XIX
Der Sommernachmittag war in einen warmen, schattigen Abend übergegangen. Der wolkenlose Himmel erschien graublau marmoriert und glänzte wie Wasser, in dem sich ein Schild aus aufgerautem Stahl spiegelt. Tania, Edric und die Prinzessinnen standen im Schatten einer lang gezogenen Ziegelmauer und blickten auf einen Gebäudekomplex aus vierstöckigen Häusern jenseits der Straße. Die Gebäude standen etwas zurückgesetzt und waren von hohen Pappeln und Liguster-, Fuchsien- und Eibenhecken umrahmt. Die Häuser waren aus warmem braunem Backstein, hatten Balkons, Erker und große Fenster mit weißen Rahmen.
Auf der Straße herrschte dichter Verkehr. Eine niedrige Backsteinmauer begrenzte die Baumreihen. Zwischen den Büschen ragte ein Schild hervor, auf dem stand:
Dover Court
Park Lane
Hampton Wick
Kingston-Upon-Thames
Wenn Sancha Recht hatte, gehörte Lilith Mariner die Eigentumswohnung Nummer sieben in diesem Haus.
Sie befanden sich in der Nähe des Hampton Court Palace, der sich allerdings in keiner Weise mit dem Königspalast im Elfenreich messen konnte. Um die Grauen Ritter abzuschütteln, hatten sie eine wahre Odyssee auf sich genommen: Nachdem sie glücklich den U-Bahnhof erreicht hatten, waren sie mit dem erstbesten Zug nach Norden gefahren und dabei unterwegs drei- oder viermal umgestiegen. Sie hatten von der District Line zur Piccadilly Line und von dort zur Northern Line gewechselt, dann waren sie in die entgegengesetzte Richtung gefahren, zum Südufer der Themse in Richtung Waterloo. Dort hatten sie schließlich eine S-Bahn nach Hampton Wick genommen und waren nur fünf Minuten von hier entfernt ausgestiegen.
»Fürwahr, ein großes Anwesen«, sagte Sancha. »Es ist eine würdige Residenz für eine Elfenkönigin.«
»Ihr gehört aber nicht alles«, erklärte Tania, »sondern nur ein Apartment.«
Sancha warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Ein Apartment?«
»Lilith Mariner bewohnt vermutlich nur ein paar Räume in einem Teil des Gebäudekomplexes«, erklärte Edric. »Der Rest gehört anderen Leuten.«
»Leben dort ihre Diener, Kammerfrauen und Höflinge?«
»Nein, niemand hier hat heutzutage noch Bedienstete«, sagte Tania. »Zumindest glaube ich das. Lasst uns rübergehen und nachsehen, ob sie schon wieder zu Hause ist.«
»Und wenn nicht?«, wollte Zara wissen.
»Dann hinterlassen wir ihr eine Nachricht«, sagte Edric.
»Und vertrauen darauf, dass ihre Antwort uns schneller erreicht als die Rösser von Lyonesse«, ergänzte Sancha leise. Sie wandte sich an Cordelia, die etwas abseits stand und die schwarzen Eisenstangen eines Tors umklammert hielt, das in die Wand hinter ihnen eingelassen war. »Cordelia? Komm, wir brechen auf!«
Sie riss sich widerstrebend los und Tania bemerkte glitzernde Tränenspuren auf ihren sommersprossigen Wangen.
»Cordie? Was ist los?« Tania spähte durch das filigran gearbeitete, dekorativ gezwirbelte Eisentor und erblickte eine große, von Wegen durchzogene Rasenfläche, auf der vereinzelt schlanke Bäume standen. »Das ist Bushy Park«, sagte Tania. »Warum weinst du?«
Cordelia wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Erkennt ihr denn gar nicht, wo wir sind? Im Elfenreich stand auf eben diesem Grund und Boden die Menagerie. Hier kümmerte ich mich um die Hunde und umsorgte die Tiere, die sich in meine Obhut begaben: Otter, Schwäne, Rehe, Einhörner und Raben. Ich pflegte alle heimatlosen Geschöpfe des Elfenreichs.« Sie wandte das Gesicht ab. »Ich ertrage es nicht«, sagte sie leise. »Schmutz und Lärm beherrschen die Welt der Sterblichen und lassen kaum eine Erinnerung an das Elfenreich aufkommen. Hier jedoch, wo ein kleines Stückchen Natur, eingepfercht zwischen Beton und Eisen, überleben darf, da schimmert mein Zuhause durch. Und das versetzt mir einen Stich ins Herz.«
Zara warf einen Blick zu Dover Court hinüber. »Seltsam, dass unsere Mutter genau diesen Ort als Zuhause erwählt hat«, meinte sie nachdenklich. »So nahe der Heimat und doch so weit entfernt.«
Sie überquerten die Straße und gingen durch eine Lücke in dem niedrigen Mäuerchen, das Dover Court umgab. Hier führten Stufen in einen schönen Garten hinab, der von Sträuchern und blühenden Pflanzen gesäumt war und in dem Holzbänke und ein Steinbrunnen standen. Die dichte Bepflanzung dämpfte den Verkehrslärm.
