XXI
»Aus welcher Richtung kommen die Grauen Ritter?«, wollte Titania wissen.
»Durch die Gärten«, antwortete Cordelia.
»Wirst du wieder die Vögel zu unserer Verteidigung rufen?«, fragte Sancha.
»Nein! Um ein solches Opfer werde ich sie nicht noch einmal bitten. Wir haben Schwerter. Dies ist unser Kampf. Unsere Verfolger sind jedoch nur zu fünft: Wir können sie besiegen.«
»Ist Gabriel bei ihnen?«, erkundigte sich Tania mit brüchiger Stimme.
»Das vermag ich nicht zu sagen. Die Vögel haben mir lediglich mitgeteilt, dass es fünf Ungeheuer sind.« Cordelia verschwand aus der Kellertür.
Tania wandte sich an Edric. Er wartete noch immer, hatte aber bereits die Hand nach dem Griff ausgestreckt.
»Ist der Bernstein jetzt ausgehärtet?«
Sein Mund verriet Entschlossenheit. »Hoffen wir es!«
Als er das Schwert hochhielt, schimmerte es wie Öl. Die Glasur aus Bernstein blieb glatt. Edric drehte sich um und schwang das Schwert probeweise.
»Sehen wir zu, dass wir wegkommen!«, befahl Titania.
Cordelia stand im Flur und blickte durch die Hintertür der Küche ins Freie. Sie hielt die restlichen Schwerter im Arm und hatte den Rucksack mit Titanias Krone geschultert.
Das erste Licht fiel durch das Küchenfenster. Auf der Wanduhr war es zehn vor fünf.
Sancha und Zara nahmen jede ein Schwert in die Hand. Titania erteilte Anweisungen. »Tania, du bist die Wichtigste von uns allen. Du hältst dich in der Mitte. Edric, wir gehen als Erste durch die Haustür. Das Auto steht am Gartentor. Bleibt dicht zusammen, falls wir angegriffen werden. Zara, du bleibst rechts von Tania und Sancha, du bewachst ihre linke Seite. Cordelia, du bildest das Schlusslicht.«
»Ich kann mich selbst verteidigen«, sagte Tania.
»Das weiß ich. Aber wenn dir etwas zustößt, kann keiner von uns mehr hier weg.«
»Aber…«
Tanias Protest wurde von dem Klirren splitternden Glases unterbrochen. Eines der Küchenfenster war in Stücke gegangen und etwas Weißes sauste durch die Luft direkt auf sie zu.
Jemand riss Tania jäh zur Seite. Die rasiermesserscharfe Klinge eines langen weißen Speers verfehlte nur knapp ihren Kopf. Mit einem dumpfen Schlag blieb die Speerspitze in der Haustür stecken.
Mit einem Mal war die Luft von wildem Geheul und Gewieher erfüllt. Ein irres, geisterhaftes Gesicht tauchte vor dem zerbrochenen Fenster auf. Schläge gingen auf das Gartentor nieder.
»Raus hier!«, schrie Cordelia.
Edric rannte zur Haustür. Titania schnappte sich den Rucksack von Cordelia, setzte ihn sich im Laufen auf und hastete ihm nach.
Ein zweiter Speer schwirrte durch die Luft und bohrte sich genau zwischen Cordelias Füßen in den Boden. Tania schrak zurück und ging rückwärts in den Flur, während Sancha und Zara mit gezückten Schwertern nicht von ihrer Seite wichen.
Cordelia packte den Speer, riss ihn aus dem Fußboden und warf ihn mit einem Schrei in Richtung Fenster.
Der Graue Ritter schrie auf und sein Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld.
Edric riss die Tür auf und rannte mit dem schimmernden schwarzen Schwert nach draußen.
»Die Luft ist rein!«, rief er. »Schnell!«
Tania drehte sich um und lief los, die Schwestern blieben immer an ihrer Seite.
Sie hörte das Splittern der Gartentür. Das anschwellende Getöse hallte schmerzhaft in ihrem Kopf wider.
