I

Camden, im Norden Londons

Lautes Gehupe zerriss die frühmorgendliche Stille auf Londons Straßen– drei kurze Töne, gefolgt von einem anerkennenden Pfiff des Autofahrers.

Prinzessin Tania, siebte Tochter von Oberon und Titania, den Herrschern des Immerwährenden Elfenreiches, blickte in die Richtung, aus der der Pfiff gekommen war. Ein Taxifahrer lehnte sich halb aus dem Fenster seines Wagens und grinste Tania und ihren Begleiter im Vorüberfahren an.

Tania lachte. Das Aufsehen, das sie und Edric erregten, störte sie nicht– im Gegenteil, sie fand es sogar ziemlich witzig; und der Taxifahrer war nicht der Erste, der so begeistert auf ihre seltsame Kostümierung reagiert hatte. Auf ihrem Fußmarsch von Hampton Court im Südwesten Londons nach Camden im Norden der Stadt waren Tania und Edric bereits mehrfach neugierigen Blicken ausgesetzt gewesen.

Tania wunderte sich nicht über diese Reaktionen: Ihre reich verzierten Kleider hätten perfekt an den elisabethanischen Hof gepasst, aber im London des 21.Jahrhunderts waren sie natürlich völlig fehl am Platz. Tania trug ein langärmeliges olivgrünes Samtkleid mit Reifrock sowie bestickten grasgrünen und rostroten Besätzen. Edrics Kleidung war ebenso altmodisch: ein dunkelgraues Wams mit geschlitzten Puffärmeln, unter denen feine, perlweiße Seide hervorschaute, und eine mit schwarzem Brokat gesäumte Kniehose.

Edric lächelte. »Der denkt wahrscheinlich, wir waren die ganze Nacht auf einer Kostümparty.«

»Ja, vermutlich«, stimmte Tania zu. »Eins ist jedenfalls sicher: Die Wahrheit errät er nie.« Sie hielt inne und blickte in Edrics große kastanienbraune Augen. In seine dunkelblonden Haare fuhr der Wind, sodass ihm einzelne Strähnen ins Gesicht wehten. Es war das lächelnde Gesicht des Jungen, den sie liebte. Er war siebzehn und hieß Evan Thomas, war aber eigentlich jemand ganz anders– genau wie sie selbst nicht das Mädchen war, für das sie sich immer gehalten hatte.

Noch bis vor drei Tagen war sie Anita Palmer gewesen, ein ganz normales Mädchen kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Da hatte sie noch nichts von der Zauberwelt der Elfen gewusst. Sie schmunzelte– damals hatte sie nur halb gelebt.

Noch vor drei Tagen war sie in einen Jungen namens Evan verliebt gewesen, aber jetzt kannte sie seine wahre Identität: Er war Edric Chanticleer, ein junger Höfling im Palast des Elfenreichs.

Das laute Klappern von Absätzen auf dem Bürgersteig riss Tania aus den Gedanken. Eine Frau kam ihnen entgegen und starrte sie mit amüsiert-neugierigem Blick an.

»Hallo«, sagte Edric. »Wir kommen gerade aus dem Immerwährenden Elfenreich.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf Tania. »Sie ist eine Prinzessin.«

»Ach ja?«, sagte die Frau, während sie an den beiden vorbeiging. »Wie schön für sie. Also, ihr bringt auf jeden Fall Farbe in die Gegend.«

»Vielen Dank«, rief Tania der Frau hinterher, als diese um die nächste Ecke bog.

Edric grinste. »Na, siehst du? Die Leute können sehr wohl die Wahrheit vertragen.«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Ja, solange sie glauben, dass es nur Spaß ist«, sagte sie. »Bei meinen Eltern wird das aber nicht klappen.«

Edric wurde ernst. »Nein«, antwortete er. »Das ist mir auch klar.«

Tania blickte an sich herunter. »So kann ich zu Hause jedenfalls nicht aufkreuzen«, sagte sie. »Es ist schon schwierig genug, alles zu erklären, auch ohne diese Kleider.« Sie war drei Tage nicht in der Welt der Sterblichen gewesen, seit sie und Edric nach dem Bootsunglück aus dem Krankenhaus verschwunden waren– drei Tage und Nächte, in denen ihre Eltern bestimmt schon das Schlimmste befürchtet hatten. Tania musste so schnell wie möglich heim, damit sie wussten, dass es ihr gut ging– aber nicht in ihren Elfengewändern.