Sie wanderten durch den Garten und kamen zum Haupteingang des Komplexes. Die Tür war weiß mit mattierten Glasscheiben.
Edric drückte dagegen. »Verschlossen«, sagte er.
Tania stand seitlich vom Eingang und ließ ihren Zeigefinger über eine Reihe Klingelschilder auf der Messingplatte einer Gegensprechanlage wandern.
Nummer 7. L. Mariner
Sie drückte auf den Klingelknopf.
Ein elektronisches Summen drang aus dem vergitterten Schlitz über der Gegensprechanlage.
»Ja, bitte?«, ertönte eine raue Stimme. Es war eine Frau, aber mehr konnte man nicht erkennen.
»Ms Mariner?«
»Ja.«
Tanias Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Ich bin’s, Tania…«, krächzte sie. Sie ging näher an das Mikrofon heran. »Hier ist Tania.«
Keine Antwort.
Sie schaute die anderen an. »Ich bin mir nicht sicher…«
Plötzlich summte der Türöffner und Edric drückte die Tür auf. Er ging voran, gefolgt von Cordelia, Zara und Sancha. Tania bildete das Schlusslicht, sie konnte immer noch nicht fassen, dass all dies wirklich geschah. Hinter ihr fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss.
Sie standen in einer strahlend weißen Eingangshalle, von der rechts und links zahlreiche Gänge abzweigten. Auf der einen Seite war eine Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte. In der Halle war ein Schild angebracht, auf dem sich ein Lageplan des Gebäudes befand. Die Wohnung Nummer sieben lag im vierten Stock.
Direkt vor ihnen befand sich ein Lift. Als Edric auf den Knopf drückte, leuchtete über dem Aufzug ein weißes Dreieck auf. Wenig später öffnete sich die Metalltür und alle fünf traten nacheinander ein.
Tania drückte auf die Vier und die Tür schloss sich. Sie mied die Blicke der anderen. Alle waren schweigsam und schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. So als hätten sie Angst davor, ihre Hoffnung laut auszusprechen und dadurch alles zu verderben.
Der Aufzug hielt an. Die Spannung war unerträglich. Die Tür glitt auf.
Eine Frau stand dem Lift gegenüber. Sie war barfuß, trug eine limonengrüne Bluse und einen knielangen grünen Kostümrock. Das gelockte rote Haar war hochgesteckt. Sie hatte die Hände wie zum Gebet erhoben, dadurch war ein Teil ihres Gesichts verborgen. Dennoch sah man über ihren langen, eleganten Fingern fein geformte Wangenknochen und große grüne Augen. Ihr Blick war erwartungsvoll und skeptisch zugleich. Als könne sie ihren Augen nicht trauen und fürchtete sich vor dem, was sie gleich erblicken würde.
Einen Augenblick lang war es totenstill und Tania hörte das Blut in ihren Schläfen pochen. Dann trat Edric vor und fiel mit gesenktem Kopf vor der Frau auf die Knie.
»Eure Königliche Majestät.«
Seine Worte brachen das gebannte Schweigen.
»Meine Töchter!«, stieß die Frau hervor und breitete die Arme aus. In ihrem Gesicht spiegelte sich unbändige Freude wieder. »Meine geliebten Töchter!«
Zara, Sancha und Cordelia stürzten sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter.
Tania zögerte. Sie starrte die Elfenkönigin verwirrt und unsicher an. Sie war darauf vorbereitet gewesen, dass Titania ihr sehr ähnlich sah. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Sie war jedoch tief ergriffen, weil sie endlich der Frau gegenüberstand, die im Elfenreich ihre Mutter war. Dem Menschen zu begegnen, der den Elfenanteil ihres Wesens geboren hatte, so wie Mary Palmer ihre sterbliche Hälfte zur Welt gebracht hatte, rührte ihr Herz.