Sie vernahm einen durchdringenden Schrei und näher kommendes Hufgetrappel. Einer der Grauen Ritter näherte sich von links dem Haus, in der einen Hand hielt er die Zügel, in der anderen einen Speer, mit dem er auf Tania zielte. Im nächsten Moment schnellte der schlanke Schaft auch schon auf sie zu. Sancha packte ihr Schwert mit beiden Händen und stellte sich breitbeinig hin. Sie blickte grimmig und ihr schwarzes Haar flatterte ihm Wind. Es klirrte, als der Speer von ihrer Klinge abprallte. Mit einem dumpfen Aufprall schlug er ein paar Meter entfernt auf dem Boden auf. Darauf raste der Graue Ritter mit gezücktem Schwert auf die Prinzessinnen zu.
Sancha versuchte seinen Angriff zu parieren, doch die Wucht des Schwerthiebs riss sie um und sie fiel der Länge nach auf den Fußweg. Bei dem Aufprall wurde ihr die Waffe aus der Hand gerissen.
Geistesgegenwärtig warf sich Tania zur Seite, als das Geisterpferd direkt auf sie zugaloppierte. Der Ritter war ihr jetzt so nahe, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte und die Hufe seines Pferds sie beinahe streiften.
Da hörte sie, dass sich hinter ihr etwas bewegte. Sie fuhr herum, als sie einen kurzen Schrei vernahm. Zara kämpfte mit einem Grauen Ritter. Ihr Schwert blitzte auf, als sie zum Schlag ausholte und dem grausigen Wesen den Kopf abschlug, der geradewegs auf Zara zusauste und gegen ihren Brustkorb prallte. Mit einem Schmerzensschrei stürzte sie zu Boden.
Das Pferd des Ritters bäumte sich wiehernd auf, Schaum trat vor sein Maul. Der kopflose Graue Ritter saß noch immer im Sattel, hielt die Zügel in der einen Hand und verteilte mit der anderen Hiebe nach allen Seiten. Mit Grausen beobachtete Tania, dass der Kopf wie von unsichtbarer Hand in die Luft katapultiert wurde und auf dem Rumpf des Ritters landete.
Triumphierendes Gelächter drang aus seiner Kehle und über den markerschütternden Ton hinweg hörte Tania Edric rufen: »Das Herz! Ziel auf sein Herz!«
Plötzlich war Cordelia an der Seite des Reiters und ihr Schwert durchschnitt sirrend die Luft. Die Klinge durchschlug die Brust des Gegners, genau zwischen den Falten seines Umhangs. Mit seinen knochigen Fingern griff er sich an die verwundete Stelle, dann ging alles ganz schnell: Wo eben noch sein Gesicht gewesen war, sah man nur noch eine graue Aschenwolke, einen Augenblick später hatte sich seine Gestalt im Nichts aufgelöst und seine leeren Kleider fielen vom Sattel herab.
Tania stolperte auf Sancha zu, die ausgestreckt auf der Erde lag. Vorsichtig half sie ihrer Schwester auf die Beine und zog sie Richtung Auto.
Cordelia machte einen Satz nach vorne, als das reiterlose Pferd zusammenbrach, und sprang über dessen Brustkorb. Im Laufen hob sie ihr Schwert vom Boden auf.
Zara war wieder auf den Beinen und sie rannten alle auf das Auto zu. Zwei weitere Reiter preschten hinter dem Haus hervor.
Die Türen des Wagens standen offen. Titania saß bereits hinter dem Steuer. Edric wartete an der Fondtür und schubste die Schwestern nacheinander hinein. Im Inneren des Autos herrschte ein Durcheinander aus Armen, Beinen und Schwertern.
Da setzte das Erste der grauen Pferde über die Gartenmauer. Tania schien es, als fülle das riesige Tier den ganzen Nachthimmel aus.
Edric sprang über die Motorhaube und warf sich mit Schwung auf den Beifahrersitz. Cordelia, die als Letzte eingestiegen war, knallte die Tür hinter sich zu, und im selben Moment gab Titania Gas.
Plötzlich tauchte ein Ritter direkt vor ihrem Auto auf. Die Elfenkönigin stieß wütendes Kampfgeheul aus und hielt geradewegs auf Pferd und Reiter zu. Tania wurde in den Rücksitz gedrückt, als der Wagen beschleunigte. Sie rasten auf die glühenden Augen des Grauen Ritters zu. Tania konnte nur Bruchstücke durch die Windschutzscheibe erkennen: ein Schwert, Hufe. Das Flattern eines schimmernden grauen Umhangs.
Das Pferd bäumte sich auf und setzte zum Sprung an. Das Auto wurde wie ein Boot auf stürmischer See hin- und hergeworfen, als die Hufe auf die Motorhaube donnerten. Es klang, als würde man mit dem Hammer auf einen Amboss schlagen.