Edric blickte rechts und links die Straße hinunter. »Die Geschäfte sind noch nicht geöffnet«, sagte er. »Es ist bestimmt erst kurz nach sieben. Aber selbst wenn die Läden offen wären, hätten wir überhaupt kein Geld, um uns Kleidung zu kaufen.«

Tania dachte stirnrunzelnd nach. »Nicht weit von hier gibt es einen Laden von der Kleidersammlung.«

»Der ist aber sicher auch noch nicht offen.«

»Macht nichts.« Sie nahm Edrics Hand. »Komm, ich weiß, wo wir vielleicht was zum Anziehen finden können.«

St Crispin’s Hospice Shop, Camden

Im Schaufenster des Ladens lag ein kunterbuntes Sammelsurium von Büchern und Schallplatten bis hin zu Puppen, Spielsachen und Nippes. Innendrin erspähte Tania Kleiderregale und ein Fach, das nichts außer zusammengefalteten Häkeldecken zu enthalten schien.

»Wie ich gesagt habe«, bemerkte Edric, der durch das Schaufensterglas spähte. »Geschlossen.«

»Macht nichts«, sagte Tania. »Komm mit.« Sie führte ihn an der Hand zu einer schmalen Gasse neben dem Haus. Nach ungefähr drei Metern war in der Wand eine Tür eingelassen und davor stapelten sich Plastikbeutel, Kartons und Mülltüten.

»Hier legen die Leute ihre Sachen ab, wenn der Laden geschlossen hat«, erklärte Tania. »Mit etwas Glück finden wir ein paar Kleider, die wir gebrauchen können. Wir können eine Art Tauschhandel machen.«

Edric ging in die Hocke, öffnete den Beutel vor sich und zog einen knallgrün-violetten Strickpulli heraus. »Na, was meinst du? Soll ich den mal anprobieren?«

»Nur über meine Leiche.« Sie kniete sich neben ihn und knotete die Schnur eines anderen Beutels auf, in der Hoffnung, darin vielleicht etwas Tragbareres zu finden als den violett-grünen Pulli.

»Okay, kannst wieder gucken«, sagte Tania. Sie hatte sich in der flachen Nische des eingelassenen Türrahmens umgezogen, während Edric mit dem Rücken zu ihr stand und sie vor den Blicken der Passanten, die an der Gasse vorübergingen, abschirmte.

Er trug bereits normale Alltagskleidung: ein hellblaues Hemd und eine Bluejeans, die ihm zwei Nummern zu groß war und nur durch einen schwarzen Ledergürtel gehalten wurde.

Tania trat hervor. »Sieht das okay aus?« Ihr Outfit war zwar nicht ideal, aber immerhin hatte sie ein pinkfarbenes T-Shirt und einen wadenlangen braunen Jeansrock gefunden. Ihre roten samtenen Elfenschuhe hatte sie zugunsten weißer Turnschuhe ausrangiert, die einigermaßen passten.

Edric lächelte. »Ganz bezaubernd.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Na, wenn du das sagst«, meinte sie. Sie ging in die Hocke und schob ihr sorgfältig gefaltetes Elfenkleid in einen der Beutel. »Schließlich klauen wir ja nichts«, sagte sie. »Es ist eher ein Tausch.« Sie blickte zu ihm hoch. »Stell dir vor, was die für Gesichter machen werden, wenn sie das hier entdecken.«

Edric reichte ihr seine Hand und sie ließ sich von ihm aufhelfen.

»Hier, die wirst du brauchen«, sagte sie und öffnete die Hand, in der zwei flache, ovale Steine lagen. Die hatte sie aus dem Elfenreich mitgebracht.

In der fahlen Morgensonne blitzten die beiden schwarzen Bernsteine; dieses Mineral war das Wertvollste im ganzen Elfenreich.

Edric nahm einen Stein entgegen. »Vergiss nicht«, schärfte er ihr ein. »Du bist jetzt genauso verwundbar durch Isenmort wie ich. Daher musst du den Stein immer bei dir tragen.«

»Ja, das weiß ich.«

Bereits mehrere Wochen vor ihrer Ankunft im Elfenreich hatte Tania beim Kontakt mit sämtlichen Gegenständen aus Metall elektrische Schläge bekommen. Während ihre Elfenseele langsam erwachte, war sie zunehmend empfindlich gegen Metall geworden, die tödliche Substanz, die im Elfenreich Isenmort genannt wird. Zum Schutz hatte ihr König Oberon deshalb die beiden schwarzen Bernstein-Stücke mitgegeben– wenn sie den Halbedelstein nicht am Körper trug, konnte die Berührung von Metall für sie tödlich sein. Tania ließ ihren Stein behutsam in die Rocktasche gleiten.

