XX

Titania parkte ihren blauen BMW ungefähr fünfzig Meter vom Haus der Andersons entfernt.

»Das ist ja recht glattgegangen«, meinte sie.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Die Straße, in der die Andersons wohnten, schien menschenleer, nur der orangefarbene Schein der Laternen erhellte die Dunkelheit.

»Wartet hier, bis ich euch ein Zeichen gebe«, befahl Tania und spähte durch die Windschutzscheibe nach draußen. »Wenn ich winke, dann kommt einer nach dem anderen zu mir. Wenn ihr irgendetwas Verdächtiges hört oder eine Bewegung wahrnehmt, geht ihr einfach am Haus vorbei. Verstanden?«

Sie stieg aus dem Wagen und lief allein los. Aus den benachbarten Häusern drang kein Licht. Die Straße schien verlassen. Am Gartentor von Jades Haus drehte sich Tania um und bedeutete dem Nächsten, ihr zu folgen. Danach schlüpfte sie durch das Tor und sprintete zur Haustür.

Unter dem Vordach verborgen, beobachtete Tania, wie Sancha auftauchte. Da erklangen schnelle, laute Schritte. Das war nicht Sancha. Jemand anderes kam den Bürgersteig entlang. Wie verabredet drehte Sancha ab und passierte das Gartentor. Wenige Augenblicke später lief ein junger Mann vorbei, der einen iPod im Ohr hatte. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben. Fünfzehn Sekunden später tauchte Sancha wieder auf, diesmal kam sie ungesehen durch das Tor und rannte auf Tania zu.

Allmählich trafen alle nacheinander am Haus ein.

»Macht kein Licht!«, mahnte Tania sie. Sie wandte sich an Titania und war sich dabei auf einmal unsicher, wie sie sie nennen sollte. »Titania« klang seltsam, »Ihre Majestät« war zu formell, vielleicht war »Mutter« richtig? Nein, dazu war es noch zu früh. »Die anderen zeigen dir, wo die Küche ist«, sagte sie und vermied die Anrede. »Vielleicht könntest du uns etwas zu trinken machen? Ich gehe inzwischen mit Edric in den Keller hinunter. Es wird nicht lange dauern.«

Zumindest in dem fensterlosen Kellerraum konnten sie ohne Bedenken das Licht anknipsen. Der Keller quoll über vor Haushaltsgerümpel und kaputtem Plunder, aber in einer Ecke hatte MrAnderson seine Werkstatt. Dort standen drei Motorräder. Um sie herum lagen Ersatzteile verstreut: Räder, Deichseln, Teile von Motoren, Schutzbleche und Lenkstangen. Eine verriegelte Tür am anderen Ende des Kellers führte zu einer Betonrampe, auf der Jades Vater seine Motorräder in den Keller hinein- und wieder hinausschob.

Der Schweißbrenner lag auf einer Werkbank. Zubehör, Gebrauchsanweisung sowie das Sicherheitshandbuch fanden sie schließlich in einer Schublade. Edric begann, sich alles durchzulesen, während Tania nach oben ging, um nach Titania und den Prinzessinnen zu sehen.

Tania saß mit angezogenen Knien und gekreuzten Füßen auf dem Wohnzimmerteppich. Sie hatte ihre Arme um die Schienbeine geschlungen, das Kinn auf die Knie gestützt und lauschte den munteren Erzählungen ihrer Elfenfamilie. Sie sprachen über vergangene Zeiten im Elfenreich.

»Erinnert ihr euch noch an den Morgen von Cordelias sechzehntem Geburtstag?«, fragte Sancha. »Wie sie nur im Nachthemd zum Frühstück kam und uns aufgeregt erzählte, ein Hänfling sei in ihr Zimmer geflogen und habe ihr zum Geburtstag gratuliert!«

Zara klatschte vergnügt in die Hände.