Freudentränen liefen Titania übers Gesicht, als sie ihre Töchter umarmte und küsste. Plötzlich merkte Tania, dass sie selbst weinte und einen Kloß im Hals hatte. Ihre Brust schmerzte und in ihrem Herzen schien ein Vogel zu flattern.
Titania blickte aus der Umarmung auf und sah Tania an. In ihrem Gesicht lagen Ergebenheit, Erleichterung und unendliche Freude. Mit einem Mal fielen alle Zweifel und alle Furcht von Tania ab. Ehe sie sich’s versah, stolperte sie ihrer Mutter entgegen.
»Tania! Mein geliebtes Kind!«
Sie umarmte ihre Mutter, drückte ihr Gesicht an den warmen Hals, atmete den Elfengeruch ein.
»Warum hat es so lange gedauert?«, schluchzte die Prinzessin. »So viele Jahre?«
»Ah, das weiß ich nicht, mein geliebtes Mädchen«, sagte Titania leise, küsste Tania auf die Wange und strich ihr zärtlich übers Haar. »Es war für uns beide eine sehr lange Reise. Aber jetzt ist sie ja vorbei. Endgültig.«
»Oh Mutter«, schluchzte Sancha. »Dieser schöne Augenblick kann nicht ungetrübt bleiben, denn wir bringen schreckliche Kunde!«
Titanias Gesicht war sorgenvoll. »Ich habe gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist«, erklärte sie. »Vor drei Tagen überkam mich ein Gefühl, als ob etwas Böses erwachen würde, doch ich konnte es nicht näher bestimmen.« Sie sah Edric an, der sich erhoben hatte und schweigend abseits stand.
»Seid gegrüßt, Master Chanticleer«, sagte sie. »Habe ich es der Kunst und der Wohltätigkeit Eures Herrn zu verdanken, dass ich nun mit vieren meiner Kinder wiedervereint bin?«
Edric blickte zu ihr auf. »Ich stehe nicht länger in den Diensten von Lord Drake, Euer Gnaden.«
Titanias Augen wurden schmal. »Ich verstehe«, erwiderte sie. »Kommt herein, denn hinter geschlossenen Türen können wir freier sprechen. Es gibt sicher vieles, das ich wissen sollte.«
Das Wohnzimmer von Lilith Mariner war geräumig und makellos, wirkte dabei aber seltsam unpersönlich: weiße Wände, ein Parkettboden aus Edelholz. Die Möbel waren elegant und doch zweckmäßig. Es fehlte jeglicher Schmuck oder Tand, an den Wänden hing kein einziges Bild. Es gab keine Gegenstände, die Rückschlüsse auf den Charakter der Frau zuließen, die hier lebte.
Titania saß auf der Couch, Sancha und Cordelia nahmen neben ihr Platz und Zara kniete zu ihren Füßen. Tania saß ganz am Rand und hielt die Hand ihrer Mutter. Ihnen gegenüber hockte Edric auf der Kante eines Sessels.
Tania konnte es kaum ertragen, Titania anzusehen, während die Prinzessinnen der Mutter berichteten, was in den letzten Wochen geschehen war.