»Du hast noch gar nicht gesagt, wie du mich in diesen Kleidern findest«, bemerkte Edric. »Bin ich schick genug, um deinen Eltern gegenüberzutreten?«

Sie zupfte an seinem Kragen und strich die Hemdfalten glatt. »Du siehst gut aus«, sagte sie. »Aber trotzdem kannst du nicht mitkommen.«

Edric runzelte die Stirn. »Ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen.«

»Doch«, sagte sie resolut. Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Hör mal«, fuhr sie fort. »Meine Eltern werden dir für alles die Schuld in die Schuhe schieben, egal was ich sage. Ich muss mit ihnen allein sprechen– das ist im Moment die beste Lösung. Wenn du mitkommst, macht das alles nur schlimmer.«

Edric sah sie ein paar Minuten wortlos an. Dann nickte er. »Vielleicht hast du Recht«, sagte er. »Aber wir haben noch gar nicht besprochen, was du ihnen erzählen sollst.«

»Ich wünschte, ich könnte ihnen einfach die Wahrheit erzählen«, sagte Tania. »Aber das geht gar nicht. Dann denken sie, ich sei völlig durchgedreht.«

»Darum müssen wir ein paar plausible Gründe parat haben, warum du aus dem Krankenhaus verschwunden und wo du gewesen bist.«

»Ich kann überhaupt nicht gut lügen«, gab sie zu. »Wenn wir uns etwas ausdenken, muss es hieb- und stichfest sein, sonst hat Mum das in null Komma nichts raus.«

»Okay«, sagte Edric. »Also was Einfaches und Überzeugendes. Du hast ihnen doch schon erzählt, dass ich aus Wales stamme, oder?«

»Ja«, sagte Tania. »Und damals dachte ich ja, dass es stimmt. Es klang absolut glaubhaft: Du bist mit deinem Stiefvater nicht so gut ausgekommen, deshalb bist du von dort weggegangen und nach London gezogen.«

»Du kannst ihnen doch sagen, dass du nach Wales gefahren bist, um mich zu suchen, nachdem ich aus dem Krankenhaus verschwunden bin«, schlug Edric vor.

Tania nickte. »Ja, Wales ist gut. Es dauert ziemlich lange, um hin- und wieder zurückzufahren. Aber wir brauchen einen konkreten Ortsnamen.« Sie zermarterte sich das Gehirn– sie selbst war nie in Wales gewesen, aber ein Mitschüler kam aus einer Stadt im Nordwesten des Landes, aus einer kleinen Küstenstadt in Snowdonia. Wie hieß das Örtchen noch mal? »Criccieth!«, sagte sie plötzlich laut. »Genau. Es liegt ganz im Norden von Wales. Um dahin zu fahren, hätte ich bestimmt ein paar Tage gebraucht. Ich werde ihnen sagen, dass ich nicht mehr klar denken konnte, dass ich völlig außer mir war vor Sorge nach deinem Verschwinden. Ich bin nach Criccieth gefahren und hab dich dann in deinem Elternhaus aufgespürt.«

»Sag ihnen, ich sei ausgetickt, weil ich dachte, man würde mich wegen des Bootsunfalls polizeilich verfolgen«, schlug Edric vor. »Aber du hättest mich überredet, nach London zurückzugehen.«

»Ja.«

Er sah sie besorgt an. »Bist du dir auch ganz sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Vertrau mir, es ist besser so. Du kannst mich begleiten, bis wir in meiner Straße angekommen sind, aber dann solltest du ins Hostel gehen. Lass dein Handy an, ich ruf dich an, sobald ich kann.« Sie nahm seine Hand. »Gehen wir.«

An der Ecke Lessingham Street/Eddison Terrace blieben Tania und Edric stehen. In der Eddison Terrace Nummer 18, ganz am Ende der langen Straße, wohnte Anita Palmer mit ihren Eltern.

»Ich will dich jetzt aber nicht allein lassen«, sagte Edric und hielt ihre Hände fest.