»Genau!«, rief sie aus. »Und sie ließ sich durch nichts dazu bewegen, sich erst mal anzuziehen. Sie wollte unbedingt sofort in den Garten hinaus und mit allen Tieren sprechen.«

Bei der Erinnerung daran musste Cordelia schmunzeln. »Dabei habe ich damals nur ein paar Brocken ihrer Sprachen verstanden«, sagte sie. »Sie müssen mich für eine Närrin gehalten haben!«

»Haben denn alle Tiere ihre eigene Sprache?«, erkundigte sich Tania.

Cordelia nickte. »Einige verfügen nur über wenige Worte, andere sprechen hingegen eine Sprache, welche die unsere an Reichtum und Vielfalt weit übertrifft.«

»Und du beherrschst all diese Sprachen?«

Cordelia lachte. »Nein, nein«, wehrte sie ab. »Das würde ein zehntausendjähriges Studium erfordern. Aber ich kann viele Tiere des Elfenreichs verstehen, ihnen zumindest einen guten Tag wünschen und mich nach ihrem Befinden erkundigen. Das reicht aus. Ich möchte sie ja nicht zähmen. Sie müssen sie selbst bleiben… wild. Manche Tiere wollen auch gar nicht mit uns Elfen sprechen.«

Tania versank in Schweigen. Sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Sie hatte gehofft, Titania würde ihr helfen, ihre Elfenseele aufzuspüren. Irgendwie hatte sie gedacht, dass die Erinnerungen an ihr früheres Leben beim Anblick der Königin zurückkehren würden. Doch das war nicht geschehen.

Zaras helles Lachen riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Die Frauen sprachen gerade über ein Picknick am See, nördlich vom Palast. An eben diesem See hatte Oberon ein Mausoleum für Titania gebaut. Zara war damals noch ein Kleinkind gewesen. Sie hatte anscheinend versucht, auf einem Schwan zu reiten, aber der Vogel war davongeschwommen, und sie hatte bitterlich geweint.

»Und obgleich Eden gerade erst begonnen hatte, die Mystischen Künste zu erlernen«, fuhr Zara fort, »gelang es ihr, aus Schilf ein Boot zu formen, dass die Gestalt eines Schwans hatte. In meinem Schwanenschiff paddelte ich bis lange nach Einbruch der Nacht auf dem See umher.«

»Wir haben dich gerufen, aber du bist einfach nicht ans Ufer zurückgekommen«, sagte Titania. »Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern.« Ihr Blick blieb an Tania hängen und umwölkte sich. »Stimmt etwas nicht, Tania?«

Ja! Warum kann ich mich an nichts von alledem erinnern?

Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ich sehe mal nach, ob Edric Hilfe braucht«, antwortete sie dann und erhob sich.

Als sie die Kellertür öffnete, schlug ihr ein beißender Geruch entgegen, begleitet von einem Schwall heißer Luft. Das Zischen des Schweißbrenners war nicht zu überhören.

Vorsichtig stieg Tania die Treppe hinunter. Das Zischen wurde lauter und steigerte sich zu einem durchdringenden Tosen.

Edric kauerte auf dem Betonboden. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass er eine Schutzbrille trug. Seine Gestalt lag im Dunkeln, der Schweißbrenner erzeugte jedoch eine Strahlenkrone aus intensivem blauweißen Licht um Edrics Kopf, die seine Haare wie Fäden aus gesponnenem Silber leuchten ließ. In einiger Entfernung stand ein Metallzylinder, aus dem Röhrchen herausragten. Graue Rauchwolken stiegen auf und kräuselten sich der Decke entgegen.

Das Kristallschwert und die schwarzen Bernsteine lagen neben ihm. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um ihn zu stören. Also schlich Tania leise zurück und trat in den dunklen Flur. Aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen von Titania und den Prinzessinnen zu ihr.

Plötzlich überfiel sie das starke Verlangen, ihre Eltern anzurufen. Sie wollte gern ihre vertrauten Stimmen hören und über völlig normale Dinge sprechen.

