V

Tania fand sich plötzlich in dem kleinen Turmzimmerchen wieder. Sie stieß einen unterdrückten Freudenschrei aus. Der Vollmond strahlte so hell durch das Fenster, dass sein Licht harte Schatten an die Wand warf. Zahllose Sterne überzogen den pechschwarzen Himmel mit flackerndem Silber. Nachts roch das Elfenreich seltsam und geheimnisvoll– eine Mischung aus verschiedenen Aromen, die sich zu einem harmonischen Ganzen vereinigten: der Eishauch ferner, schneebedeckter Gipfel, der erdige Duft von Waldlichtungen und der wilde Geruch nach weitem Heideland, das vom Wind gepeitscht und von Regenschauern durchnässt wurde.

Tania beugte sich aus dem Fenster und blickte über die Hügellandschaft, in der vereinzelt Bäume standen. Die Silhouetten von Türmen und Dächern des Palastes zeichneten sich wie schwarze Scherenschnitte vor dem Himmel ab, aber die Palastfenster waren von tausend Kerzen erhellt. Sie sahen aus wie funkelnde Diamanten, die auf dunklem Samt verstreut lagen.

Plötzlich drang ein Klingeln an Tanias Ohren, anfangs so leise, dass sie sich anstrengen musste, um es überhaupt wahrzunehmen. Es war das sanfte Bimmeln mehrerer Glöckchen.

Etwas bewegte sich zwischen den Bäumen hindurch. Tania entdeckte eine offene Kutsche, die von einem schwarzen, mit Kristallglöckchen geschmückten Pferd gezogen wurde. Ein Mann in einem dunkelgrünen Umhang saß auf dem Kutschbock, und hinten saßen ein Elfenlord und eine Elfenlady.

»Der Graf und die Gräfin von Gaidheal«, wisperte Tania fast unhörbar; sie kannte die beiden Fahrgäste von dem Ball, der zur Feier ihrer Rückkehr ins Elfenreich veranstaltet worden war. Der Graf hatte ein edles Gesicht mit dunklen, tief liegenden Augen und einer hohen Stirn. Das rabenschwarze Haar trug er nach hinten zurückgekämmt. Die Gräfin war eine klassische Schönheit. Ihre goldenen Locken fielen bis zur Taille.

Blitzschnell wandte sich Tania vom Fenster ab und rannte die Wendeltreppe hinunter. Sie gelangte zu einer bogenförmigen Holztür, die sie öffnete, indem sie den Riegel anhob. Einen Augenblick später sauste sie schon zwischen den Bäumen hindurch hinter der Kutsche her.

»Hallo! Hallo!«

Der Graf gab einen scharfen Befehl und die Kutsche blieb nur wenige Meter vor Tania stehen.

»Prinzessin Tania«, sagte der Graf, die Augen vor Erstaunen geweitet. »Mylady, was führt Euch mitten in der Nacht hierher?«

»Ich habe mir den Mond angesehen«, sagte Tania.

Die Gräfin lächelte. »Wir kommen von unserem Landgut in den Wäldern von Esgath, um am Fest der Reisenden teilzunehmen. Erweist Ihr uns die Ehre uns zu begleiten, Mylady?«

Tania zögerte. Sollte sie es wagen? Solange sie vor Sonnenaufgang zurück war, würden ihre Eltern nie erfahren, dass sie nicht die ganze Nacht in ihrem Bett verbracht hatte. Und wenn man Edric glauben konnte, war das Fest einen Ausflug wert.

»Ja, gern«, sagte sie. »Das wäre wunderbar.«

Der Graf hielt ihr den Verschlag der Kutsche auf.

Der Kutscher schnippte mit den Zügeln, und mit einem Ruck fuhr das Gespann an, rollte aus dem Wald heraus und den grasbewachsenen Hang hinunter zum privaten Schlossgarten. Es dauerte nicht lange, bis sie die baumgesäumten Wege und kunstvoll gestutzten Hecken erreichten. In dem zauberhaften Mondlicht wirkten die Büsche, die in Form von Tieren und Vögeln geschnitten waren, beinahe lebendig.

Die hohen roten Backsteinmauern der königlichen Privatgemächer ragten vor ihnen auf, und schon bald näherten sie sich einem Wachhäuschen und den braunen Steinstufen, die zu einem Türbogen führten.

»Ich möchte hier gern aussteigen, wenn das geht«, sagte Tania. »Ich möchte meine Schwestern suchen.«

»Wie es euch beliebt, Mylady«, sagte der Graf, hieß die Kutsche anhalten und sprang hinab. Er half Tania beim Aussteigen.

»Vielen Dank.« Sie trat auf den sandigen Weg.

»Wir sehen uns wieder am weißen Strand von Ynis Logris, Mylady«, sagte die Gräfin.

»Ganz gewiss.« Tania spürte, wie helle Aufregung sie erfasste. Sie war zurück im Elfenreich!

Sie winkte, als die Kutsche davonfuhr, dann rannte sie zu den bogenförmigen Doppeltüren und schob diese auf. Die lang gezogene Eingangshalle war von unzähligen Kerzen erhellt, die in hohen, mehrarmigen Kandelabern standen. Das tanzende gelbe Licht spiegelte sich in den polierten roten und grünen Bodenfliesen und verlieh den hoch aufragenden weißen Steinwänden einen warmen Glanz.

Tania rannte barfuß durch die sanft beleuchtete Halle und machte dabei kaum ein Geräusch auf den kühlen Fliesen. Sie erreichte eine große, dunkle Holztreppe, die mit dekorativer Schnitzerei verziert war und zu einer hohen, gemäldegeschmückten Galerie hinaufführte. Tania strich mit den Fingern über das warme Geländer und stieg hinauf.

Zwei Stockwerke höher kam sie zu der hohen Wendeltreppe, über die man zu den Gemächern der Prinzessinnen unterm Dach gelangte. Tania war noch nicht mal bis zur halben Höhe gekommen, als sie entgegenkommende Schritte hörte. Wenige Augenblicke später tauchte ihre Schwester Zara in einem himmelblauen Kleid auf. Das lang wallende goldene Haar wippte ihr auf den Schultern, als sie der Schwester entgegenlief.