Als sie von Rathinas Verrat hörte, schloss Titania bekümmert die Augen. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. »Das arme Kind«, flüsterte sie. »Das arme, verwirrte Kind.«
»Hab kein Mitgefühl mit ihr, Mutter!«, rief Cordelia. »Sie hat uns aus freien Stücken verraten. Ich werde ihr niemals vergeben, niemals.«
»Ach, Cordelia«, sagte Titania traurig. »Rathina ist meine Tochter. Ich liebe sie noch immer, auch wenn ich furchtbar finde, was sie getan hat.«
»Es mag sein, dass Mütter ihre Kinder immer lieben, auch wenn diese zu Dämonen werden«, warf Sancha ein. »Aber Rathinas Taten haben großes Unheil über uns alle gebracht. Beide Welten sind nun in großer Gefahr. Der große Verräter Drake hat die Grauen Ritter in die Welt der Sterblichen geschickt, um uns zu töten.«
Titania sah Edric an. »Die Machtgier hat euren früheren Herrn wohl überwältigt«, sagte sie. »Ich freue mich, dass Ihr Euch von ihm losgesagt habt.«
»Ja, Euer Gnaden«, erwiderte Edric. »Ich tat es für Prinzessin Tania.«
»Und um der Liebe willen, die zwischen Euch gewachsen ist«, fügte Titania hinzu. Sie drückte Tanias Hand. »Darüber könnt ihr mir später mehr erzählen, aber zuerst müssen wir entscheiden, was wir als Nächstes unternehmen wollen.«
»Kannst du uns zurück ins Elfenreich bringen?«, fragte Zara. »Wir haben so gehofft, dass du weißt, wie man die eiserne Hülle durchbricht, die Lyonesse zwischen die Welten gelegt hat.«
Titania schüttelte den Kopf. »Über solcherlei Fähigkeiten verfüge ich leider nicht«, erwiderte sie. »Ich kann Tania nicht helfen. Sie allein muss herausfinden, wie sie mit ihrer Gabe den Zauber des Hexenkönigs brechen kann.«
Tania spürte alle Hoffnung schwinden, während Titania ihre Töchter sanft beiseiteschob und aufstand. Die Königin trat zum Fenster und blickte in die hereinbrechende Nacht hinaus.
»Ich wollte hier wohnen, weil ich aus diesem Fenster den Palast von Hampton Court sehen kann«, sagte sie und zeigte in dessen Richtung. »Selbst jenseits des Bushy Park kann man die Türme und Dächer erkennen.« Sie seufzte. »Ich fürchtete, dass ich nach fünfhundert Jahren in der Welt der Sterblichen anfangen würde, mein wahres Zuhause zu vergessen… und vielleicht auch, wer ich wirklich bin.«
»Hättest du nicht in einen Wasserspiegel blicken können, um alles aus der Ferne zu beobachten?«, fragte Sancha. »Hast du deine Gabe verloren?«
Tania fiel ein, dass Sancha einmal erwähnt hatte, Titania könne weit entfernte Dinge sehen, indem sie in klares, ruhiges Wasser blickte.
Titania lächelte traurig. »In dieser Welt ist das Wasser nicht sauber genug, als dass ich ein Bild darin erkennen könnte«, entgegnete sie.
»Das glaube ich sofort«, meinte Cordelia. »Wie hast du es nur so lange an diesem furchtbaren Ort ausgehalten, Mutter? Wir weilen erst seit ein paar Stunden hier und sind doch schon von Schrecken und Abscheu erfüllt.«
»Was ist mit Isenmort?«, erkundigte sich Zara. »Wir tragen immer einen schwarzen Bernstein bei uns. Wie hast du dich vor dem tödlichen Metall geschützt?«
Titania öffnete den Kragen ihrer Bluse und zog eine Kette heraus, an deren Ende ein Anhänger baumelte. Sie hielt ihn hoch, sodass alle ihn sehen konnten. Es war ein Ring aus weißem, funkelnden Kristall, in den ein schwarzer Bernstein eingesetzt war.
»Euer Vater hat mir diesen Ring in der Hochzeitsnacht geschenkt, als Zeichen seiner unvergänglichen Liebe«, erzählte sie. »Erinnert ihr euch nicht an ihn?«
»Doch, natürlich«, meinte Sancha. »Der Ring der Treue aus Tasha-Dhul.«
»Der Bernsteinring hat mich vor Isenmort geschützt«, erzählte Titania. »Meine Heilkunst und mein Wissen über Kräuter haben mich vor den schlimmsten Krankheiten bewahrt. Ich hatte glücklicherweise nie eine lebensgefährliche Verletzung.« Sie blickte gedankenverloren in die Ferne. »Im Jahr 1665 jedoch schwebte ich in größter Gefahr, denn der Schwarze Tod suchte London heim. Damals wurde etwa ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft, aber ich konnte ja nicht einfach davonlaufen und mich verstecken. Ich hatte genug medizinisches Wissen, um einigen Menschen zu helfen. Und ich selbst wurde von der Pest verschont.«
»Wie konntest du all die Jahre deine wahre Identität verbergen?«, fragte Sancha.