Mum? Erinnerst du dich noch, als

Ja, natürlich, mein Schatz.

Ich auch! Ist das nicht toll? Ich kann mich auch noch daran erinnern!

Doch leider war das nicht möglich, denn sie kannte die Telefonnummer des Ferienhäuschens in Cornwall nicht und sie konnte ihre Eltern auch nicht über deren Handys erreichen. Sie hatte die Nummern auf ihrem eigenen Mobiltelefon gespeichert und das hatte sie bei dem chaotischen Aufbruch vergangene Nacht zu Hause liegen lassen.

Sie lauschte den Stimmen ihrer Elfenfamilie und wünschte sich… ja, was eigentlich?

Wieder Anita Palmer zu sein?

Nein, das nicht.

Prinzessin Tania zu sein?

»Nein!«, flüsterte sie. »Auch das nicht. Ich weiß nicht, was ich will.«

Sie lief die Stufen in den ersten Stock hinauf. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, öffnete sie im Dunkeln die Tür zu Jades Zimmer und ging hinein. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Sie fühlte sich, als würde sie langsam ihre Identität verlieren.

Echt verrückt, dachte sie, angesichts der Tatsache, dass ich viel mehr als ein Leben hatte!

Aber alle diese früheren Leben schienen ihr unwirklich. Vielleicht würde es ihre innere Zerrissenheit lindern, wenn sie mehr über ihre früheren Ichs wusste. Zumindest über eines dieser Leben konnte sie mit Sicherheit mehr in Erfahrung bringen. Sie rief eine Suchmaschine auf und gab »Ernest Llewellyn« ein.

Überrascht lachte sie auf, als sie über zweihunderttausend Treffer bekam.

»Was tust du da?«, ertönte plötzlich eine Stimme. Tania schreckte hoch. Sancha stand im Türrahmen und beobachtete sie.

»Weißt du noch, als ich euch von meiner seltsamen Zeitreise erzählt habe? Als ich ein kleines Mädchen in einer viktorianischen Familie war?«, fragte Tania. »Ich versuche gerade, im Netz etwas über sie herauszufinden.«

Sancha trat zu ihr an den Schreibtisch, stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich verstehe«, versicherte sie. »Dieses ›Netz‹ hilft dir, die Llewellyn-Familie einzufangen. So wie man mit dem Netz Fische fängt?«

Tania sah lächelnd zu ihr hoch. »Ja genau, es funktioniert wie ein großes elektronisches Fischernetz.«

»Ich würde gern mehr über diese Elektrizität erfahren«, bat Sancha. »Sie ist wundersam, aber da du keine Angst davor hast, habe ich auch keine.« Sie zog sich einen Stuhl heran. »Zeig mir, wie diese Errungenschaft der Sterblichen nach Wissen fischt!«

»Okay«, sagte Tania. »Als Erstes muss ich die Suche stärker eingrenzen.« Sie gab stattdessen »Ernest Llewellyn London« ein.

95701Treffer.

»Siehst du?«, erklärte sie und deutete auf die Zahlen auf dem Bildschirm. »So viele Male wurden diese Worte gefunden.«

»Ein riesiges Meer«, bemerkte Sancha.

»Ja, das stimmt«, pflichtete Tania ihr lächelnd bei. »Aber ich glaube, ich habe schon gefunden, was wir suchen.« Sie klickte einen Namen auf der Liste an.

Eine neue Seite öffnete sich. Weiß mit blauer Schrift.

Ernest Llewellyn
1831–1869

Unter dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes in einer Dachkammer war eine lange Textpassage. Der Erfinder blickte ernst drein, seine Körperhaltung wirkte sehr steif. Tania erkannte trotzdem den warmherzigen Vater in ihm wieder, der die kleine Flora herumgewirbelt hatte.