»Tania!«, rief sie überrascht, nahm die restlichen Stufen und warf sich in ihre Arme. Dabei strahlte sie übers ganze Gesicht. »Dich habe ich heute Nacht nicht erwartet!« Sie umarmte Tania fest. »Wie schön, dass du hier bist! Ich hatte schon befürchtet, du würdest die Feier verpassen.«

Tania lachte und erwiderte Zaras Umarmung. »Ich verpasse nur ungern ein Fest, wenn ich es irgendwie verhindern kann«, sagte sie. »Aber der ganze Palast wirkt so verlassen– sind die anderen denn schon losgefahren?«

»Die meisten«, erwiderte Zara. »Alle Schiffe außer einem haben heute Früh am Fortrenn-Quay Segel gesetzt. Das letzte fährt bald ab. Ich bin zurückgelaufen, um das hier zu holen.« Sie zog eine schmale Holzflöte aus den Falten ihres Kleides. »Das Fest der Reisenden wäre nichts ohne Musik«, sagte sie. Sie setzte die Flöte an die Lippen und spielte eine Folge klarer, fließender Töne.

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut Flöte spielst.«

»Ich beherrsche alle Instrumente«, sagte Zara, dann riss sie die Augen auf und starrte entgeistert auf Tanias Kleidung.

»Meine Güte, was trägst du für Gewänder?«, fragte sie. »Eine Prinzessin in Beinlingen– und in so einem dünnen Fetzen von Hemd, dass ein Windhauch genügen würde, um es davonzuwehen? Tania, in so einem Gewand kannst du dich unmöglich in der Öffentlichkeit sehen lassen. Das ist… das ist ganz und gar unschicklich!«

»So was ist ganz normal in der echten… ich meine, in der Welt der Sterblichen«, sagte Tania. »Du glaubst, dass meine Aufmachung hier auf Ablehnung stoßen wird?«

»Gewiss! Beinkleider wie ein Hofnarr oder ein Diener– das geht wirklich nicht! Wir müssen etwas Angemesseneres für dich finden. Und zwar rasch, sonst fährt die Wolkenseglerin noch ohne uns ab.«

»Die Wolkenseglerin

Ein strahlendes Grinsen breitete sich über Zaras Gesicht. »Du erinnerst dich nicht an sie?«, fragte sie. Sie hakte Tania unter und ging mit ihr die Stufen hinab. »Dann wird das eine herrliche Überraschung, meine Liebe.«

»Entscheide dich, Tania, sonst kommen wir zu spät!«, schalt Zara sie.

Tania stand vor dem großen Kleiderschrank in ihrem Schlafgemach und bemühte sich, aus all den glitzernden Gewändern eines auszusuchen. Zara drängte, sie hatte Tania nicht mal ein paar Minuten Zeit gegönnt, um die Wandteppiche anzusehen, die an den holzgetäfelten Wänden hingen. Als Tania zum ersten Mal ins Elfenreich gekommen war, waren auf den Teppichen Bilder ferner Orte erschienen: Berge und wildes Heideland, Meereslandschaften und Eisschollen unter kaltem, nacktem Himmel. An jenem Tag, als Tania ihr Elfenerbe angenommen hatte, waren all diese Wandteppiche zum Leben erwacht: Der Wind hatte angefangen, durch die Bäume zu streichen, die erstarrten Wellen bewegten sich plötzlich, Wolken waren über den Himmel dahingezogen, Vögel in der Luft geflogen, Flüsse schäumend über Steinstufen hinweg ins Tal geschossen.

»Gib mir eine Minute!«, protestierte Tania und zog ein fliederfarbenes Kleid hervor. Es war schlicht und doch elegant, mit seinen violetten Stickereien, dem tiefen viereckigen Ausschnitt und den langen Ärmeln, die durch Zierstiche am Hauptteil befestigt waren. Sie hielt es sich an und warf Zara einen fragenden Blick zu.

»Ja, das sieht gut aus«, meinte Zara.

Tania entledigte sich rasch ihrer Kleidung und stieg in das Gewand. Zara stellte sich hinter sie und schnürte ihr das Mieder.

Sie fasste Tania an den Schultern und drehte sie im Kreis herum. »Ja, das ist viel besser«, sagte sie. »Jetzt bist du wieder eine Elfenprinzessin. Aber nun müssen wir lossausen, so schnell wie der Wind!« Sie nahm Tania bei der Hand und sie liefen hinaus. Zaras Begeisterung war ansteckend, und Tania lachte fröhlich, als sie die Gänge entlangflitzten, dass ihre langen Röcke nur so raschelten und ihre Haare wehten.

Keuchend blieb Zara vor einer vertrauten Tür stehen.

Tania sah ihre Schwester verblüfft an. »Das ist doch dein Zimmer«, sagte sie. »Ich dachte, wir müssten uns so beeilen, damit wir noch rechtzeitig zum Fest kommen.«

»Das sind wir auch«, sagte Zara mit glänzenden Augen.

»Aber was…«

»Mach die Tür auf!«

Verwirrt öffnete Tania die Tür.

Sie wusste bereits, wie Zaras Gemächer aussahen: Wände und Zimmerdecke zierten Bilder einer Meereslandschaft und auf die Holzdielen war ein Kieselstrand gemalt. Die Möbel waren mit Muscheln überkrustet und marineblau bezogen. Und all das lebte: ein Gemälde, das sich still bewegte.

Als sie die Tür nun öffnete, erwartete sie der vertraute Anblick. Allerdings war der Raum in den geheimnisvoll-dunklen Glanz der Elfennacht getaucht, während er bei ihrem ersten Besuch taghell gewesen war.

Als Nächstes fiel ihr auf, dass sie das Rauschen von Wellen hören konnte, die über die Kieselsteine strichen. Das letzte Mal hatten die lebenden Gemälde keinerlei Geräusch erzeugt– war dies nun ein neuer Zauber? Doch bevor Tania nachfragen konnte, merkte sie plötzlich, dass sie unter ihren bloßen Füßen keine hölzernen Dielen mehr spürte, sondern knirschende Kieselsteine, die sich bei jedem Schritt bewegten. Möbel, Wände und Decke waren verschwunden, hinter der Tür lag ein lang gezogener Strand, der im Licht des riesigen Vollmondes schimmerte.

»Zum ersten Mal seit der Zeit der Großen Dämmerung hat der König heute diese Pforte geöffnet«, sagte Zara. »Sieh mal, dort drüben: Die Wolkenseglerin hat schon die Segel gesetzt. Beliebt es dir, an Bord zu gehen, oder möchtest du noch länger mit offenem Mund herumstehen?«

Vor ihnen fiel das Kieselsteinufer flach zum schäumenden Meer hin ab. Ein kleines Ruderboot lag am Strand im Wasser, und daneben stand ein Mann in Uniform, welche die Farbe des Sommerhimmels hatte. Die Wogen umspielten seine Stiefel.

Doch das kleine Ruderboot hielt Tanias Aufmerksamkeit nicht lange gefangen– etwas weit Erstaunlicheres raubte ihr den Atem: Eine dreimastige Galeone ankerte vor ihnen in der wogenden See. Die Planken, Balken, Seile, Mastbäume und Rundhölzer, die Segel, die Takelage, die Decks, der Bug und der tiefe, breite, gebogene Kiel glänzten silbrig weiß, als hätte jemand das Mondlicht eingefangen und alles auf dem Schiff damit durchtränkt; so warf das Schiff seinen glitzernden Schein auf das dunkle Wasser, das gegen den Schiffsrumpf plätscherte.

