»Du hast das Schlimmste hinter dir, Anna«, meinte Arsatius, der Bruder Apotheker im Herbarium von Benediktbeuern. »Ich gebe dir noch einmal die Salbe. Sie riecht ziemlich stark nach Minze, aber das kennst du ja schon. Trag sie weiter morgens und abends auf die Brust auf.«
Bei der Erwähnung eines so intimen weiblichen Körperteils errötete er. Er war etwas über fünfundzwanzig, und der helle Haarkranz um seine braungebrannte Tonsur noch dicht. Von der Arbeit im Freien war sein Rücken gebeugt und die Haut braun und faltig wie Leder. Als er ihr die Salbe reichte, spürte Anna den scharfen, nicht unangenehmen Geruch. »Es war gut, dass Herr Konrad dich hierhergebracht hat. Deine Lunge war entzündet, woanders wärst du vermutlich gestorben. Wir haben hier eines der besten Herbarien Baierns.« Dass man sie hierbehalten hatte, konnte sie nur dem Deutschherrn verdanken, auch wenn sie nicht verstand, warum er es für sie tat.
Das Herbarium war eine kleine, abgeschlossene Welt. Geschützt von einer kleinen Mauer und den Obstgärten, lag es an einem der sonnigsten Plätze der Enklave. Hinter der Klostermauer sah man die Berge, aber dichte Heckenrosen hielten kalte Winde ab. Eine Hütte diente zum Trocknen der Kräuter und Ansetzen der Tinkturen. Heute konnte Anna zum ersten Mal selbst hierherkommen und war verzaubert von den Düften nach Thymian und Minze und tausend anderen, die sie nicht einmal kannte.
»Das hier ist Fenchel«, erklärte Arsatius, als er ihr Interesse bemerkte. Vermutlich wusste er, wie gern Gaukler die Rezepte kräuterkundiger Mönche aufschnappten. Da sie viel herumkamen, verdienten sie sich oft ihr Geld als Quacksalber. »Wenn man die Samen zerkaut und den Saft ins Auge träufelt, lindern sie Entzündungen. Efeu, Bilsenkraut und Kamille kennst du ja. Und den Lavendel hat mir ein Bruder aus Frankreich mitgebracht.«
»Das ist ein Zaubergarten.« Anna drehte sich im Kreis und genoss die warme Augustsonne. Aus Rücksicht auf den geweihten Ort hatte sie ein helles Leinenkopftuch im Nacken geknotet, nur ein paar goldene Strähnen fielen in ihr Gesicht. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie ein Bad nehmen können – wenn auch erst gestern Abend nach Einbruch der Dunkelheit, um bei niemandem die Sinnenlust zu reizen. Wochenlang hatte sie zwischen Leben und Tod geschwebt, mit allen Kräften gegen das scheinbar Unausweichliche gekämpft. Die sicheren Klostermauern, die regelmäßigen Mahlzeiten, der beruhigende Wechsel von Gebet und Arbeit der Mönche, selbst das nahe Moor mit seinem frischen Geruch nahm sie jetzt mit allen Sinnen auf. Ohne einen Gedanken an die Zukunft war sie einfach nur glücklich, am Leben zu sein.
»Und dort drüben ist die Bibliothek.« Stolz, einmal einem Gast alle Wunder der Abtei zeigen zu können, wies er auf das wuchtige Hauptgebäude. »Wir haben eine Schreibschule und mehr als zweihundertfünfzig Handschriften. Das ist alles, was ein gebildeter Mönch wissen muss.«
Anna kam zum Stehen, sie dachte an das Buch mit den Carmina. Als sie krank geworden war, hatte man ihre Habseligkeiten dem Bruder Krankenpfleger anvertraut. In seiner Obhut war es noch. Es schien ihr der sicherste Ort, denn in den Gästehäusern von Klöstern wurde fast mehr gestohlen als auf Jahrmärkten. Sie war noch nicht sicher, was sie mit dem Buch tun sollte, wenn sie es nach Kaltenberg gebracht hatte. Was Herzog Leopold damit geplant hatte, bewies ihr, dass es in Gefahr war.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte sie.