»Das ist er«, sagte sie leise zu ihrer Schwester und begann den Text vorzulesen.

»Anerkannter Amateurwissenschaftler und -erfinder. Als Sohn eines Schmieds in Nordwales geboren, wuchs Ernest Llewellyn in einfachen Verhältnissen auf. Nachdem seine Familie jedoch nach Kent umgezogen war, ging er im Alter von zehn Jahren bei einem Londoner Chemiker in die Lehre. Durch intensives Selbststudium erwarb er umfassende wissenschaftliche und chemische Kenntnisse. Er besuchte Vorträge der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Einige der bedeutendsten Theorien basieren auf Llewellyns Experimenten…« Tania wandte sich an Sancha. »Da steht eine Menge über seine Forschungen, aber eigentlich möchte ich ja mehr über seine Familie herauskriegen.« Sie scrollte hinunter, übersprang die Skizzen verschiedener wissenschaftlicher Apparaturen sowie die Kästchen, die komplizierte chemische Formeln enthielten.

»Da!«, rief sie aus. »Das sind sie.« Die Schwestern starrten auf das Familienporträt. Wieder wirkten die Menschen sehr steif und förmlich auf dem Bild. Tania erkannte alle Familienmitglieder; für das Foto hatten sie offenbar ihre Sonntagskleider angezogen und sich vor einem gemalten Prospekt mit Wiesen und Bäumen aufgestellt. Ernest hatte eine Hand am Revers seines Gehrocks, die andere lag auf der Schulter seiner Frau, die mit einem Baby auf dem Schoß vor ihm saß. Der älteste Sohn stand vor seinem Vater. Es war der Junge, den Tania mit dem schlafenden Kleinkind auf den Knien auf der Couch gesehen hatte. Auf der anderen Seite der Mutter standen zwei jüngere Kinder, das waren der Junge und das Mädchen, die vor dem Kamin gelegen hatten.

Zu Füßen ihrer Mutter saß die kleine Flora Llewellyn im Schneidersitz; sie schien in einem Meer aus weißer Spitze zu verschwinden. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und blickte gebannt in die Kamera, ihr verschmitztes Gesicht war voller Leben und Neugier.

Tania fand es seltsam, Flora als Fremde zu betrachten und gleichzeitig zu wissen, wie es sich angefühlt hatte, in ihrem quirligen Körper zu stecken.

»Ja, genauso haben sie ausgesehen«, murmelte sie.

»Tania?« Sanchas Stimme klang mit einem Mal gedämpft. »Hast du die Worte unter dem Bild gelesen?«

»Nein, noch nicht.«

»Lies!«, drängte Sancha. »Es geht um das Schicksal der Familie.«

Sanchas Stimme hörte sich so ungeduldig an, dass Tania sich beeilte, die Bildunterschrift zu entziffern.

Diese Fotografie aus dem Studio Laporte & Hudson im Juli 1869 zeigt die Llewellyn-Familie: Ernest, seine Frau Charlotte, ihren ältesten Sohn George, die Zwillinge Arthur und Dorothy, die jüngste Tochter Flora und das Baby Henry. Dies ist die letzte Aufnahme der Familie, bevor sie bei einem tragischen Hausbrand ums Leben kam. Man vermutet, dass das Feuer spätnachts in Ernests Labor unter dem Dach ausbrach und die Flammen sich so schnell ausbreiteten, dass die Llewellyns nicht rechtzeitig erwachten, um noch fliehen zu können.

Tanias Herz wurde schwer.

Nein! Sie konnten nicht gestorben sein. Nicht so.

»Du wusstest doch, dass sie als Kind gestorben sein musste«, erinnerte sie Sancha sanft. »Weißt du nicht mehr, was Mutter gesagt hat? Keines der Mädchen, in deren Körpern du wiedergeboren wurdest, hat je das Alter von sechzehn erreicht– Anita Palmer ist die einzige Ausnahme.«

Tanias Kehle war wie zugeschnürt und in ihren Augen brannten Tränen.