»Sieh nur, die Wolkenseglerin!«, flüsterte Zara dicht an Tanias Ohr. »Fünfhundert Jahre lang lag sie in einem kalten Hafen fest, aber heute Nacht wird sie über den Mond hinweg zur Insel Logris fliegen.«

Hand in Hand gingen sie über den knirschenden Kieselstrand zum Meer hinab und traten ins Wasser, wobei die plätschernden Wellen die Steinchen unter ihren Füßen wegsaugten, mit einem Geräusch, das wie fernes, helles Gelächter klang. Schaumkronen bedeckten die vom Meer rund geschliffenen Steine.

Der wartende Mann verneigte sich tief und half ihnen in das kleine Ruderboot. Gemeinsam setzten sie sich ans Heck, während der Mann das Boot vom Strand wegschob und an Bord sprang. Er stieß es mit einem Ruder weiter vom Ufer ab, dann setzte er sich und begann mit langen, kräftigen Armbewegungen zu rudern.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Seite des hoch aufragenden Silberschiffes erreichten. Das Ruderboot stieß sanft gegen den Holzrumpf, während der Rudermann nach einem Tau griff, das vom Deck herabhing. Zara stand auf und stützte sich auf der Schulter des Mannes ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Viele weitere Seile hingen an der Schiffsseite herab, einschließlich einer langen Schlaufe, an der eine kleine Holzplattform befestigt war.

Zara stieg vom Seitenrand des Boots auf die kleine Holzplattform und hielt sich mit beiden Händen an dem Seil fest.

»Hau ruck!«, rief der Ruderer, und Tania sah zu, wie ihre Schwester hinaufgehievt wurde.

Kurze Zeit später musste Tania bereits den Hals recken, um zu sehen, wie man Zara aufs Schiff half. Die Schlinge wurde wieder herabgelassen. Der Ruderer zeigte mit einem Kopfnicken auf die Holzplattform.

Das Boot wippte und schlingerte, als Tania auf den Bootsrand trat, während sie mit einer Hand die Röcke raffte. Der Ruderer stützte sie am Arm, als sich plötzlich ein Spalt zwischen Boot und Schiff auftat. Doch einen Augenblick später drückten die Wellen das Boot wieder nach vorne und Tania konnte jetzt mühelos auf die Plattform steigen.

Sie klammerte sich mit beiden Händen am Seil fest, während man sie hinaufzog. Dabei blickte sie zum Ufer hinüber: Weiter hinten ging der Kieselstrand in grasbewachsene Dünen über, und dahinter erstreckten sich, soweit das Auge reichte, sanfte grün-braune Hügel.

Tania erkannte, dass das Schiff in einer breiten Bucht ankerte, auf beiden Seiten eingeschlossen von geschwungenen dunklen Landzungen. Zu ihrer Linken berührte ein schwarzer Finger den Bogen der Bucht, bedeckt mit einer Flammenzunge, fern, aber so hell funkelnd wie ein Juwel am dunklen Horizont.

»Gebt mir Eure Hand, Prinzessin.« Sie war nun auf Höhe des Decks. Ein Matrose erwartete sie. Er trug ein cremefarbenes Hemd und himmelblaue Hosen, dazu hohe Lederstiefel. Tania ergriff seine Hand und trat an Bord des Schiffes.

Aus der Elfenschar, die sich an Deck versammelt hatte, kam eine vertraute Stimme.

»Willkommen! Herzlich willkommen, meine Tochter! Welch unerwartete Freude!«

König Oberon trat vor und schloss sie in die Arme. Er war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet und in die Falten seines gefütterten Wamses waren Diamanten genäht, tiefschwarze Filigranstickerei zierte Kragen und Ärmelenden. Sein langes blondes Haar wurde von der weißen Krone, einem ringförmigen Kristallband, zurückgehalten, in das seltene schwarze Bernsteine eingesetzt waren.

Tania blickte in das Gesicht mit dem kurz geschnittenen goldblonden Vollbart und den tief liegenden blauen Augen, denen nichts entging. »Sei gegrüßt«, sagte sie und drückte ihn liebevoll. »Wie schön, wieder hier zu sein.«

»Und du kommst gerade recht zum Fest«, sagte der König. »Beeil dich, uns die neuesten Nachrichten zu erzählen, bevor wir Kurs auf Logris nehmen.«

Ohne seine Hand loszulassen, blickte Tania in die vertrauten Gesichter ringsum. Da war ihre Schwester Hopie mit ihrem Ehemann, Lord Brythus, beide in schlichtes Braun gewandet. Daneben die sommersprossige Cordelia, sie trug das rotgoldene Haar schulterlang. Ein Turmfalke saß auf ihrem erhobenen Arm. Neben ihr stand Sancha, wie üblich in schwarzer Samtkleidung. Ihre klugen braunen Augen glühten in ihrem lächelnden Gesicht.

»Ich habe ein paar gute Neuigkeiten«, rief Tania und sah den Hoffnungsschimmer in Oberons Augen. »Wir haben Titania zwar noch nicht ganz aufgespürt, aber Edric und ich haben mit einer Frau gesprochen, die sie gesehen hat. Oder zumindest jemanden, der ihr sehr ähnlich sieht.«

»Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ihr die Königin so rasch finden würdet«, sagte Oberon.

»Wir sind noch nicht am Ende unserer Suche«, erwiderte Tania. »Aber wir machen weiter, das verspreche ich. Ohne Edrics Hilfe wäre ich noch nicht so weit gekommen.«

»Wo befindet sich der geschätzte Master Chanticleer?«, fragte Sancha. »Hat er dich denn nicht hierher begleitet?«

»Leider nicht«, sagte Tania. »Ich hatte selbst auch nicht kommen wollen, aber dann konnte ich nicht widerstehen.«

»Und das soll auch für uns gelten, ehe die Nacht noch weiter voranschreitet«, sagte der König. Er warf Tania einen letzten zärtlichen Blick zu, dann wandte er sich um und rief zum hohen Achterdeck am Schiffsheck: »Admiral Belial, jetzt sind alle an Bord. Lichtet die Anker und lasst uns aufbrechen!«

Der Admiral stand an der Reling, groß und hager, in einem marineblauen Umhang. Er hob die Hand, und sofort kletterten himmelblau uniformierte Matrosen von der Takelage herab und verteilten sich über die Decks. Breite Ankerspille drehten sich langsam im Takt der Pfiffe und Tamburine. Rufe erschallten von Mast zu Mast.