»Es ist doch nur für kurze Zeit«, beschwichtigte Tania. »Wir telefonieren nachher.« Sie runzelte die Stirn. »Welchen Tag haben wir heute eigentlich?«

Edric überlegte kurz. »Donnerstag.«

»Dann sehen wir uns morgen in der Schule«, sagte sie. »Drück mir die Daumen, dass alles gut läuft.«

»Mache ich.« Er sah ihr ins Gesicht. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch. Aber jetzt geh bitte.«

Er setzte sich in Bewegung.

»Willst du mir denn gar keinen Abschiedskuss geben?«, rief sie ihm hinterher.

Er kam sofort zurück und sie lagen sich in den Armen. Und dann– viel zu schnell– stand sie allein im Morgenlicht an der Straßenecke und blickte ihm nach.

Er wandte sich noch einmal um und winkte. Sie hob die Hand und winkte zurück. Sie beobachtete, wie er mit den Lippen die Worte formte: »Ich liebe dich.«

Ich dich auch, antwortete sie stumm.

Und dann war er verschwunden.

Sie ging weiter die Straße entlang. Als plötzlich zwischen zwei Gebäuden die Sonnenstrahlen hervorkamen, rutschte Tanias Schatten zur Seite. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und hüllte sie in die Wärme des frühen Sommermorgens.

War alles, was sie im Elfenreich gesehen und getan hatte, nur ein Traum gewesen? Ihr Vater, der König. Ihre sechs Schwestern. Die sorglose Zara, die ernste Sancha, Cordelia die Tierfreundin, Hopie mit dem strengen Blick und den heilenden Händen, Eden, ihre unglückliche älteste Schwester, die sich die Schuld am Tod ihrer Mutter gab, und die arme irregeleitete Rathina, die fürchterliche Dinge getan hatte, um das Herz von Gabriel Drake zu erobern, obwohl er ihre Liebe nie erwidert hatte.

Wahr oder nicht?

Sie ging die Straße hinunter, die sie von Kindheit an kannte, und blickte erstaunt auf all die fremden und doch vertrauten Gebäude. Während sie sich langsam dem Haus näherte, das immer ihr Heim gewesen war, wurde ihr einmal mehr bewusst, dass sie nicht mehr das Mädchen von früher war.

Mit zitternder Hand drückte Tania auf die Klingel. Es kam ihr seltsam vor, an ihrer eigenen Haustür zu läuten, aber die Hausschlüssel gehörten nun mal ihrem alten Leben an– das Leben, das in den vergangenen drei Tagen immer mehr von ihr abgeblättert war.

Sie durchlebte ein Wechselbad der Gefühle: Sie empfand reine, ungetrübte Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihren Eltern, aber auch Sorge, wie sie wohl reagieren würden. Sie hatte Angst, dass nichts mehr in ihrem Leben so sein würde wie früher, war aber auch glücklich über ihre neue Identität als Elfenprinzessin. Dann gab es da noch die überwältigend starke Liebe zu Edric und die Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Erinnerungen ans Elfenreich– Erinnerungen an diese Welt; alles wirbelte durcheinander, während sie unter dem Vordach stand und darauf wartete, dass die Tür aufging.

Ein Teil von ihr wollte wegrennen und sich irgendwo verkriechen– aber ein anderer Teil ließ sie dort verharren.

Durch die Glasscheibe in der Tür sah sie, wie sich jemand näherte. Ihre Schläfen pochten.

Nur Mut! Nur Mut! Nur Mut!

Die Tür ging auf und sie blickte in das vertraute rundliche Gesicht ihres Vaters mit den gutmütigen Augen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, seine Haut war grau, und er sah unglücklich und verzweifelt aus.

Tanias Mund war wie ausgetrocknet. Sie schluckte schwer und versuchte etwas zu sagen. »Dad…?«

Seine Augen begannen zu leuchten, er stieß einen stummen Schrei aus, und ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er riss die Tür weiter auf und umarmte sie so fest, dass sie kaum Luft bekam.

Sie schloss die Augen, legte die Arme um ihn und drückte sich an ihn. Sie spürte seine Bartstoppeln an ihrer Wange, roch seinen vertrauten Seifengeruch, begrub ihr Gesicht im Kragen seines Bademantels.

Tania hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, während sie so auf der Türschwelle standen.

Schließlich zog er sie ins Haus und schloss hinter ihr die Tür.

»Mary!«, rief er mit zitternder Stimme. »Sie ist wieder da!«

Tania versuchte zu sprechen, wollte sich entschuldigen, alles erklären, aber sie brachte kein Wort heraus.