Sie war so aufgewühlt, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, den Computer ordentlich herunterzufahren, sondern ihn einfach ausschaltete. Abrupt verstummte das Summen der Maschine, der Bildschirm wurde dunkel und das Foto verschwand.

»Es macht uns nicht immer glücklicher, mehr zu wissen«, bemerkte Sancha weise. »Aber ist es nicht tröstlich, dass in der Welt der Sterblichen Tod und Geburt sich miteinander abwechseln?« Sie legte ihre Hand an Tanias Wange und drehte ihr Gesicht sanft zu sich hin. »Dieses Kind musste sterben, damit du geboren werden konntest.« Sie lächelte Tania voller Mitgefühl an. »Ich möchte dich nicht anders haben, als du jetzt bist, liebe Schwester. Alles Gute und alles Schlechte, das dir in der Vergangenheit geschehen ist, hat dich zu dem Menschen gemacht, der du jetzt bist.«

»Aber sie waren so glücklich«, flüsterte Tania. »Es ist schrecklich, dass sie alle gestorben sind… vielleicht nur ein paar Tage oder Wochen, nachdem ich bei ihnen war.« Ein entsetzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Möglicherweise kamen sie sogar noch in derselben Nacht ums Leben. Hätte Flora ihn überreden können, mit der Arbeit aufzuhören, wäre das Feuer vielleicht nie ausgebrochen.«

»Du Arme«, tröstete Sancha. »Du trägst wahrlich eine schwere Bürde!«

Tania warf sich Sancha an den Hals und vergrub das Gesicht in ihrem dunklen Haar. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Die armen Mädchen! Die todkranke Ann Burbage. Die ertrunkene Gracie. Flora Llewellyn mit dem goldenen Haar und dem Engelsgesicht. Wie viele Kinder wohl gestorben waren, bevor Anita Palmer schließlich geboren wurde?

Nach einer Weile beruhigte sich Tania. Sancha hatte ihr vorgeschlagen, sich eine Weile hinzulegen, doch sie fand keine Ruhe. Sie konnte nicht schlafen, denn sie fürchtete, Gabriel Drake würde ihr erneut im Traum auflauern. Deshalb war sie zurück in den Keller gegangen und saß nun mit Edric auf einem Stapel alter Teppiche. Sie hatte ihm ein belegtes Brot gebracht, und sie unterhielten sich, während er aß.

»Du siehst müde aus«, meinte er. »Warum legst du dich nicht ein bisschen hin? Ich wecke dich, wenn ich hier fertig bin.«

Sie schüttelte den Kopf. »Alle sagen mir, ich soll schlafen«, antwortete sie. »Aber niemand denkt daran, dass ich jede Nacht Albträume habe. Und außerdem wollte ich bei dir sein. Ich möchte dir helfen.«

Er lächelte. »Ich dachte, du würdest vielleicht gern in Titanias Nähe sein. Freundest du dich mit dem Gedanken an, zwei Mütter zu haben?«