»Ist Eden gar nicht auf dem Schiff?«, wollte Tania wissen und blickte sich nach ihrer ältesten Schwester um. Auch Zara schien verschwunden.

»Doch«, sagte Sancha. »Sie weilt unter Deck und trifft Vorbereitungen für die Reise. Sie wird sich gleich zu uns gesellen.«

»Komm zum Vorderdeck«, sagte Cordelia. »Eden und unser Vater werden auch gleich zu uns stoßen.«

Tania bahnte sich einen Weg durch die versammelten Höflinge. Unter ihnen erblickte sie den Grafen und die Gräfin von Gaidheal; beide nickten Tania lächelnd zu, als sie an ihnen vorbeiging. Sie stieg die Treppe zum schmalen Vorderdeck hinauf und ging zur Reling, von der sie über den Schiffsbug blickte. Dort traf sie auf Sancha und Cordelia.

»Wie weit entfernt ist Logris?«, fragte sie.

»Oh, auf dem Wasserweg viele Stunden– der Luftweg ist jedoch kürzer«, sagte Cordelia mit einem rätselhaften Lächeln. Tania wunderte sich noch, was sie wohl meinte, als ihre Schwester den Arm hoch in die Luft hob.

»Los, Windgleiter!«, rief sie. »Führe uns!« Der Falke erhob sich von ihrem Arm und sauste im Sturzflug an der Schiffsseite entlang. Dabei streifte er beinahe die Wellen, bevor er mehrmals kräftig mit den Flügeln schlug und in den Nachthimmel aufstieg.

»Der Wind hat nachgelassen«, sagte Tania und blickte zu den erschlafften Segeln hinauf. »Wie sollen wir da vorwärtskommen?«

»Zara wird uns einen ordentlichen Wind herbeipfeifen«, sagte Cordelia.

In diesem Augenblick vernahm Tania die hohen, klaren Töne einer Flöte. Es war eine wunderschöne melancholische Melodie. Ein Lied, wie es Matrosen singen, die zu lange fort auf See waren. Tränen traten Tania in die Augen, während die traurige Weise über das Schiff hallte. Allmählich wurde die Melodie jedoch lebhafter, füllte sich mit Hoffnung und Freude. Jetzt ließ die Musik Tania an das Glück der Seeleute denken, die im Licht des Sonnenaufgangs ihren Heimathafen erblicken.

Ein sanfter Wind begann die großen silbernen Segel zu bewegen. Zuerst war diese Bewegung nur ein kaum merkliches Zittern des Stoffs, ein Pendeln der Seilenden und ein warmer Lufthauch auf Tanias Gesicht. Doch schon bald knarrte und ächzte das Schiff, die Segel blähten sich, das Holz erbebte. Tania wurden die Haare ins Gesicht geweht, bis sie sie schließlich nach hinten weghalten und die Augen im Wind zusammenkneifen musste.

Zaras Spiel wurde lauter und lauter, bis es in einem hohen Triller endete. Der Mond spiegelte sich schimmernd als zerbrochene Scheibe im Meer, rings umher tanzten unzählige Sterne wie weiße Feuerpunkte auf dem schwarzen Wasser. Tania beugte sich weit über die Reling und betrachtete das schwarze Wasser, das der Bug gichtsprühend zerteilte.

»Sei gegrüßt, meine geliebte Schwester.«

Tania drehte sich um und sah Eden, deren schlohweißes Haar im Wind flatterte. Die tiefen Sorgenfalten im Gesicht ihrer Schwester schienen sich seit ihrem letzten Treffen etwas geglättet zu haben.

»Ich glaube, wir sind kurz davor, Titania zu finden«, erzählte Tania ihr.

»All meine Hoffnung ruht auf diesem Wiedersehen«, sagte Eden. Ihre Stimme klang ruhig, aber Tania wusste, dass von ihnen allen Eden diese Mission am meisten zu Herzen ging, denn sie selbst war es gewesen, die Titania durch das Pirolglas in die Welt der Sterblichen geschickt hatte.

Oberon stieg die Stufen zum Vorderdeck hinauf.

»Eden?«, rief er. »Sollen wir der Windseglerin Flügel verleihen?«

»Ja, Vater.« Eden drückte Tanias Arm und ging zum König hinüber.

»Was geht hier vor?«, fragte Tania Sancha. Das Schiff bewegte sich bereits mit geblähten Segeln in dem von Zara herbeigezauberten Wind.

Sancha lächelte. »Das wirst du gleich sehen.«

Oberon und Eden stellten sich nebeneinander in die Mitte des Decks, die Köpfe hoch erhoben. In ihren tiefblauen Augen spiegelte sich der Mond. Langsam und in vollkommenem Gleichklang hoben sie die Arme, die Handflächen nach oben gewandt, die Finger weit gespreizt.

Und noch während sie dies taten, vernahm Tania die Stimmen der beiden, die zu einem langsamen, faszinierenden Singsang verschmolzen:

Heil’ger Mond, reich gesegnet, viel geliebt,
Mond, der durch die finsterste Nacht wandert,
Mond der Reisenden, Mond der Träumer,
sternenbeschienener Herrscher der Zeit,
sing deine Lieder, die von Ewigkeit künden,
erträum dir die Straßen, die geradeaus führ’n!
Hör gut zu, sternenhell ruft die Stille übers Meer:
Weise uns den Weg nach Ynis Logri
s– zur Insel,
wo die Hoffnung nie schwindet.
Führ unsere Schritte in das Land, das niemals schläft.
Geleite uns zu dem Eiland,
wo Liebende sich für immer vereinen,
nach Ynis Logris, der Insel unserer Freude.

Tania war so gefesselt von dem feierlichen Gesang, dass sie erst nach einigen Minuten registrierte, wie sich das Deck unter ihren Füßen hob: Sie musste sich an der Reling festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Es war, als würde das Schiff auf einer riesigen, langsam rollenden Welle reiten– doch ganz bestimmt gab es keine Welle, die so hoch aufragte. Sicher würde bald der höchste Punkt erreicht sein, dem unausweichlich ein Sturz in die Tiefe folgen würde.

Die Lords und Ladys auf dem Unterdeck waren still geworden. Seeleute hingen Ausschau haltend in der Takelage.

Verwirrt blickte Tania über die Reling. Das Schiff erhob sich mit dem Bug voran aus dem Meer. Wasser strömte schäumend und wirbelnd an dem großen, silbernen Rumpf hinab, der sich höher und höher aufbäumte.

Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen klammerte sich Tania fest, als schließlich auch der Kiel aus dem Wasser herauskam. Tropfen perlten von den gebogenen Holzbalken, während das Schiff weiter und weiter gen Himmel stieg. Tania hörte überall »Ah’s« und »Oh’s«, als der Horizont unter ihr immer tiefer abfiel. Das sich entfernende Meer ähnelte jetzt einer schwarzen Fläche aus gehämmertem Eisen. Immer höher stieg die Galeone in den sternenübersäten Nachthimmel hinauf, bis das Schiff schließlich wendete und direkt auf den runden Mond zusteuerte. War dieser bereits zuvor riesengroß erschienen, so hatte er jetzt nahezu gigantische Ausmaße. Von Sekunde zu Sekunde wurde sein Licht heller. Starr vor Staunen, hielt sich Tania an der Reling fest, während der Mond wuchs, bis er den ganzen Himmel auszufüllen schien. Zu guter Letzt musste sie sich einen Arm vors Gesicht halten und die Augen schließen, so sehr blendete sie sein gleißendes Licht.

Wenige Augenblicke später erklang in ihrer Nähe Sanchas Stimme. »Wir sind angekommen.«

Tania öffnete die Augen. Der Mond war verschwunden und der Gesang verstummt.

»Was ist passiert?«, stieß Tania hervor. Sancha deutete nach hinten. Der Vollmond lag nun achteraus– noch immer unglaublich groß, aber nicht mehr ganz so hell. Eden und der König standen an der Reling. Oberon hatte seiner Tochter den Arm um die Schultern gelegt.

»Zara hat den Wind für unsere Segel herbeigeflötet, Eden und der König haben uns den Kurs gewiesen«, sagte Sancha. »Seht, unter uns liegt Ynis Logris.«

Das Schiff durchschnitt über den Wellen die Luft, mit vollen Segeln und leise knarzendem Rumpf. Weit unter ihnen auf dem dunklen Meeresbusen befand sich eine Insel, in der Mitte grüne Hügel, umgeben von einem weißen Sandgürtel. Drei Galeonen ankerten in einer flachen Bucht auf der dem Schiff zugewandten Seite der Insel. Kleine Ruderboote fuhren hin und her, brachten Festteilnehmer und Proviant zum Ufer. Etwas höher an dem weitläufigen Sandstrand waren Feuer entfacht worden, und als sich Tania über den Bug beugte, stieg ihr der angenehme Geruch von Holzrauch in die Nase.

Die Wolkenseglerin begann jetzt den Sinkflug und steuerte langsam in einem großen Bogen die Insel an. Das Schiff setzte so sanft auf den Wellen auf, dass Tania es gar nicht gemerkt hätte, wenn sie nicht mit wild klopfendem Herzen beobachtet hätte, wie der Kiel das Wasser zerteilte und die Gischt aufspritzen ließ.

Die Windseglerin machte neben den anderen drei Schiffen halt. Befehle erschollen, die Anker wurden ausgeworfen und die Segel eingerollt. Zu beiden Seiten des Schiffes wurden Ruderboote hinuntergelassen.

»Und jetzt?«, fragte Tania leise.

»Jetzt gehen wir an Land«, sagte Cordelia. »Die Feuer sind entfacht und für Unterhaltung ist ebenfalls gesorgt: Nun können die Festlichkeiten beginnen!« Noch während sie sprach, sauste etwas im Sturzflug aus dem Nachthimmel auf sie zu, Augenblicke später saß Windgleiter auf ihrem Unterarm.

»Fürwahr, mein Freund«, sagte Cordelia zu dem Vogel. »Du hast Recht. Es war eine lange Zeit der Trauer, seit wir das letzte Mal den Fuß auf den tanzenden Sand von Ynis Logris gesetzt haben. Aber heute Nacht wird alles anders werden.«

Eden kam über das Deck auf Tania zu. »Komm«, sagte sie und reichte ihr die Hand. »Unser Boot wartet schon.«

Die Festivitäten nahmen die ganze Länge des weißen Strandes ein. Tania wandelte begeistert unter den Feiernden hin und her– manchmal zusammen mit einer oder zweien ihrer Schwestern, manchmal allein– und sah zu, wie hochwohlgeborene Lords und Ladys sich neben Lakaien, Dienern und Stallburschen vergnügten. Küchenmägde tanzten mit Grafen. Eine Marquise sang ein Duett mit einem Gärtner, ein Stallbursche erzählte einer Prinzessin einen Witz. Für die Länge einer Nacht waren alle Elfen unter dem Mond der Reisenden gleich.

Neben den Feuerstellen waren Tische aufgestellt, beladen mit Krügen voll rubinroter, weißer und leuchtend gelber Fruchtsäfte sowie mit Schalen voller Obst und Leckereien: Honigkuchen, süße Torten, im Feuer geröstete Kastanien und Naschzeug, das mit Zuckerguss überzogen war.

Tania traf auf Hopie und ihren Ehemann Lord Brythus, und sie spazierten eine Weile gemeinsam am Meeresufer entlang, lauschten der Musik und dem Gelächter, die sich mit dem sanften Rauschen der Brandung mischten.

»Du hast gar nicht nach Rathina gefragt«, sagte Hopie und blieb stehen, wobei sie sich bei ihrem Mann untergehakt hielt. »Möchtest du nicht erfahren, wie es ihr erging?«

Tania blickte ihre Schwester verlegen an. »Ich habe gesehen, dass sie nicht hier ist«, sagte sie. »Ist sie okay?«

»Ist sie o…kay?«, wiederholte Hopie langsam, als müsse sie sich das sonderbare Wort auf der Zunge zergehen lassen. »Nein, liebe Tania, ich vermag nicht zu sagen, dass unsere Schwester okay ist.«

Tania erinnerte sich noch lebhaft an das letzte Mal, als sie Rathina im Lichtsaal gesehen hatte. In allerletzter Minute war Oberon erschienen, um Tania aus den Fängen von Lord Drake zu retten. Nachdem nämlich sein Plan fehlgeschlagen war, durch eine Verbindung mit Tania die Gabe des Weltenspringens zu erlangen, hätte er ihr beinahe etwas angetan. Rathina hatte daraufhin zugegeben, an seinen finsteren Machenschaften beteiligt gewesen zu sein, und ihre Liebe zu ihm gestanden.

Die letzten Worte, die sie an Tania gerichtet hatte, hatten sich tief ins Gedächtnis der Schwester eingebrannt: Ich hasse dich. Ich wünschte, du wärst tot. Keine gute Erinnerung an einen Menschen, den Tania bis dahin für ihre engste Freundin im Elfenreich gehalten hatte!