Ihr Vater ging mit ihr durch den Flur. Oben auf der Treppe tauchte ihre Mutter auf und klammerte sich ans Treppengeländer. Tania konnte ihr Gesicht durch den Tränenschleier nur als verschwommenen weißen Fleck erkennen. Die Beine ihrer Mutter gaben nach und sie ließ sich auf die oberste Stufe sinken. Ihr schlanker Körper war in einen alten blauen Bademantel gehüllt.

Tania stolperte die Stufen hoch, ließ sich vor ihrer Mutter auf die Knie fallen und begrub das Gesicht in ihrem Schoß. Mit zitternden Händen strich ihr die Mutter übers Haar.

»Oh, Anita!« Ihre Stimme klang brüchig. »Wo warst du? Wo bist du nur gewesen?«

Tania saß am Küchentisch. Ihre Augen brannten vom Weinen, ihre Brust schmerzte und sie fühlte sich etwas benommen. Sie hatte den Eindruck, als schwebte sie in einer Glaskugel umher und als würde alles, was um sie herum geschah, jemand anderem passieren. Endlose Fragen stürmten auf sie ein, und sie hörte, wie eine Stimme, die wie ihre eigene klang, stockend Auskunft gab.

Ihr Vater machte Rühreier und der Duft von frischem Toastbrot erfüllte die Küche.

Ihre Mutter saß ihr gegenüber, die verschränkten Arme auf dem Tisch, und betrachtete sie verwirrt.

Tania fand es noch schwieriger als erwartet, den Fragen ihrer Eltern zu begegnen. Es widerstrebte ihr zutiefst, sie anzulügen. Sie wusste, was sie sagen musste, aber sie fand es unerträglich, ihnen die erfundene Geschichte von der Reise nach Wales aufzutischen. Ihr Kopf dröhnte von der Anstrengung, die es ihr bereitete, die ganze Zeit Edrics Menschennamen Evan zu benutzen.

»Du hättest uns wenigstens einen Zettel schreiben können«, sagte ihre Mutter. »Oder uns anrufen… irgendwas.«

»Ich weiß«, sagte Tania leise, während ihr der Schädel brummte. »Ich konnte nicht mehr klar denken. Mein einziger Gedanke war, dass ich Evan finden muss.«

»Aber wie hast du das alles geschafft?«, fragte ihr Vater. »Wie bist du überhaupt bis nach Nordwales gekommen? Das sind immerhin zweihundert Meilen.«

»Da fahren viele Züge hin«, murmelte Tania.

»Bist du von der Paddington Station abgefahren?«, fragte ihr Vater.

Tania nickte.

»Wie hast du die Fahrkarte bezahlt?«

»Ich hatte etwas Geld dabei.«

Ihr Vater stellte ihr einen Teller mit Rührei und Toast hin.

»Und wie ging’s dann weiter, als du in Wales angekommen warst?«, wollte ihre Mutter wissen.

Tania nahm die Gabel zur Hand und führte mechanisch einen Bissen Rührei zum Mund. Eigentlich hatte sie keinen Hunger, aber das Essen unterbrach das Gespräch und so hatte sie die Chance, ihre Gedanken zu ordnen.

Es war furchtbar, dass ihre Eltern ihr die Geschichte so einfach abkauften. Aber wieso auch nicht? Sie liebten sie und vertrauten ihr

»Ich hatte eine Adresse«, sagte sie, den Blick auf den Teller geheftet. Ihre Hände waren mit Messer und Gabel beschäftigt, zerschnitten den Toast in kleine Stücke. »Außerdem haben mir alle möglichen Leute geholfen. Ich bin dann in einen anderen Zug umgestiegen.« Lügen! Lügen! Lügen! »Ich kann mich nicht mehr genau an alles erinnern.«

»Wo hast du geschlafen?«, fragte ihr Vater. »Was hast du gegessen?«

»Ich hab in Bahnhöfen übernachtet«, antwortete Tania. »Und fürs Essen hat mein Geld noch gereicht.«

»Wo hast du diese Kleidung her?«, wollte ihre Mutter wissen. »Wir haben deine Kleider damals aus dem Krankenhaus mitgenommen. Wir wollten dir neue bringen.«

»Ich… ich hab sie gefunden«, sagte Tania. Das klingt ja oberlahm! Was machst du da bloß?

»Im Krankenhaus, meinst du?«

Tania nickte und verschaffte sich wieder einen kurzen Aufschub, indem sie sich einen Happen in den Mund schob und langsam kaute.