»Nein«, gestand sie. »Es fühlt sich so merkwürdig an. Vermutlich geht es einem so, wenn man erfährt, dass man adoptiert wurde und noch eine andere Familie hat. Bei mir ist es allerdings noch schlimmer! Alle reden von Sachen, bei denen ich dabei war, aber ich kann mich an nichts erinnern.« Sie beugte sich vor und küsste Edric auf die schmutzverschmierte Wange. »Wenigstens habe ich dich«, murmelte sie, umarmte ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Weißt du, was merkwürdig ist?«, sagte sie leise. »Ich war so darauf fixiert, Titania zu finden, dass ich sie mir immer als Mensch in der Welt der Sterblichen vorgestellt habe.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Dabei ist sie eine Elfe. Titania lebt seit fünfhundert Jahren in London. Sie war hier, als König CharlesI. enthauptet wurde und als die halbe Stadt im Großen Feuer zerstört wurde. Sie bekam mit, wie Nelson Napoleon in der Schlacht von Trafalgar geschlagen hat. Sie lebte, als Königin Victoria den Thron bestieg, während der beiden Weltkriege und als das neue Jahrtausend anbrach. Die ganze Zeit, fünfhundert Jahre lang, hat sie nur darauf gewartet, wieder mit mir zusammen zu sein.« Tania setzte sich aufrecht hin und zuckte nachdenklich mit den Schultern. »Und jetzt weiß ich einfach nicht, was ich mit ihr reden soll. Sage ich lieber: ›Hallo, Mum, danke, dass du mich nicht aufgegeben hast?‹ Oder: ›Es ist nett, Euch kennenzulernen, Eure Königliche Hoheit, aber ich habe bereits eine Mutter, vielen Dank?‹« Sie sah ihn an. »Kannst du dir vorstellen, dass das sehr bizarr für mich ist?«

»Nein«, gab er zu. »Das kann ich nicht. Ich bin innerlich nicht so zerrissen wie du. Ich weiß, wo ich sein möchte.«

»Im Elfenreich.«

»Nein, bei dir

»Also, falls wir das alles überleben sollten, die Grauen Ritter besiegen und Oberon retten und ich dann entscheide, dass ich lieber hier leben möchte als im Elfenreich– dann wärst du wirklich und wahrhaftig bereit, mit mir hierzubleiben?«

Edric lächelte müde. »Erst mal müssen wir das alles überstehen. Wenn Lyonesse uns besiegt, haben wir sowieso keine Wahl mehr.« Er stand auf. »So«, sagte er und ergriff das Kristallschwert. »Dann wollen wir das hier mal zu Ende bringen.«

»Was kann ich tun?«

Er deutete in eine Ecke. »Da drüben liegen Schutzbrillen und Handschuhe«, sagte er. »Die ziehst du an und außerdem benötigst du eine Zange, um damit die Bernsteine in Position zu halten.«

Sie setzte die Schutzbrille auf und zog das Lederband fest. Die runden Linsen waren zwar zerkratzt, aber sie konnte noch genug erkennen. Sie streifte sich die schweren Lederhandschuhe über und bückte sich nach der langen Metallzange. Dann ging sie zurück zu Edric, der mit der Schutzbrille über den Augen und dem Schweißbrenner in der Hand auf dem Boden hockte.

Sie kniete sich neben ihn und sah zu, wie er das Gerät in Gang setzte. Die Flamme sah aus wie ein schlankes weißes Blatt, das inmitten des zischenden blauen Feuerscheins tanzte.

Edric platzierte das Schwert zwischen sich und Tania auf dem Betonboden und legte vorsichtig einen der schwarzen Steine auf die Klinge.

»Okay«, befahl er. »Du musst die Klinge gut mit der Zange festhalten, damit der Stein nicht wegrutscht. Kriegst du das hin?«

»Ja.« Tania klemmte den ovalen Bernstein vorsichtig in der schweren Metallzange ein.

Als die zischende Flammenzunge den Stein berührte, sprang er aus der Zange und kullerte auf den Boden.

»Oje, tut mir leid«, murmelte Tania, die wütend auf sich selbst war. »Warte kurz.«

»Keine Panik«, sagte Edric sanft. »Versuchen wir es gleich noch einmal.«

»Ich hab ihn nicht fest genug gehalten.« Sie klemmte den Stein wieder in der Zange ein und legte ihn aufs Schwert. »Jetzt müsste es gehen.«

Erneut kam Edric mit der Flamme an den Stein heran, aber diesmal entglitt er ihrem Griff nicht. Tania beobachtete gespannt die glühend weiße Flamme, die um den schwarzen Bernstein züngelte.

Lange Zeit schien nichts zu passieren.

»Funktioniert es?«, erkundigte sich Tania.