»Deine Schwester ist vor zwei Nächten aus dem Palast geflohen«, sagte Brythus. »Sie wurde von einem Stallburschen gesehen, wie sie ohne Reiseumhang oder Gepäck mitten in der Nacht Richtung Norden ins Hügelland ritt.«

»Vielleicht ist es das Beste, dass sie fort ist«, meinte Hopie ruhig. »Maddalena ist ein kluges Tier. Sie wird darauf achten, dass ihrer Herrin kein Leid geschieht. Und vielleicht vermag ein Aufenthalt in der Abgeschiedenheit Rathinas Sehnsucht nach Drake zu lindern.« Sie blickte zum fernen Horizont. »Das wünsche ich mir von Herzen«, fuhr sie fort. »Doch ich hege wenig Hoffnung, dass es so kommen wird. Das arme Kind war tief gekränkt und in einem Zustand geistiger Umnachtung, weil ihre Liebe nicht erwidert wurde.«

»Geistige Umnachtung?«

»Vom Wahn berührt«, erklärte Hopie. »Ich fürchte, selbst wenn der König sie unter Einsatz all seiner Zauberkräfte aufspüren würde, so wäre das Wesen, das zu uns zurückkehrte, nur die äußere Hülle unserer Schwester. Wir würden sie nicht wiedererkennen.«

Tania wandte sich ab. Es brach ihr fast das Herz bei dem Gedanken, dass ihre Schwester vereinsamt umherirrte, zerfressen von der Liebe zu einem Mann, der sie nur benutzt hatte und keinerlei Gefühle für sie hegte.

Nach ihrer Unterhaltung mit Hopie ging Tania eine Weile allein am Ufer spazieren. Die Erinnerung an Rathinas Verrat ließ sie noch immer nicht los.

»Nein!«, sagte sie zu sich. »Ich bin doch zum Vergnügen hier!« Sie drehte sich um und wollte gerade in den größten Trubel zurückkehren, als sie Zara und Cordelia über den Sand auf sich zukommen sah.

»Sei gegrüßt!«, rief Cordelia. »Aber warum spazierst du hier so allein herum?«

»Sie spielt die Rolle der trauernden Maid in der Ballade«, meinte Zara. »Erinnerst du dich an den Evensong, Tania?« Sie hob zu singen an.

Eines Abends im Dezember, als die Erde frostbedeckt,
da ging sie fiebernd am eisigen Strand.
Der Wind macht’ ihre Finger klamm
und ihr Haare knisterten von Reif.
Die Möwen umkreisten sie mit lautem Geschrei,
doch sie stand nur da und schaut’.

Tania lächelte. »Oh, sehe ich so erschöpft aus?«, fragte sie. »Tut mir leid. Ich habe gerade mit Hopie über Rathina gesprochen. Das ist mir wohl aufs Gemüt geschlagen.«

»Ja, der Verrat unserer Schwester wirft einen Schatten auf unser aller Herzen«, sagte Cordelia.

»Aber es ist nichts dadurch gewonnen, dass ihr betrübt seid«, warf Zara ein. »Das erlaube ich nicht, nicht in einer Nacht wie dieser. Wartet, ich werde euch aufheitern!« Sie zog ihre Flöte hervor, setzte sie an die Lippen und trat ins flache Wasser.

»Wo ist Windgleiter?«, fragte Tania Cordelia.

»Er ist fort ins Hügelland, auf der Jagd nach seinem Abendessen«, erwiderte sie. »Wenn er satt ist, wird er zurückkehren.«

Als das Wasser Zara schon bis zu den Knien reichte, blieb sie stehen. Ihr Kleid hing ihr in nassen Falten um die Beine. Die Melodie, die sie spielte, war völlig anders als alles, was Tania jemals gehört hatte. Tanzende Tonfolgen vereinigten sich zu schmelzenden, wiegenden Melodien, fielen von Zeit zu Zeit zu lang gezogenen, tiefen Passagen ab, die in Tanias Ohren nachhallten und sie erschaudern ließen.

»Sie spielt ein Meereslied«, erklärte Cordelia sanft.

Wenige Meter jenseits der Stelle, wo Zara stand, begann der Ozean auf einmal zu schäumen und zu brodeln. Plötzlich sprangen mehrere Fische in die Luft, Wassertropfen fielen wie Juwelen von ihren glitzernden Schuppen.

Ein größerer Umriss tauchte aus dem Wasser auf: ein Delfin. Seine glatten Flanken glänzten, als er mit der Schnauze voran wieder ins Wasser eintauchte.

Dann gesellten sich weitere Delfine zu dem wundersamen Wasserballett, sprangen im hohen Bogen aus den Wellen. Einer kreuzte die Bahn des anderen, einen Schweif funkelnder Wassertropfen hinter sich herziehend. Dann schlugen sie Saltos und verschwanden schließlich mit einem Schlag ihrer Schwanzflossen wieder im Wasser.

Im Uferbereich, wo das Wasser flacher wurde, tauchte nun langsam eine dunkle, scharf konturierte Gestalt aus den Wogen auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis Tania den kahlen kugelförmigen Kopf und den glatten grünen Panzer einer Riesenschildkröte erkannte, die von kräftigen Delfinen durch die Brandung an Land gezogen wurde.

Cordelia, die neben Tania stand, schien auf einmal angespannt. »Dieser altehrwürdige Herr ist in der Tat ein seltener Gast an diesen Gestaden, besonders zu dieser Jahreszeit«, murmelte sie. »Vielleicht bringt er uns Neuigkeiten.« Sie kauerte sich vor dem Wesen in den Sand und legte die Hand auf seinen Kopf. Während es so zwischen den plätschernden Wellen lag, sprach sie leise mit ihm.

Schließlich beendete Zara ihr Flötenspiel und trat wieder aus dem Wasser, die Flöte in der einen Hand, den nassen Saum ihres Kleides in der anderen. Fische und Delfine waren verschwunden. Die Riesenschildkröte wandte sich mühevoll um und kroch zurück in die schäumende See. Cordelia gesellte sich schließlich mit nachdenklichem Gesicht zu Zara und Tania.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Tania.

»Ich weiß es nicht«, sagte Cordelia. »Der Meereswandler erzählte mir, dass er sich oft jenseits der Felsenküste von Dinsel aufhalte und in den Gewässern, die zwischen unserem Reich und der finsteren Insel Lyonesse liegen.«

»Oh lasst uns nicht von diesem Ort sprechen!«, bat Zara. »Nicht heute Nacht!«

»Was ist denn damit?«, wollte Tania wissen.