»Das war nicht leicht«, entgegnete Titania. »Jeweils nach ein paar Jahren begannen die Menschen in meinem Umfeld sich zu wundern, dass ich nicht zu altern schien. Mit der Zeit wurden sie argwöhnisch und ich musste verschwinden. Dann tauchte ich in einem anderen Teil Londons unter einem neuen Namen auf und arbeitete in einer anderen Branche. Früher war es hart, immer wieder neu anfangen zu müssen, ein Leben aufzubauen und dann weiterzuziehen. Ich fühlte mich, als wäre ich immer auf Reisen.« Sie lächelte. »Aber heutzutage ist es leichter. Ich bin jetzt seit beinahe dreißig Jahren Lilith Mariner und ich werde lediglich nach dem Namen meines Schönheitschirurgen gefragt.«
»Aber warum lebst du ausgerechnet an diesem furchtbaren Ort?«, wollte Cordelia wissen. »Wenn ich in dieser Welt feststecken würde, würde ich mir ein Fleckchen Wildnis suchen, weit weg vom Getöse der Sterblichen.«
Titania kehrte vom Fenster zurück. »Ich wollte in der Nähe deiner Schwester sein«, antwortete sie und ergriff wieder Tanias Hand. »Es dauerte ewig, sie aufzuspüren. Zwei Jahre lang habe ich die ganze Stadt durchkämmt, um sie zu finden. Eines Tages schließlich habe ich sie gefunden. Tania war im Körper eines kranken Kindes gefangen, doch ich konnte ihre Elfenseele spüren. Ich war so froh, sie wieder in meiner Nähe zu wissen!«
Tania starrte sie an. »Hieß das Mädchen Ann Burbage?«
Sie dachte an ihr Déjà-vu im Globe Theater, als sie sich plötzlich in der elisabethanischen Zeit wiedergefunden hatte. Vor fünfhundert Jahren war sie »Ann« gerufen worden und ihr Vater war Richard Burbage gewesen. War sie das kranke Kind gewesen, das Titania meinte?
»Woher weißt du das?«, fragte Titania stirnrunzelnd. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich an deine früheren Leben erinnern kannst.«
»Das kann ich auch nicht«, erklärte Tania. »Seit einiger Zeit habe ich immer mal wieder ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich war Ann Burbage, ein kleines Mädchen namens Gracie und auch Flora Llewellyn, deren Vater Ernest ein viktorianischer Erfinder war.«
Titania nickte. »Ja, an all diese Kinder kann ich mich erinnern«, sagte sie. »Und ich weiß auch, wer du warst, direkt bevor du Anita Palmer wurdest. Dein Name war Barbara und du wurdest vor siebenundzwanzig Jahren in Dulwich geboren.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber mit elf bist du auf dem Heimweg von der Schule von einem Auto überfahren worden.« Trauer schwang in ihrer Stimme mit. »Ich habe davon in der Lokalzeitung gelesen. Es hat achtzehn Monate gedauert, ehe ich dich wiedergefunden habe. Diesmal als Baby namens Anita Palmer. Im Elfenreich zeigen sich die Gaben der Prinzen und Prinzessinnen im sechzehnten Lebensjahr. Ich war mir sicher, dass deine Elfenseele im gleichen Alter erwachen würde. Nur hattest du bisher noch nie sechzehn Jahre in einem sterblichen Körper überlebt, du bist immer als Kind gestorben.«
»Und deshalb hat Eure Majestät Tania das Seelenbuch geschickt«, meinte Edric.
»So ist es«, sagte Titania. »Ich wurde immer aufgeregter, je näher Anitas sechzehnter Geburtstag rückte. Allerdings war ich beruflich so eingespannt, dass ich wenig Zeit hatte, sie zu beobachten.« Sie bedachte Edric mit einem eigenartigen Blick. »Sonst wäre mir nicht entgangen, dass Lord Drakes Diener als Sterblicher verkleidet in London aufgetaucht ist.« Sie wandte sich an Tania. »Das Buch sollte genau an deinem Geburtstag ankommen und ich hatte vor, mit dir zu sprechen, nachdem du es gelesen hattest.«
»Und das hast du auch versucht«, erinnerte sich Tania. »Aber da war ich schon weg.«
»Als ich erfuhr, dass du spurlos verschwunden warst, befürchtete ich das Schlimmste.« Sie erschauderte und drückte Tanias Hand. »Ich dachte, ich hätte dich schon wieder verloren. Außerdem war nun auch noch dein Seelenbuch weg, der einzige Gegenstand, der uns verband.« Sie seufzte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf diesen Augenblick gefreut habe, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, euch wiederzusehen.«
»Wir haben dich auch schmerzlich vermisst, Mutter«, sagte Sancha leise.