»Ich weiß es nicht. Vermutlich dauert es eine ganze Weile. Kannst du die Zange noch festhalten?«

»Ja, alles okay.« Tanias Muskeln an Arm und Handgelenk begannen schon von der Anstrengung zu schmerzen. Es war ermüdend, so lange in der gleichen Haltung zu verharren.

Die Minuten verstrichen. Tania bemerkte, dass die Metallzange inzwischen rot glühte, aber der Stein blieb unverändert. Doch dann stieg plötzlich eine dünne schwarze Rauchsäule auf.

»Vorsicht!«, rief Edric, kaum in der Lage, das Zischen der Flamme zu übertönen. »Ich glaube, jetzt tut sich was.«

Binnen eines Augenblicks war es geschehen: Der Stein schmolz und verwandelte sich jäh in eine dicke, glänzende Flüssigkeit, die sich wie eine Ölschicht um das Kristallschwert legte.

Tania nahm die Zange weg und beobachtete gespannt, wie Edric den geschmolzenen Bernstein mithilfe der Flamme gleichmäßig auf der Klinge verteilte.

Edric stellte den Gasbrenner zur Seite. Eine handtellergroße Fläche des Schwerts war nun mit einer glänzenden schwarzen Schicht bedeckt. Tania beugte sich darüber. Der geschmolzene Bernstein warf Falten und kleine Wellen wie die Haut, die sich auf heißer Milch bildet.

»Sollen wir es abkühlen lassen?«, fragte sie. »Um zu sehen, ob es wirklich geklappt hat?«

»Nein, das dauert zu lange.« Edric nahm den nächsten Stein und legte ihn etwa zwei Zentimeter von der schimmernden schwarzen Bernsteinglasur entfernt auf die Klinge. Er sah Tania an. »Bist du bereit?«

Sie nickte. Ohne auf die Schmerzen in ihren Armen und Händen zu achten, schloss sie die Zange um den zweiten Stein.

»Kommt ihr voran?«, rief Titania von oben die Kellertreppe hinunter.

Tania sprang auf und stellte sich an den Fuß der Treppe. »Bis jetzt ganz gut«, antwortete sie. »Eine Seite ist schon vollständig mit Bernstein überzogen und die Glasur sieht ziemlich vielversprechend aus. Im Moment warten wir darauf, dass der Bernstein so weit abkühlt, dass wir das Schwert umdrehen können. Dann ist die andere Seite dran.« Sie lächelte zu ihrer Elfenmutter hinauf. »Wie geht’s euch?«

»Cordelia wird nervös. Sie ist die meiste Zeit draußen im Garten und befragt die Vögel nach Neuigkeiten.«

»Sie soll nur achtgeben, dass sie niemand sieht!«

»Ja.«

»Und was sagen ihre gefiederten Freunde?«

»Dass etwas Grauenerregendes auf dem Weg hierher ist«, erwiderte Titania.

»Die Ritter?«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Weiß Prinzessin Cordelia, wie viel Zeit uns bleibt, Euer Gnaden?«, erkundigte sich Edric, der sich neben Tania gestellt hatte.

»In ungefähr einer Stunde dämmert es«, sagte Titania. »Folgen wir Cordelias Rat, so sollten wir bei Sonnenaufgang auf keinen Fall mehr hier sein.«

»Eine Stunde!«, sagte Edric entschlossen. »Das müsste zu schaffen sein.«

»Und dann durchbrechen wir den eisernen Wall ins Elfenreich«, bemerkte Tania.

»So ist es geplant«, meinte Titania. »Sancha glaubt, dieses Haus sei kein idealer Ausgangspunkt für unsere Rückreise.«

»Wieso nicht?«, wollte Tania wissen.