Arsatius bückte sich, um ein paar Grashalme aus seinem Kamillebeet zu zupfen. »Nach dem Gerücht um das Mordkomplott hat König Ludwig wieder angefangen, seine treuen Städte zu belohnen. Er ist klug. Wenn er die Orden und die Städte stark macht, entlastet das sein Säckel und erhält ihm Geldgeber. Ludwig lässt sich nicht einschüchtern. Im September soll es sogar ein Turnier für den Adel und die Städte im Westen Baierns geben. Vermutlich will er seinem Feind zeigen, dass er trotz des ewigen Kriegs noch bei Kräften ist.«
»Ein Turnier in München?«
Die Glocke läutete zur Vesper. Arsatius richtete sich auf und hielt sich ächzend den Rücken. »Ich muss beten gehen. Nein, das Turnier findet auf der Burg eines seiner Ministerialen statt. Das spart dem König Kosten, und der Burgherr kann sich ins Gespräch bringen, ohne selbst verantwortlich zu sein. Muss ein ehrgeiziger junger Mann sein, dieser Ulrich von Rohrbach. Der Ort heißt Kaltenberg.«
Aufgewühlt ging Anna zum festungsartigen Gästehaus zurück. Der kahle Vorraum war kühl und dunkel, doch sie fror nicht. Sie lehnte sich neben der Fensternische an die Mauer. Soeben war die Sonne hinter den Bergen verschwunden, die wuchtigen Türme der Kirche hoben sich schwarz vom glühenden Himmel ab.
Wenn Raoul von dem Turnier erfuhr, würde er nach Kaltenberg kommen. Sie erinnerte sich, was der Reitknecht Hartmut auf Kaltenberg einmal gesagt hatte: In einem Turnier konnte man Leben und Ehre verlieren, selbst eine Burg. Vielleicht sogar einen Fluch brechen? Ein Kampf zwischen Raoul und Ulrich konnte nur einer auf Leben und Tod sein. Aber wem sollte sie den Sieg wünschen?
Mit einem erstickten Laut lehnte sie sich an den Stein. Was hatte sie nur getan? Früher hatte sie gewusst, wohin sie ging. Aber jetzt hatte sie ihren Weg verloren und fand nicht mehr zurück.
Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne wärmten ihre Wangen. Anna dachte an den Wildrosenstrauch, wo Ulrich sie vor Jahren zum ersten Mal geküsst hatte. Seine geflüsterten Zärtlichkeiten, die abgeknickten Blumen, als sie mit gerötetem Gesicht und wirrem Haar aufgestanden war. Er hatte sie zur Frau gemacht.
Wie weit konnten Gefangenschaft und das Schicksal einen Mann verändern? Seit dem Tod ihres Bruders war Raoul der erste Mensch, der ihr eine schon fast vergessene Wärme gab. Sie dachte an die Köhlerhütte in den Bergen, mitten im gelb leuchtenden Nebel. Seine Hände in ihrem Haar, als sie es zum ersten Mal wieder genossen hatte, Frau zu sein. Das verstohlene Bedürfnis, ihn zu berühren, ihn ständig heimlich anzusehen. Der warme Glanz in seinen dunklen Augen, seine ausdrucksstarken Lippen, als er sie küsste und in ihr ein Verlangen weckte, das sie von sich nicht gekannt hatte. Sosehr sie dagegen ankämpfte, sie konnte sich nicht dagegen wehren.
In Annas rotem Kleid knisterte der Wind, das Abendlicht überhauchte ihr Gesicht golden. Unter dem Tuch, das über ihrem flammend roten Haar geknotet war, war ihr warm. Sie sah auf die schwarzen Türme, als könnten sie ihr sagen, was sie tun sollte. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach dem Mann, den sie mehr als jeden anderen hassen müsste. Vielleicht hatte sie nicht einmal aufgehört, Raouls Tod zu wollen. Aber noch mehr als das wollte sie ihn.