»Er sagte, dass er in den Ruinen der Königsfestung Bale Fole Licht gesehen hat«, erwiderte Cordelia. »Licht, wo eigentlich keines sein dürfte.«

»Vermutlich waren es leuchtende Kürbisse oder Sumpfkobolde«, sagte Zara mit einem Schaudern. »Es ist bereits Tausende von Jahren her, dass sich der König von Lyonesse und seine Grauen Ritter an diesem düstren Ort das letzte Mal zu Unheil verschworen haben. Solange unser Vater im Elfenreich regiert, brauchen wir keine Angst zu haben.« Sie fasste Tania am Arm. »Ich habe großen Durst, nachdem ich solch salzige Lieder gespielt habe. Kommt, lasst uns essen und trinken und lustig sein. Noch ist die Nacht jung und bis morgen Früh wollen wir noch viel erleben.«

Tania sah sie an. »Morgen Früh?«, fragte sie. »Zara, ich kann nicht so lange bleiben. Ich bekomme große Schwierigkeiten, wenn meine Eltern merken, dass ich nicht in meinem Zimmer bin.«

»Ach pfui!«, rief Zara. »Das soll uns keine Sorgen machen. Eden wird einen Kometen für dich rufen, wenn es an der Zeit ist. Du wirst so hoch am Himmel reiten, dass die Sterne dich auf dem Rückweg in die Welt der Sterblichen streifen, und keiner der Schlafenden wird jemals von deiner Reise erfahren.«

Von Zaras Zuversicht angesteckt, tanzte und sang Tania und vergnügte sich nach Herzenslust. Nur am Rande nahm sie wahr, wie der riesige Mond am Elfenhimmel langsam zu schwinden begann. Erst als Tania die große weiße Scheibe hinter dem Hügel untergehen sah, wurde ihr bewusst, wie viel Zeit vergangen sein musste.

Rasch machte sie sich auf, um Eden zu finden. Ihre weise Schwester saß auf einem Teppich im Sand. Mehrere Lords und Ladys waren bei ihr, alle redeten in gedämpftem, aber eindringlichem Ton.

Bei Tanias Anblick erhob sich Eden.

»Wovon habt ihr gerade gesprochen?«, fragte Tania. »Ihr saht so ernst aus.«

»Cordelia erzählte uns, dass Licht in der Festung von Bale Fole auf Lyonesse gesehen wurde«, antwortete Eden. »Wir fragen uns, welche Ursachen es dafür geben könnte. Die schwarze Festung war lange Zeit verlassen– es wäre grauenvoll, wenn das Unheil dort je wieder Einzug halten sollte.«

»Aber ist der König von Lyonesse nicht immer noch im Verlies unter dem Elfenpalast gefangen?« Vor ihrem inneren Auge sah Tania die verstaubten, trüben Bernsteinkugeln entlang der Gänge. An ihnen war sie vorbeigekommen, als sie zu Edrics Befreiung geeilt war, damals als Drake ihn in seiner Gewalt gehabt hatte. In jeder dieser Kugeln steckte ein Feind des Elfenreiches, der bei lebendigem Leib in den Stein eingeschlossen worden war.

»Ja, auf dass er dort bleibe bis in alle Ewigkeit«, sagte Eden. »Denn in den Großen Kriegen hätte er uns fast ausgelöscht und nur die vereinten Streitmächte von Oberon und Titania konnten ihn besiegen. Doch als Bale Fole zerstört und die Macht des Hexenkönigs gebrochen war, blieb seine Königin, die niederträchtige Lady Lamia, spurlos verschwunden. Man hoffte, sie sei geflohen, da sie ohne ihren Lord keine Macht mehr besaß. Doch ihre Rückkehr ist möglich und sie würde sicher versuchen, uns Böses zu tun.« Sie lächelte bitter. »Aber genug von solchen Reden. Das Licht in Bale Fole bedeutet höchstwahrscheinlich gar nichts. Tania, wünschst du, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren?«

»Ja. Zara meinte, du könntest mir vielleicht helfen, indem du mir einen Kometen herbeirufst, auf dem ich nach Hause reiten kann.«

Eden lachte. »Ach, Zara übertreibt meine Fähigkeiten stets maßlos! Aber ich werde für dich tun, was ich kann. Nun sag Freunden und Familie Lebewohl, dann komm ans Ufer, bis dahin habe ich eine Reisemöglichkeit aufgetan.«

Das kleine, schmale Boot hatte einen einzelnen, spiralförmig gewundenen Mast, der wie das Horn eines Schwertfisches aussah, und ein breites dreieckiges Segel aus einem halb durchsichtigen Stoff, der wie Korallen leuchtete. Das Innere des Rumpfes hatte einen seidenen, perlmuttfarbenen Schimmer, die äußeren Seiten waren geriffelt wie bei einer Muschel. Es war gerade genug Platz darin für die beiden Mädchen. Tania konnte vorne sitzen, mit dem Rücken zum Bug, und Eden hinten, die Hand am Ruder.

Eden blickte zur Mastspitze hinauf. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Nur wenige Augenblicke später bauschte ein Wind die Segel und das kleine Schiff entfernte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit von der Insel.

Das Boot bewegte sich so geschmeidig, dass Tania sich fragte, ob es überhaupt das Wasser berührte– aber die feine Gischt, die ihr ins Gesicht spritzte und in ihrem Haar glitzerte, ließ keinen Zweifel daran.

Binnen weniger Sekunden schrumpfte die Insel zu einem hellen Punkt, bis sie schließlich gar nicht mehr zu sehen war, und Tania befand sich mit ihrer Schwester allein auf hoher See.

»Kannst du sprechen oder musst du dich konzentrieren?«

»Einmal gerufen, tun die Geister alles unaufgefordert«, erklärte Eden. »Ich habe den Eindruck, dich bedrückt etwas.«

Tania nickte. »Ich hatte einen Traum«, gab sie zu. »Darin kam Drake vor.«

Sie beschrieb, was sie gesehen hatte: den peitschenden Regen, das fürchterliche Gewitter, die rasiermesserscharfen Felsen, die Bestie, die Edric und ihr auf den Fersen war, während sie Hand in Hand um ihr Leben liefen– und wie sich Edric dann in Gabriel Drake verwandelt hatte.

Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!

»Ich frage mich, ob er die Wahrheit gesagt hat«, meinte Tania nachdenklich. »Und wo war ich im Traum?«

»Auf der Insel Maw«, sagte Eden und in ihrer Stimme schwang ein Schaudern mit. »Ynis Maw liegt öde und verlassen ganz im Norden des Elfenreichs im Meer, noch hinter der rauen, stürmischen Küste von Prydein. Ich kenne sie nur aus Büchern und Erzählungen. Man nennt sie auch die ›Insel ohne Wiederkehr‹ oder die ›Insel des letzten Abschieds‹.« Sie lächelte bitter. »Aber fürchte dich nicht vor Drake, liebste Schwester. Aus diesem Exil kommt keiner zurück, jedenfalls nicht, solange Oberon die Elfenkrone trägt.«

»Aber könnte Drake… könnte er mich mit bloßer Willenskraft dorthin entführen?«

Eden runzelte nachdenklich die Stirn. »Hab keine Angst vor den Zauberkünsten des Erzverräters. Er sitzt auf der Insel fest und vermag kaum mehr, als deine Träume zu stören– es sei denn, in der Welt der Sterblichen gäbe es jemanden, der ihm hilft, jemanden mit der Gabe, eine Brücke zwischen den Welten zu bauen. Ich hörte, dass es solche Leute in der Welt der Sterblichen gibt, aber es sind wenige, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass du auf einen solchen Menschen triffst.« Sie blickte Tania an. »Die Vereinigung der Hände, das alte Hochzeitsritual, hat eine gewisse Macht, das ist wohl wahr, dennoch musst du dich nicht sorgen. Die Verbindung zwischen euch hat nicht die Kraft, dich zu ihm oder ihn zu dir zu ziehen.« Sie beugte sich vor und berührte mit den Fingerspitzen Tanias Stirn.