»Der Zauber des Hexenkönigs ist sehr mächtig, aber der Panzer, der das Elfenreich umgibt, hat dennoch Schwachstellen. Eden wusste das, deshalb hat sie sich genau überlegt, wo sie den Vorstoß in die Welt der Sterblichen riskierte. Sie wählte Bonwn Tyr, den Turm, der im Elfenreich an jener Stelle steht, an der sich in dieser Welt dein Zimmer befindet.«

»Ihr meint also, wir sollen wieder zu mir nach Hause gehen und es dort probieren? Aber das ist doch zu gefährlich!«

»Ja, es ist in der Tat riskant«, entgegnete Titania. »Aber wir haben vielleicht nur eine einzige Chance. Es könnte sein, dass das Schwert beim Versuch, den eisernen Panzer zu durchschlagen, kaputtgeht. Wir sollten also dort ansetzen, wo die besten Aussichten auf Erfolg bestehen. Wenn wir zum Pirolglas in Edens Privatgemächern hinkommen könnten, wäre das am besten, aber das ist zu gefährlich. Lyonesse hat sicherlich Wachen aufgestellt und wir würden sofort in eine Falle tappen. Es gibt noch andere Plätze im Elfenreich, die gut geeignet wären: Crystalhenge im Westen, die Burg Ravensare im Norden und natürlich Tasha Dhul, aber die sind alle zu weit vom Palast entfernt. Wir müssen so nahe wie möglich am Palast sein, wenn wir ankommen, damit wir Oberon aus dem Verlies befreien können, ehe Lyonesse reagieren kann. Dein Zimmer ist also die beste Wahl.«

»Okay«, stimmte Tania mit einigem Unbehagen zu. »Hoffen wir, dass Gabriel nicht dieselbe Idee hatte.«

»Ist es fertig?«, fragte Tania. »Es sieht zumindest so aus.«

Der Schweißbrenner lag ausgeschaltet auf dem Boden. Edric kauerte vor dem Schwert und starrte gebannt auf die Klinge, um den Augenblick abzupassen, da die Bernsteinglasur so weit gehärtet war, dass man das Schwert aufheben konnte.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Warten wir lieber noch ein paar Minuten.«

»Haben wir noch so viel Zeit?«

Tania stand hinter ihm. Sancha saß auf der untersten Stufe der Kellertreppe. Zara und Titania hockten auf halber Höhe der Treppe. Zara lehnte gegen die Knie ihrer Mutter und Titania hat ihr in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter gelegt. Im Keller war es heiß und stickig vom Schweißen, die Luft roch verraucht.

Doch die Arbeit war getan. Jetzt blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu warten und zu hoffen, dass es ihnen gelingen würde, das Haus der Andersons zu verlassen, ehe die Grauen Ritter eintrafen.

Die Botschaften der Vögel waren alarmierend. Die Tiere wurden immer aufgeregter. Das bedeutete, dass die Ritter nicht mehr weit entfernt sein konnten. Inzwischen war Tania mit den Nerven völlig am Ende, und selbst jetzt fühlte sie die eisigen, mitleidlosen Blicke der Ritter wie eine Last. Aber noch viel schlimmer war, dass sie permanent Gabriels hämisches Lächeln vor ihrem inneren Auge sah; dass er so unverhohlen triumphierte, nahm ihr beinahe auch noch das letzte Quäntchen Kraft.

Außerdem hörte sie ständig seine Stimme, die ihr ins Ohr raunte: Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!

r… alle… Zeiten!

»Das Auto steht direkt vor dem Haus«, erklärte Titania. »Wenn das Schwert fertig ist, können wir sofort aufbrechen.«

»Noch eine Minute, Euer Gnaden«, bat Edric. »Ich will nicht riskieren, es zu bewegen, ehe der Bernstein sich ganz verfestigt hat.«

Genau in diesem Augenblick erklang Cordelias Stimme. »Ich fürchte, dieses Risiko werdet Ihr eingehen müssen, Master Chanticleer«, rief sie nach unten. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Die Grauen Ritter sind da.«