Dann ließen sie den Angreifer hinter sich, der versuchte, sein Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Schneller! Gib Gas!«, rief Edric.
Der Ritter nahm erneut die Verfolgung auf und tobte vor Wut, als der Wagen sich mit hoher Geschwindigkeit entfernte. Er galoppierte hinter dem Auto her, fiel aber immer weiter zurück. Als sie um eine Kurve bogen, verschwand er endgültig aus ihrem Blickfeld.
»Wir sind ihnen entkommen!«, stieß Tania hervor.
»Es waren auch nur fünf«, erwiderte Cordelia grimmig. »Freuen wir uns nicht zu früh! Wir sollten lieber darüber nachdenken, wo sich die anderen Verfolger verbergen.«
»In der Tat«, stimmte Zara zu. »Ihr grausiger Hauptmann ist bisher nicht aufgetaucht.«
»Wahrscheinlich wartet er in Tanias Haus auf uns«, vermutete Sancha. Sie blickte Tania angsterfüllt an. »Die aufgehende Sonne kann noch immer Zeuge eines Blutvergießens werden. Der Albtraum ist noch nicht vorüber.«
Stöhnend schloss Tania die Augen und wie aus weiter Ferne drang Gabriel Drakes grausames Lachen an ihr Ohr.
Die Distanz zwischen Jades Haus zur Eddison Terrace betrug weniger als eine Meile. Die Königin suchte sich nach Tanias Anweisungen einen Weg durch das Straßengewirr Nordlondons, und so dauerte es nur wenige Minuten, bis der Wagen beim Haus der Palmers zum Stehen kam.
Der Himmel wurde bereits heller, die Straßen lagen noch größtenteils im Dunkeln. In den Nachbarhäusern brannte vereinzelt Licht.
Cordelia öffnete die Autotür einen Spaltbreit und streckte vorsichtig den Kopf heraus. Sie lauschte aufmerksam. »Hört ihr das?«
»Was denn?«, erkundigte sich Zara.
»Das ist es ja: Ich höre gar nichts«, erwiderte Cordelia angespannt. »Die Sonne geht bald auf. Aber die Vögel bleiben stumm!«
»Die Ritter sind also hier«, raunte Zara.
»Vermutlich haben sie das Haus gestürmt«, mutmaßte Titania. »Wie viele mögen es sein, was schätzt ihr?«
»Oberons Krone hatte dreizehn Steine«, überlegte Sancha laut. »Zwei unserer Feinde wurden vernichtet. Vier haben wir hinter uns gelassen, also werden wir es vermutlich mit sieben Gegnern zu tun haben. Sechs Ritter, mit dem Verräter Drake an der Spitze.«
Tania erschauderte.
»Wir müssen auch mit den Rittern rechnen, denen wir eben entflohen sind«, gab Edric zu bedenken.
»Dann sind es elf an der Zahl«, resümierte Cordelia. »Elf Ungeheuer gegen vier Elfenschwerter.«
»Tania sollte das schwarze Schwert nehmen«, schlug Edric vor. »Sie und Ihre Majestät die Königin müssen um jeden Preis ins Elfenreich gelangen. Wir anderen sind verpflichtet, alles in unserer Macht Stehende tun, um das zu ermöglichen.«
»Und koste es mein Leben«, rief Zara.
»Nein!«, unterbrach Tania sie. »Keiner von uns wird hier sterben. Wir kehren zusammen ins Elfenreich zurück.«
»Die Ritter werden schon auf der Lauer liegen«, vermutete Sancha. »Sie sind nicht dumm. Wahrscheinlich haben sie das Haus umzingelt. Wie könnten wir an ihnen vorbei kommen?«
»Sie erwarten uns«, meinte Edric. »Deshalb hat es keinen Sinn, einen Überraschungsangriff zu starten.«
»Vielleicht können wir sie trotzdem überrumpeln«, hielt Tania dagegen. »Hinter den Gärten in unserer Straße führt ein Weg entlang. Er ist eigentlich nur für Fußgänger gedacht, aber ich glaube, er ist breit genug für ein Auto. Da könnten wir bis zur Rückseite unseres Gartens zu fahren.«
»Die Grauen Ritter werden auch den Garten bewachen«, sagte Edric. »Wir müssten über den Zaun klettern, und noch bevor wir das Haus erreichen, haben sie uns schon zu Kleinholz verarbeitet.«
»Nicht, wenn wir im Auto bleiben«, wandte Tania ein und blickte dabei zu Titania hinüber. »Wir müssen den Zaun mit dem Wagen durchbrechen, um bis zum Haus zu gelangen.«
»Mit diesem Kunststück könnten wir sie überrumpeln«, führte Edric ihren Gedanken weiter.