»Ich hoffe, dass auch Hopie und Eden wohlauf sind«, sagte Titania. Sie schloss ihre Töchter in die Arme. »Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen wiedergesehen, und es tut mir sehr leid, dass ich euch im Kampf gegen den König von Lyonesse nicht helfen kann. Ich weiß weder, wie man die Grauen Ritter besiegt, noch, wie man zurück ins Elfenreich gelangt.«
Zara riss erschrocken die Augen auf. »Dann sind wir also für immer und ewig hier gefangen?«
»Nicht für immer und ewig, fürchte ich«, meinte Sancha. »Nur so lange, wie wir den Grauen Rittern entkommen!«
»Es bringt nichts wegzulaufen«, erklärte Edric. »Wir müssen uns ihnen entgegenstellen und sie besiegen.«
»Und wir müssen unbedingt zurück ins Elfenreich«, sagte Tania. »Ich könnte es noch mal versuchen. Vielleicht klappt es ja jetzt, da wir alle wieder vereint sind.«
»Das glaube ich nicht«, wandte Sancha ein. »Das Elfenreich liegt hinter einer dicken Schicht aus Isenmort und der Zauber des Hexenmeisters ist nicht so einfach zu überwinden.«
»Schwarzer Bernstein beschützt uns vor Isenmort«, sagte Zara. »Könnte man nicht eine Waffe aus Bernstein schmieden? Auf deiner Krone sind noch elf der schwarzen Halbedelsteine, Mutter. Könnte man den Zauber mit ihrer Hilfe brechen?«
»Eine Klinge aus Bernstein könnte tatsächlich scharf genug sein, um eine Öffnung in die Hülle aus Isenmort zu schneiden«, stimmte Sancha zu.
»Bernstein schmilzt tatsächlich, wenn man ihn vorsichtig erhitzt«, bemerkte Titania. »Aber selbst wenn man daraus eine Waffe schmieden könnte, wäre sie nicht groß genug, um einen Zugang ins Elfenreich zu schneiden.«
»Euer Gnaden, was wäre, wenn wir den Bernstein schmelzen und dann ein Kristallschwert damit überziehen?«, fragte Edric. »Die Prinzessinnen haben vier Schwerter mit in diese Welt gebracht. Eins davon könnten wir benutzen!«
»Möglicherweise könnte ein Kristallschwert, das man mit einer Schicht aus schwarzem Bernstein umhüllt, mächtig genug sein«, entgegnete Titania und sah Tania nachdenklich an. »Wenn es sich in der Hand der richtigen Person befindet. Aber um Bernstein zu schmelzen, bedarf es großer Hitze. Dafür brauchen wir einen Schmelzofen oder dergleichen.«
»Wie wäre es mit einem Schweißbrenner?«, fragte Tania.
»Das müsste eigentlich gehen«, meinte Titania.
»Wovon sprecht ihr?«, wollte Sancha wissen.
»Es handelt sich um einen Apparat, der eine sehr heiße Flamme erzeugt«, erklärte Tania. Sie wandte sich an Edric. »Jades Vater ist doch ein Bastler!«
Er runzelte die Stirn. »Du meinst, weil er ab und zu an alten Motorrädern herumschraubt?«
Tania nickte. »Der Keller von Jades Familie ist voll von ausrangierten Ersatzteilen. Ihr Vater nimmt alte Motorräder auseinander und baut sie neu zusammen, und dazu braucht er den Schweißbrenner.«
»Aber weißt du auch, wie man ihn benutzt?«, fragte Titania.
»Nein, aber Jades Vater gehört zu den Menschen, die alle Gebrauchsanweisungen aufheben«, entgegnete Tania. »Da können wir nachsehen.«
»Dazu müssen wir also in das Haus deiner Freundin zurück?«, wollte Cordelia wissen. »Ist das nicht zu gefährlich?«
»Überall lauern Gefahren, ganz egal was wir tun«, meinte Zara. »Untätigkeit rettet uns auch nicht. Wir sollten einen Kampf anzetteln, der jedem überlebenden Grauen Ritter noch lange in Erinnerung bleiben wird.«
»Beten wir, dass es nicht dazu kommt«, sagte Sancha. »Vielleicht sollten nur ein oder zwei von uns zurückgehen und die anderen hierbleiben?«
»Nein«, sagte Titania. »Wir bleiben zusammen, was immer auch geschieht. Wir nehmen mein Auto, das steht in der Tiefgarage. Du sagst mir, wie ich fahren muss, Tania.«
»Ja, in Ordnung, das kriege ich hin«, antwortete die jüngste Prinzessin.