Es entging ihr nicht, dass ihre Eltern einen erstaunten Blick wechselten. Es wäre fast eine Erleichterung gewesen, wenn einer von beiden ihr ins Gesicht gesagt hätte: »Du lügst doch! Sag uns die Wahrheit!«

Sie schämte sich so sehr. Wie gern hätte sie diese alberne Lügengeschichte aufgegeben und ihren Eltern erzählt, was wirklich mit ihr passiert war, hätte von den Wundern berichtet, die sie gesehen, den Dingen, die sie entdeckt hatte, hätte gesagt, wer sie tatsächlich war. Nein! Nicht jetzt. Noch nicht. Und nicht so.

»Du hast also herausgefunden, wo Evans Familie lebt?«, fragte ihr Vater.

»Ja.« Sie schluckte nervös. »Und er ist mit mir nach London zurückgekehrt.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist zum Hostel gegangen. Ich hab ihm gesagt, dass er keinen Ärger mit der Polizei bekommen wird.« Sie blickte von ihrer Mutter zu ihrem Vater und wieder zurück. »Das Bootsunglück war ein Unfall«, sagte sie. »Sie werden ihn doch nicht verhaften, oder? Das dürfen sie nicht.«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ihr Vater. »Aber es war ziemlich dumm von ihm wegzulaufen.«

Ihre Mutter legte die Hand auf Tanias Arm. »Seid ihr zusammen zurückgekommen?«

Tania nickte.

»Hast du uns wirklich alles erzählt, was zwischen euch gewesen ist?«

Tania runzelte die Stirn. »Ja«, sagte sie. »Was meinst du damit?« Sie blickte in die ängstlichen Augen ihrer Mutter und wusste genau, was diese meinte. »Mehr ist nicht passiert«, versprach sie. Wenigstens diese Frage konnte sie mit vollkommener Aufrichtigkeit beantworten.

»Wie bist du zu dieser frühen Stunde nach London zurückgekommen?«, fragte ihr Vater. »Fahren aus Wales denn Nachtzüge?«

»Wir sind schon spätabends angekommen«, sagte Tania. »Aber wir wollten euch nicht wecken, deshalb sind wir in den Straßen herumspaziert, bis es hell wurde.«

»Uns wecken?«, stieß ihre Mutter hervor. »Anita, du hättest uns doch nicht geweckt! Wir haben beide nicht mehr richtig geschlafen, seit du verschwunden bist.«

»Natürlich nicht«, sagte Tania schuldbewusst. »Es tut mir so leid, was ihr meinetwegen durchmachen musstet. So was werde ich nie wieder tun– das verspreche ich.«

Ihre Mutter schaute auf die Uhr an der Wand. »Jetzt müsste eigentlich schon jemand in der Schule sein. Ich werde anrufen und Bescheid sagen, dass du wieder da bist.« Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer.

Tania legte Messer und Gabel auf den Teller und schob ihn von sich weg, obwohl er noch fast voll war. Mit einem entschuldigenden Blick wandte sie sich an ihren Vater. »Sorry, mehr schaffe ich einfach nicht.«

»Keine Sorge«, sagte er. »Möchtest du etwas anderes?«

Sie lächelte müde. »Ich glaube nicht. Um ehrlich zu sein, würde ich mich am liebsten zusammenrollen und eine ganze Woche nur schlafen.«

»Du hast ganz schön was mitgemacht!«, sagte er, setzte sich neben sie und legte ihr seine Hand auf die Wange.

»Ich habe euch so viel Kummer bereitet«, seufzte sie. »Sicher bereut ihr schon, dass ihr mich überhaupt bekommen habt.«

»Stimmt«, sagte er. »Am besten schicken wir dich umgehend zurück und bitten um Ersatz. Ein Mädchen, das nicht so dumm ist, einem idiotischen Jungen durchs halbe Land hinterherzujagen!«

Die Erschöpfung legte sich auf sie wie eine Decke, die sie zu ersticken drohte. »Mach Evan keine Vorwürfe«, murmelte sie. »Es ist nicht seine Schuld.«

»Das spielt im Moment gar keine Rolle«, sagte ihr Vater. »Du bist wohlbehalten wieder zu Hause, das ist das Einzige, was zählt.« Er verstärkte den Druck seiner Hand auf ihrer Wange und zog ihr Gesicht zu sich heran, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Seine Miene war ernst geworden. »Du bist eine intelligente, junge Frau und du wirst schnell erwachsen«, sagte er. »Aber in mancher Hinsicht benimmst du dich immer noch wie ein Kind. So einfach wegzulaufen…« Er schüttelte den Kopf. »Das wird Folgen haben«, sagte er. »Das ist dir doch klar, oder?«

Sie nickte und ahnte bereits, was kommen würde.