Cordelia grinste. »Immerhin greifen wir in einem Streitwagen aus Isenmort an! Wohlan, lasst uns sofort ans Werk gehen!«
Tania saß auf dem Rücksitz zwischen ihren Schwestern. Sie hielt das schwarze Schwert mit beiden Händen aufgerichtet vor sich. Ihr war, als blicke sie durch einen dünnen Spalt in eine undurchdringliche Finsternis.
Der Wagen rumpelte über den Bordstein und Tania erwachte aus ihrer Trance. Auf dem Weg hielten sie an. Tania musterte ihre Schwestern. Zara sah kämpferisch aus. Sanchas Lider waren geschlossen und sie murmelte etwas vor sich hin. Cordelia lächelte, aber in ihren Augen lagen Zorn und Entschlossenheit. Immer wieder strich sie mit dem Daumen über die Schneide des Schwerts. Tania vermutete, dass sie die Stare rächen wollte, die während der Flucht aus dem Haus ihr Leben für die Elfen gelassen hatten.
Tanias Blick wanderte zu Edric, der auf dem Beifahrersitz saß. Unwillkürlich wandte er sich nach ihr um und lächelte.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Vermutlich hätte sie auch kein Wort über die Lippen gebracht. Es gelang ihr jedoch, sein Lächeln zu erwidern.
»Sobald wir aus dem Wagen raus sind, läufst du so schnell wie möglich in dein Zimmer«, sagte er und seine Stimme zitterte ein wenig. »Du machst das schon.«
Sie nickte.
»Seid ihr bereit?«, fragte Titania. »Dann los!«
Sie stieg aufs Gas, sodass der Motor aufheulte, dann legte sie ruckartig den Gang ein. Das Auto machte einen Satz nach vorne und raste dann über den Weg, der an manchen Stellen von Gesträuch überwuchert war. Äste peitschten gegen die Fenster.
Tania zählte die Häuser, die man über die Zäune hinweg sah. Jetzt musste sie genau aufpassen.
Noch fünf.
Drei.
»Jetzt!«
Titania riss das Steuer herum.
Sie wurden zur Seite geschleudert, als der Wagen sich drehte und auf den Gartenzaun zuraste. Mit ungeheuerlicher Wucht krachte der rechte Kotflügel ins Holz. Bei dem Aufprall löste sich eine Latte aus dem Zaun, die ihnen für einen Moment die Sicht nahm, bis sie seitlich von der Motorhaube rutschte.
Der Wagen holperte über ein Blumenbeet, streifte einige Rotdornbäume und schrammte am Schuppen ihres Vaters entlang. Jetzt lag nur noch Rasen vor ihnen, der bis zur Terrasse und der Rückseite des Hauses reichte. Die Terrassentür auf der Küchenseite war zerstört. Sie war in der Nacht ihrer Flucht kaputtgegangen. Tania konnte das Fenster ihres Zimmers sehen. In den Scheiben spiegelte sich das Morgengrauen.
Sie war ihrem Ziel so nah… Wenn sie nur Flügel hätte…
Nun sahen sie, dass vier Graue Ritter ihnen den Weg versperrten. Zu Pferd nebeneinander aufgereiht, bildeten sie eine fast undurchdringliche Mauer. Sie schienen reglos wie Statuen, jeder hielt einen Speer in der Hand. Wie stets waren ihre Gesichter grinsende Fratzen. Ihre blutroten Augen fixierten Tania. Sie war wie gebannt und meinte, die Welt müsse jeden Moment in einem düsteren Grau versinken.
Kurz vor einem Zusammenstoß bäumten sich die Pferde auf und sprangen vor dem heranrasenden Wagen zur Seite. Ihre Reiter heulten vor Wut auf und mühten sich, im Sattel zu bleiben und die panischen Tiere zu beruhigen.
Dennoch reagierten sie blitzschnell und schleuderten ihre Speere hinterher.
