Die anderen zogen stumm die Köpfe ein, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Als er keuchend von dem Mann abließ, war sein schönes Gesicht verzerrt. Doch sein Zorn half ihm nichts. In seinen Augen mochte Ludwigs Verhalten wenig ritterlich sein, aber es war unbestritten klug.
Friedrichs Zorn entlud sich auf dem Rücken derer, deren er habhaft werden konnte. Quer durch Baiern zog der Habsburger nach Regensburg und hinterließ eine breite Spur der Verwüstung. Ausgebrannte Dörfer, aus denen noch scharf riechende Rauchschwaden stiegen, Katen, deren verkohlte Pfeiler anklagend in den Himmel ragten, ganze Schneisen in Wald und Feldern verrieten seinen Weg. Überall lagen, unter ihren Kleidern kaum zu erkennen, die Leichen. Zerbrochene Puppen und Töpfe, in denen noch die Reste von Suppen klebten, verrieten, dass die Menschen völlig überrascht worden waren. Bauern wimmerten wie verrückt in den Ruinen. So kurz vor dem Winter alles zu verlieren war beinahe ein Todesurteil. Doch den Mann, dem diese Wut galt, den Mann, den König Friedrich einst mehr geliebt hatte als seinen Bruder, bekam er nicht in die Hände. Ludwig von Baiern war spurlos verschwunden.