»Ich finde, du solltest den Jungen nicht mehr sehen«, sagte ihr Vater. »Er hat zu großen Einfluss auf dich, und es wird Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben.«

Das war’s. Genau dieses Urteil hatte sie insgeheim gefürchtet.

Wieder nickte sie stumm.

Wenige Minuten später kam ihre Mutter ins Zimmer zurück. »Ich habe mit der Schulsekretärin gesprochen«, sagte sie. »Sie wird es MrCox ausrichten. Ich habe gesagt, du seist erschöpft, aber gesund und munter. Und dass du morgen wieder in die Schule kommst. Dein Vater kann dich in der Früh hinfahren und dir helfen, alles zu erklären.«

»Ich hab ihr gesagt, dass sie diesen Evan Thomas nicht mehr treffen soll«, sagte ihr Vater.

»Ja, das ist wohl das Beste«, stimmte ihre Mutter zu. »Ich werde dich nicht darum bitten, es uns zu versprechen, Anita. Versprechen kann man nur allzu leicht brechen– aber wir vertrauen dir, dass du unserem Wunsch unbedingt nachkommst.«

Tania blickte zu ihr hoch, zu müde, um zu widersprechen, und wohlwissend, dass sie nicht in der Position war zu diskutieren. »Was ist mit dem Schultheater?«, fragte sie. »Gilt das Verbot auch dafür?« Sie spielte die Julia an der Seite von Edric, der den Romeo darstellte. Sie hatten bereits wochenlang geprobt und in acht Tagen sollte die Premiere sein. Wenn ihre Eltern sie weiter mitspielen ließen, hätte sie wenigstens dadurch einen legitimen Grund, Edric zu sehen.

»Dass du ihm in der Schule über den Weg läufst, lässt sich nicht vermeiden«, sagte ihre Mutter. »Und nach all der harten Arbeit, die du in die Aufführung gesteckt hast, wäre es jetzt nicht fair, aufzuhören und alle anderen einfach im Stich zu lassen.«

»Aber wenn ihr außerhalb der normalen Schulzeit probt, werde ich dich hinbringen und auch wieder abholen«, fügte ihr Vater hinzu.

»Du weißt, was wir meinen, wenn wir sagen, dass du ihn nicht mehr treffen sollst«, warnte ihre Mutter sie. »Er kann nicht mehr dein Freund sein oder wie man das heutzutage nennt. Damit ist jetzt Schluss. Wir sollten dir auch eine Frist setzen, wann du abends zu Hause sein musst.« Sie sah Tanias Vater an. »Ich würde sagen, acht Uhr an Schultagen und neun Uhr an den Wochenenden ist angemessen.«

»Klingt fair«, sagte er.

Tania schluckte schwer. »Für wie lange?«, krächzte sie.

»Das sehen wir noch«, sagte ihre Mutter. »Es ist zu früh, um darüber nachzudenken. Konzentriere dich das restliche Halbjahr auf die Schule, und in ungefähr einem Monat sehen wir weiter.«

In ungefähr einem Monat. Tania schwand allmählich der Mut.

So lange konnte sie sich unmöglich von Edric fernhalten. Der Trennungsschmerz war ja schon schlimm genug, aber die Angelegenheit war noch viel schwieriger.

Bevor Tania mit Edric in die Welt der Sterblichen aufgebrochen war, hatte sie König Oberon das Versprechen gegeben, dass sie Titania, die verschollene Königin, finden würden. Diese war vor fünfhundert Jahren auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter durch das geheimnisvolle Pirolglas getreten und nie zurückgekehrt.

Der einzige Hinweis auf Titanias Aufenthaltsort war Tanias Seelenbuch. Jemand aus der Welt der Sterblichen hatte es ihr am Tag vor ihrem sechzehnten Geburtstag zugeschickt, und Tania war überzeugt, dass es von Königin Titania stammte, der Mutter der Elfenhälfte in ihr.

Das Päckchen war in Richmond im Südwesten Londons abgestempelt. Dort würde Tania anfangen zu suchen. Dann aber musste sie ihren Eltern noch mehr Lügen auftischen. Es blieb ihr jedoch keine Wahl, wenn sie ihr Versprechen Oberon gegenüber halten wollte.