Zwei trafen die Windschutzscheibe, die in tausend Scherben zerbarst, ein dritter durchbohrte das Seitenfenster, sodass es Glassplitter auf die Insassen regnete.
Einem plötzlichen Instinkt folgend, hielt sich Tania schützend das Schwert vors Gesicht. Der Speer, der direkt auf ihren Kopf zuflog, prallte von der Klinge ab und durchbrach die Heckscheibe. Der Schaft des zweiten Speers ragte aus der Windschutzscheibe, nachdem er zwischen den Vordersitzen stecken geblieben war.
Tania vernahm neben sich einen unterdrückten Schrei. Der letzte Speer war soeben durch das Seitenfenster geschwirrt und schlug genau auf den Rücksitz ein, wo Tania und Cordelia saßen. Cordelia hielt sich den Arm, Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor.
Titania riss erneut das Lenkrad herum und machte eine Vollbremsung, sodass das Auto ins Schleudern kam. Schlingernd rutschte der Wagen auf die Terrasse und schlitterte dann seitlich über die Steinplatten auf das Haus zu. Das Auto krachte scheppernd an die Rückwand.
»Alle raus!«, brüllte Titania.
Cordelia kickte die Tür weit auf. Die Beifahrerseite des Wagens stand direkt an der Wand, sodass sich die beiden rechten Türen nicht öffnen ließen. Cordelia stolperte aus dem Wagen und postierte sich breitbeinig auf der Terrasse. Obwohl sie verletzt war, stieß sie lautes Kampfgeheul aus und schwang ihr Schwert mit dem gesunden Arm.
Tania war direkt hinter ihr. In ihren Ohren dröhnte es vom Aufprall des Wagens.
Die Grauen Ritter griffen als Horde an. Die Laute, die aus ihren Kehlen drangen, ähnelten dem Gekrächze von Aasgeiern.
Tania stürmte neben Cordelia her. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Sancha dicht hinter ihr war. Zara hingegen kletterte auf das Autodach, um sich einen Überblick zu verschaffen.
»Nein!«, schrie Cordelia in Tanias Richtung. »Dieser Kampf ist unsere Aufgabe. Geh du ins Haus.«
Doch Tania beachtete sie nicht. Sie zückte das Schwert und richtete die Augen unverwandt auf den ersten der herannahenden Ritter. Sie hatte nicht die geringste Absicht, ihre Gefährten im Stich zu lassen.
Doch die hatten andere Pläne. Tania heulte wütend auf, als sie jemand mit festem Griff nach hinten zog.
Es war Edric. »Geh rein!«, rief er energisch. »Rette das Elfenreich!«
Er drehte sie um und schubste sie durch die eingeschlagene Tür. Sie stolperte, fiel auf die Knie und konnte das Schwert nur mit Mühe und Not festhalten.
Sie rappelte sich auf und wollte gerade zurück in den Garten, als Titania ihr im Türrahmen den Weg versperrte.
»Los!«, stieß sie keuchend hervor.
Tania warf einen letzten Blick nach draußen, wo Edric und ihre Schwestern gegen die Reiter kämpften. Dann rannte sie durch die Küche. Der Boden war mit blutigen Federn verklebt, und überall lagen die Kadaver jener Vögel, die sich für die Prinzessinnen geopfert hatten.
Tania war darauf gefasst, im Haus weiteren Rittern zu begegnen. Im Garten waren vier. Nur wo steckte der Rest? Sie flitzte den Gang entlang, wirbelte um die Ecke und stürmte die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Sie konnte schon die Tür ihres Zimmers sehen, als sich plötzlich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste.
Eine Schwertklinge schimmerte.
Silberaugen blitzten auf.
Er stand auf dem oberen Treppenabsatz.
»Seid gegrüßt, meine Braut«, sagte Gabriel mit süßlicher Stimme. »Lange habe ich mich nach Euch gesehnt.«
Tania taumelte vor Schreck, fiel auf die Knie und starrte ihn an. Sie fühlte sich wie gelähmt, ihre Arme hingen schlaff herunter.
»Kommt zu mir, Mylady!«, befahl er und winkte sie zu sich. »Ich habe etwas für Euch, das Geschenk eines liebenden Gatten.«
Tania wurde von einer unheimlichen Macht hochgezogen. Sie bemühte sich, die Kontrolle über ihre Gliedmaßen wiederzuerlangen, aber der Blick der silbern glänzenden Augen raubte ihr jeglichen Widerstandsgeist. Wie ferngesteuert schritt sie die Stufen zu dem Elfenlord hinauf.