»Ehe wir aufbrechen, lasst mich mehr über die Lage in Erfahrung bringen«, sagte Cordelia. Sie ging ans Fenster und öffnete es weit. Ein leichter Wind kam herein. Edric trat neben sie.
»Kannst du den Gestank der Grauen Ritter riechen?«, fragte Zara.
Cordelia atmete tief ein. »Nein«, antwortete sie. »Noch sind sie fern.« Sie beugte sich aus dem Fenster und stieß mehrere Pfiffe aus.
Tania trat ebenfalls zum offenen Fenster und spähte in die Nacht hinaus.
Geflatter war zu hören, das immer lauter wurde und sich zu nähern schien. Schon bald bemerkte Tania Schatten, die durch die Dunkelheit auf das Fenster zukamen.
Es waren Vögel. Hunderte von Vögeln, die auf Cordelias Ruf aus jeder Himmelsrichtung herbeischwärmten. Mauersegler, Schwalben, Meisen, Sperlinge und Krähen flogen herbei und umflatterten das geöffnete Fenster. Eine Schar Tauben zog lärmend über die Dächer dahin. Immer mehr Vögel drängten sich auf dem Fenstersims. Stare, Amseln, Eichelhäher und Elstern sausten durch die Luft. Eine Eule schwebte herbei und landete schwerfällig auf dem Fensterbrett. Als sie ihre großen braunen Flügel zusammenfaltete, schubste sie einige der früher angekommenen Vögel vom Sims.
Tania blickte in die unheimlichen, leuchtenden Augen der Eule, die ihren runden Kopf drehte und behäbig an ihren Federn zupfte.
»Meine Freunde«, rief Cordelia aus, »das Böse ist entfesselt und läuft hier frei herum. Zwölf graue Ungeheuer auf zwölf untoten Rössern. Habt ihr diese Wesen gesehen oder wisst ihr irgendetwas über sie?«
Mit einem Mal war die Luft von Vogelstimmen erfüllt, sie zwitscherten, tschilpten, pfiffen, trällerten und krächzten. Die Eule schuhute mehrmals.
Für Tania war es ein einziges Durcheinander, aber Cordelia lauschte gebannt.
»Vielen Dank, meine Freunde«, sagte sie schließlich, als die Vogelgeräusche langsam abebbten. »Passt gut auf euch auf. Solltet ihr zufällig auf diese Wesen stoßen, so flieht. Jetzt geht, und möge der Segen aller guten Kräfte auf euch ruhen.«
Die Eule schloss die Augen, drehte sich schwerfällig um ihre eigene Achse und hob ab. Zunächst schien sie wie ein Stein zu Boden zu plumpsen, dann jedoch breitete sie ihre Schwingen aus, stieg elegant in den Himmel auf, streifte die Baumwipfel und verschwand in der Nacht. Auch die anderen Vögel zerstreuten sich wieder in alle Winde. Die Luft war erfüllt von ihrem Flattern und Schnattern, als sie davonsausten. Bald zeichneten sich nur noch einige dunkle Umrisse vor dem dunklen Himmel ab, bis sie schließlich gar nicht mehr zu sehen waren.
Cordelia schloss das Fenster. »Viele von ihnen haben die Wesen gerochen, und einige haben auch graue Umrisse wahrgenommen, die Nebelschleiern ähnelten. Aber hier in der Nähe halten sich keine Grauen Ritter auf.«
»Dann schlage ich vor, dass wir uns ein paar Stunden ausruhen«, sagte Titania, »ehe wir zum Haus der Andersons aufbrechen. Möglicherweise sind die Grauen Ritter nicht so wachsam, wenn die Nacht am dunkelsten ist.«
»Hoffentlich begegnen wir auf dem Weg dorthin keinem von ihnen«, sagte Tania, die ihre Faust schloss, als griffe sie nach einer Waffe. »Beim nächsten Zusammentreffen möchte ich ein Schwert in der Hand haben!«