Daran kann ich jetzt nicht denken. Zu müde. Muss schlafen.

»Du siehst völlig k.o. aus, meine Kleine.« Die Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken. »Warum gehst du nicht nach oben und legst dich hin?«

Sie nickte.

Schlaf– den brauchte sie im Moment am allerdringendsten. Einen ganzen Tag tiefen, traumlosen Schlafes.

Als Tania die Zimmertür öffnete, runzelte sie die Stirn. Am Fußende ihres Bettes stand ein großes goldenes Päckchen mit roter Schleife auf dem Boden. Rings herum lagen weitere kleinere, bunt verpackte Geschenke und ein großer Stapel verschiedenfarbiger Briefumschläge.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Anita!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter sich.

»Hast du etwa gedacht, du würdest nichts kriegen?«, fügte ihr Vater hinzu.

Ihre Eltern waren ihr offenbar die Treppe hinauf gefolgt.

»Das hab ich ja ganz vergessen!«, rief Tania und starrte auf die vielen Geschenke.

»Na los!«, sagte ihr Vater. »Bevor du dich hinlegst, hast du doch sicher noch Lust, ein paar Päckchen zu öffnen. Ich bin schon sehr gespannt, was du bekommen hast!«

Trotz ihrer Erschöpfung musste Tania lachen. Sie kniete sich auf den Teppich und griff nach dem Stapel Geburtstagskarten.

Eine halbe Stunde später lag sie immer noch vollkommen angezogen auf dem Bett, so erschöpft, dass sie nicht mal mehr den Elan hatte, sich auszuziehen. Überall um sie herum, in Regalen und auf sämtlichen Möbelstücken, waren die Geburtstagskarten verteilt. Auf dem Schreibtisch stand ihr neuer Computer. Ihre übrigen Geschenke lagen auf der Wäschekommode: ein Rucksack von Nan und Granddad, eine Halskette von Tante Jenny und Onkel Steve. Eine CD von ihrer Cousine Helena. Ein paar Bücher. Ein roter Satinschal. Geschenkgutscheine und etwas Geld.

Schläfrig blickte sich Tania um, sah all die vertrauten Gegenstände… und dachte an ihr Zimmer im Elfenpalast, jenen verzauberten Raum mit den bebilderten Wandteppichen, die zum Leben erwachen konnten, und den Fenstern, die auf die Gartenanlage hinausgingen.

Dort war alles ganz anders gewesen. Und doch hatte sie sich zu Hause gefühlt. Heimisch hier wie dort. Gehörte sie in beide Welten oder in keine?

Was hatte Gabriel Drake zu ihr gesagt, kurz bevor Oberon ihn verbannt hatte?

»Eure Seele ist hin- und hergerissen zwischen den Welten– Ihr werdet niemals Frieden finden!«

Tania verdrängte die Erinnerung. Er irrte sich. Er musste sich einfach irren.

Ihre Umhängetasche aus Stoff lehnte an ihrem Nachttischchen. Die hatte sie das letzte Mal im Krankenhaus gesehen– anscheinend hatten ihre Eltern sie abgeholt.

Tania zog die Tasche zu sich heran und fand nach einigem Wühlen ihr Handy. Als sie es einschaltete, leuchtete das Display auf.

Hi Anita!

Der Akku war also noch nicht ganz leer. Gut.

Sie wählte Evans Nummer– Edrics Nummer– und hielt das Handy an ihr Ohr. Schon nach dem ersten Klingeln ging er ran.

»Wie ist es gelaufen?« Er klang sehr besorgt. »Ich warte schon seit Ewigkeiten auf deinen Anruf. Ist alles in Ordnung?«

»Ich habe das Blaue vom Himmel heruntergelogen«, sagte sie unglücklich. »Und sie haben mir geglaubt.«

»Das ist doch gut«, bemerkte Edric.

»Ja?«, erwiderte Tania mit geschlossenen Augen. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Ist das wirklich gut? Du, es tut mir total leid, aber ich bin zu müde, um noch länger zu reden. Wir sehen uns morgen in der Schule, okay?«

»Kann ich denn noch irgendwas für dich tun?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Kaum hatte sie das Handy ausgeschaltet, glitt es ihr auch schon aus der Hand und fiel neben das Bett. Gedämpft vernahm sie den dumpfen Aufschlag auf dem Teppich. Kurz darauf war sie eingeschlafen.