Gabriel trat vom Treppenabsatz zurück. Er lächelte, als sie schließlich vor ihm stand. Ihre Körper berührten sich beinahe. Tania blickte in seine Augen und versank darin. Sie spürte, wie ihr das schwarze Schwert aus der Hand glitt und klirrend die Stufen hinabfiel. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf wollte ihr sagen, was zu tun sei, aber die Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein.
Das alles war unwichtig.
Sie vernahm eine warme, sanfte Stimme.
»Wollt Ihr Euer Geschenk nicht in Empfang nehmen, Mylady?«
»Ja… bitte…«
Sie sah, wie er sein weißes Schwert auf sie richtete. Durch die Kleidung hindurch spürte sie die Spitze in ihrer Magengegend.
Sie war ganz ruhig. Sorglos. Als würde sie im luftleeren Raum schweben. Nur seine Silberaugen hielten sie fest. Sein Mund kam immer näher, um sie zu küssen, während die Klinge leicht gegen ihren Brustkorb drückte.
Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Stille. Etwas Dunkles schoss an Tanias Kopf vorbei und grub sich tief in Gabriels Schulter.
»Lasst meine Tochter in Ruhe!«
Drake ließ von Tania ab. Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt und er presste seine Hand gegen die Wunde. Sie taumelte und wäre beinahe rückwärts die Treppe hinuntergestürzt, wenn Titania nicht direkt hinter ihr gestanden hätte. Die Königin umklammerte immer noch das schwarze Schwert, mit dem sie Gabriel verwundet hatte.
»Wo ist dein Zimmer?«, wollte Titania wissen.
Noch immer benommen von Gabriels Zauber, deutete Tania stumm auf ihre Tür. Ihre Mutter schob sie darauf zu.
Gabriel war am Boden zusammengesunken, sein rechter Arm baumelte herab, die linke Hand hielt er gegen die blutende Schulter gepresst. Titania kickte ihm das Schwert aus den schlaffen Fingern.
»Ich wünschte, ich hätte Zeit, Euch angemessen für Eure Verdienste zu danken«, sprach sie hasserfüllt. »Aber eines seid gewiss: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Rathina aus Euren Fängen zu befreien.«
Drake starrte zu ihr hoch. »Lasst doch die leeren Drohungen, Euer Gnaden«, zischte er zwischen den Zähnen hindurch. »Euer Gatte liegt in Fesseln und der König von Lyonesse sitzt auf seinem Thron.«
Titania lächelte kalt. »Mit Verlaub, Mylord, aber das werden meine Tochter und ich schleunigst ändern.«
Tania öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, sodass die ersten Strahlen der Morgensonne hereindrangen. Tania wandte sich um und sah ihre Elfenmutter an. »Was soll ich tun?«
Titania reichte ihr das Schwert. »Zwischen den Welten zu wandeln ist allein deine Gabe, Tania. Ich kann dir nicht dabei helfen.«
»Was ist mit den anderen?«
Im gleichen Moment vernahm sie eilige Schritte auf der Treppe und Zara stürmte ins Zimmer, ihre Augen leuchteten triumphierend.
»Zwei haben wir niedergestreckt!«, stieß sie atemlos hervor. »Cordelia ist verletzt. Edric macht die Nachhut!«
Sekunden später tauchten die beiden anderen Prinzessinnen auf. Cordelia stützte sich schwer auf Sancha, ihre Kleidung war zerrissen und blutbefleckt. Auf ihrer Wange prangte eine Schnittwunde und Blut lief ihr über das Kinn. Dennoch glühten ihre Augen angriffslustig.
Zuletzt sprang Edric mit einem Satz herein und knallte seinem Verfolger die Tür ins Gesicht.
»Beeil dich, Tania!«, mahnte Titania.
Edric stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, die unter wiederholten Schlägen erzitterte.
»Es waren… noch zwei…«, sagte er keuchend. »Sie sind zur Haustür reingekommen… ich fürchte, ich werde… sie nicht lange… aufhalten können.«
Tania wandte sich zum Fenster und bemühte sich, die wilden Schreie der Grauen Ritter, das Hämmern ihrer Fäuste und Schwertgriffe gegen die Tür auszublenden.