Sie fühlte Gelassenheit in ihre Seele strömen, wie kühler Wolkendunst oder ein sanfter Sommerregen.

»Möge die Berührung deiner Schwester den Verräter aus deinen Gedanken verbannen, so wie Oberon ihn aus dem Elfenreich verbannt hat«, murmelte Eden. Sie blickte über Tanias Schulter. »Unsere Reise ist gleich zu Ende. Wir sind an der Mündung des Flusses Tamesis. Siehst du die Lichter des Königspalastes? Wir werden am östlichsten Steg von Fortrenn-Quay anlegen und eine Kutsche nach Bonwn Tyr nehmen– zum braunen Turm auf dem Grashügel.«

Tania wandte den Kopf. Sie sausten über das Wasser auf ein großes dunkles Stück Land zu, das von einer Flussmündung in zwei Hälften geteilt wurde. Eden hatte Recht: Es war die Tamesis und am Nordufer der Mündung konnte Tania die flackernden Lichter des Königspalastes sehen. Schon bald würde sie zu Hause sein.

Die Pferdekutsche blieb am braunen Turm stehen. Tania hatte zwischendurch kurz in ihrem Schlafgemach haltgemacht, um wieder ihre Alltagskleider anzuziehen, und dann hatte Eden sie nach Bonwn Tyr gefahren.

»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Tania.

»Das letzte Viertel der Nacht ist angebrochen«, sagte Eden.

»Ich hatte auf eine etwas konkretere Antwort gehofft– so etwas wie halb drei oder so.«

»Immer wieder kommt dein sterblicher Teil zum Vorschein, um Verwirrung in deinem lieben Herzen zu stiften«, sagte Eden zärtlich. »Wir zählen die Augenblicke nicht so wie die Sterblichen. Denk an deine Elfenseele, Tania! Lass dich nicht durch die Zeit beherrschen.«

Tania seufzte. »Ein schöner Gedanke, aber im Moment nicht umzusetzen.« Sie gab ihrer Schwester einen Abschiedskuss und stieg aus der Kutsche. »Ich komme so bald wie möglich zurück«, versprach sie. »Und mit etwas Glück ist dann Titania bei mir!«

»Leb wohl, liebe Tania. Mögen die Engel der Barmherzigkeit jeden deiner Schritte bewachen, sowohl im Elfenreich als auch in der gefahrvollen Welt der Sterblichen mit ihren dunklen Pfaden.«

Tania sah von der Tür aus zu, wie Eden ganz leicht mit den Zügeln schnippte und die Pferde zwischen den Espenbäumen davontrabten.

Tania betrat den Turm und schloss die Tür hinter sich. Da der Mond bereits sehr niedrig stand, war die Wendeltreppe dunkel, und sie musste sich langsam nach oben tasten, da sie die Stufen nicht sehen konnte. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick aus dem schmalen Fenster, dann kehrte sie der Elfennacht den Rücken zu. Sie konzentrierte sich in Gedanken auf ihr Zuhause in Camden, holte tief Luft und vollführte wie schon so oft den Seitwärtsschritt zwischen den Welten.

Unter ihren Füßen befand sich auf einmal wieder Teppich, kein Holzboden. Das Rascheln der Baumkronen war verstummt. Ihr Zimmer lag in tiefer Dunkelheit. Sie ging auf Zehenspitzen zu ihrem Bett und schaute auf die rote Leuchtanzeige ihres Weckers. 03Uhr52. Kein Wunder, dass sie so müde war!

So leise wie möglich ertastete sie sich ihren Weg und zog sich den Schlafanzug an. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und überlegte, ob sie es wagen sollte, ins Badezimmer zu gehen, um sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Vorderzähne. Ja, die mussten dringend geputzt werden. Sie stand auf und schlich zur Tür.

Gerade wollte sie nach der Türklinke greifen, als diese heruntergedrückt wurde und die Tür aufging.

Erschrocken keuchte Tania auf und zog blitzschnell die Hand zurück.

Die Tür öffnete sich etwas weiter und in dem Spalt erkannte Tania das Gesicht ihres Vaters.

»Dad! Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Was ist denn?«

Ihr Vater blickte sie ernst an. »Du bist also wieder da. Würdest du mir bitte erklären, wo du die ganze Nacht gesteckt hast?«

Tania starrte ihren Vater bestürzt an.

»Wo bist du gewesen, Anita?«, hakte er nach.

»Auf einer Party«, sagte sie und ihre Stimme klang fast gespenstisch im Stockdunkeln. »Weiß Mum, dass ich weg war?«

»Nein.«

»Wirst du’s ihr sagen?«

Eine scheinbar endlose Pause folgte. »Nein«, sagte er schließlich und trotz der peinlichen Situation verspürte Tania Erleichterung. »Ich bin im Moment zu wütend, um mit dir darüber zu reden«, sagte er. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich bin.«

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Geh jetzt ins Bett.«

Behutsam schloss er die Tür. Sie stand noch eine Zeit lang da und lauschte seinen leisen Schritten im Flur. Dann schloss sich die Schlafzimmertür ihrer Eltern mit einem Klicken.

Tania ging zu ihrem Bett hinüber und setzte sich auf den Rand, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen. Wie gern hätte sie geweint, und sei es nur, um die Spannung zu lösen. Doch es wollten keine Tränen kommen, die den Schmerz fortwuschen.

Sie hasste es zu lügen. Es war schrecklich, dass sie ihren Vater in dem Glauben lassen musste, sie wäre ungehorsam, während sie in Wahrheit alles tat, um die beiden Seiten ihres Wesens zu versöhnen. Sie konnte nicht erwarten, dass ihre Eltern verstanden, wer sie wirklich war, aber hieß das, dass sie ihnen gegenüber niemals aufrichtig sein konnte?

Würde sie sie für den Rest ihres Lebens belügen müssen?