Auf einmal wurde sie ganz ruhig.
Mit beiden Händen hob sie das schwarze Schwert und versuchte sich das kleine, runde Turmzimmer im Elfenreich vorzustellen.
Sie machte einen Schritt vorwärts, das Schwert gen Himmel gereckt, und trat dann zur Seite.
Sofort hatte sie den Geschmack von Eisen im Mund. Eine Schar unsichtbarer Wesen griff sie an, Schwingen schlugen ihr ins Gesicht, Krallen gruben sich in ihre Haut. Die teuflischen Rufe der Kreaturen gellten in ihren Ohren.
Tania hieb mit dem Schwert um sich, bis die Geschöpfe flohen. Doch dann verspürte sie plötzlich einen rasenden Kopfschmerz. Es war, als würden glühende Eisenbänder um ihre Brust und ihre Hüften gelegt, die sich langsam aber stetig zusammenzogen.
Weit entfernt hörte sie Edric etwas rufen.
»Das Schwert! Benutze das Schwert!«
Aber die Waffe war schwer wie Blei und sie konnte kaum ihre Arme heben. Mit letzter Kraft stieß sie mit dem Schwert Millimeter um Millimeter nach oben. Die Luft schien ihr hart wie eine Mauer.
Endlich hielt sie das Schwert über dem Kopf, den Griff mit beiden Händen fest umklammert. Kraftvoll ließ sie die Klinge herabsausen.
Vor ihr tat sich eine weiße, strahlende Öffnung auf.
Der Spalt wurde breiter, bis sie schließlich das Bogenfenster von Bonwn Tyr erkennen konnte, die Wipfel der Espenbäume und dahinter den wolkenlosen blauen Himmel.
Ein Hauch von Elfenluft umwehte sie. Sie atmete tief ein, nahm den magischen Geruch in sich auf und allmählich ließ auch der Eisengeschmack nach. Das schwarze Schwert aber war verschwunden.
Mit einem Fuß trat sie durch den leuchtenden Spalt. Zwischen den Welten stehend, wandte sie sich um und streckte die Hand aus.
Sprachlos und verwundert, ergriff Titania ihre Hand und trat ins Elfenreich hinüber. Cordelia hatte den Arm um Sanchas Schultern gelegt, und beide überwanden gleichzeitig die glitzernde Schwelle zwischen den Welten.
Auch Zara folgte ihren Schwestern. Im Vorbeigehen streichelte sie zärtlich Tanias Wange. »Meine wundervolle kleine Schwester!«
In diesem Moment krachte splitternd ein Fuß durch die Tür.
»Edric, schnell!«, rief Tania.
Er sprang auf sie zu. Die Tür zerbarst vollends und die Ritter stürzten mit erhobenen Waffen herein. Ein Schwert sauste in hohem Bogen direkt auf Tanias Kopf zu.
Sie wich dem Streich aus, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel rücklings auf den nackten Holzfußboden des Turmzimmers.
Das Portal konnte nur bestehen, solange Tania selbst als Brücke zwischen den beiden Welten fungierte. In dem Augenblick, da sie mit beiden Beinen im Elfenreich war, begann sich der Spalt zu schließen.
»Nein!«, schrie sie.
Die strahlende weiße Öffnung schrumpfte mit ungeheurer Geschwindigkeit, doch im allerletzten Moment hechtete Edric durch den verbliebenen Spalt hinüber zu Tania.
Die Spitze eines Kristallschwerts blitzte auf, doch es blieb in der Öffnung stecken, die schließlich bis zu einem winzigen Punkt schrumpfte und ganz verschwand. Die halbierte Klinge hing für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft. Dann stürzte sie zu Boden und zerfiel zu weißem Staub.
Tania stolperte auf Edric zu, der schwer atmend am Boden lag. Er wirkte benommen.
»Alles in Ordnung?«
Er blinzelte und lächelte. »Mir geht es gut. Glaube ich.«
Sie halfen sich gegenseitig auf und fielen einander in die Arme, während Titania und die drei Prinzessinnen sich freudig um sie scharten.
Draußen ging gerade die Sonne über dem Elfenreich auf. Vögel zwitscherten im Espenhain. Warme Luft wehte aus dem nördlichen Hügelland herüber. Nach fünfhundert Jahren war Titania, die Elfenkönigin, endlich nach Hause zurückgekehrt.