IX
»Nur düstern
Frieden bringt uns dieser Morgen;
die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen.
Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen:
Ich will dann strafen oder Gnad’ erteilen;
denn niemals gab es ein so herbes Los,
als Juliens und ihres Romeos.«
Tania lag mit geschlossenen Augen auf der Bühne, über Edrics leblos scheinendem Körper. Das Stück hatte seinen tragischen Höhepunkt erreicht und beide waren tot– Romeo hatte Gift getrunken und Julia hatte sich mit einem Dolch erstochen. Tania lauschte für einen Moment in die Totenstille hinein, die auf die Schlussrede des Prinzen folgte, aber als der Applaus durch den ausverkauften Saal brandete, musste sie unwillkürlich grinsen.
Sie öffnete ein Auge und sah, wie die roten Samtvorhänge sich vor der Bühne schlossen. Die Zuschauer konnte sie zwar jetzt nicht mehr sehen, der Applaus und die Bravorufe aber drangen ungedämpft zu ihr.
Alle Darsteller rappelten sich hastig auf, um von der Bühne zu gehen. MrsWiseman, die zwischen den Kulissen stand, bedeutete ihnen, sich zu beeilen. »Großartig!«, rief sie. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht. »Ihr wart alle fabelhaft!«
Die nächsten Minuten schienen Tania so langsam zu verstreichen wie unter einer Glasglocke. Sie nahm wahr, dass sie mit den anderen Schauspielern dicht gedrängt an der Seite der Bühne stand. Sie hielt Edrics Hand. Tanias Herz klopfte, das Blut rauschte in ihren Ohren. Ein Darsteller nach dem andern lief hinaus, um sich zu verbeugen.
Dann bekam Tania einen leichten Stoß in den Rücken und lief mit Edric in die Mitte der leeren Bühne. Das gesamte Publikum stand auf, jubelte, klatschte und pfiff. Tania und Edric verbeugten sich tief. Dann gesellten sich die restlichen Mitwirkenden zu ihnen und alle stellten sich in einer Reihe auf. Sie fassten einander an den Händen, um sich noch einmal zu verbeugen. Dann fiel der Vorhang.
Die Bühnenlichter erloschen. Allmählich erstarb der Applaus, bis nur noch einige wenige Pfiffe und Rufe erklangen. Man hörte, wie die Leute aufstanden und sich zum Gehen wandten. Aufgeregtes Stimmengewirr drang durch den Vorhang.
»Das war wunderbar«, sagte MrsWiseman. »Ich bin so stolz auf euch! Ihr habt sehr hart gearbeitet.«
Ein großes Durcheinander entstand, als alle Mitwirkenden an den Kulissen vorbeiströmten und über die hintere Treppe zum Keller liefen, wo sie sich in einem Lagerraum umziehen konnten. Ein behelfsmäßiger Paravent war aufgestellt worden, um die Jungs von den Mädchen zu trennen. Noch völlig berauscht stieg Tania aus ihrem Kleid und zog ihre Alltagskleidung an.
Auf einem Tisch standen Getränke. Tania nahm einen großen Schluck Orangensaft. Auf der anderen Seite des Raums sah sie Edric stehen, der sich gerade mit ein paar anderen Darstellern unterhielt.
Als er merkte, dass sie ihn beobachtete, grinste er, winkte und formte mit seinen Lippen die Worte: »Bin gleich bei dir.« Sie nickte überglücklich.
Der Schulleiter kam, um ihnen allen zu gratulieren. MrsWiseman schwirrte zwischen den Mitwirkenden herum, um sich nochmals bei allen zu bedanken.
»Kommst du mit uns allen zum Pizzaessen?«, wurde Tania gefragt.
»Ja, natürlich. In einer Minute bin ich da.« Sie musste vorher noch ihre Eltern finden, die ihn der dritten Reihe gesessen hatten. Tania hatte die beiden schon ziemlich früh bemerkt, es dann aber bewusst vermieden, in diesen Teil des Zuschauerraums zu blicken, um ihre Eltern auszublenden. ›Theaterspielen‹ und ›Eltern‹ passten einfach nicht zusammen; ihre Anwesenheit machte sie nur befangen.
Tania schlängelte sich langsam durch die lebhafte Menge, um dann in den Korridor zu flitzen. Auch dort standen überall Menschentrauben– Schüler mit ihren Eltern, Besucher, Lehrer, Schulbeiräte–, alle kommentierten sie begeistert die Aufführung. »Du warst hervorragend, Anita!«
»Vielen Dank, MrsTaylor.«
Sie entdeckte ihre Eltern, die durch den Gang auf sie zukamen.
»Ein Star ist geboren!«, rief ihr Vater und breitete die Arme aus, als sie auf ihn zurannte.
»Hat es euch gefallen?«, fragte sie, während ihre Eltern sie in die Arme schlossen.
»Es war atemberaubend«, sagte ihre Mutter.
Tania strahlte. »Die anderen gehen zusammen Pizza essen. Ich habe gesagt, dass ich mitkomme.«
Ihre Eltern antworteten nicht und Tanias Lächeln gefror. »Was ist los?«
»Kommt Evan auch mit?«, fragte ihre Mutter.
Tania lachte überrascht auf. »Das glaube ich schon«, sagte sie. »Romeo werden sie ja wohl kaum zurücklassen. Er ist nämlich nicht wirklich tot, müsst ihr wissen. Das war nur gespielt.«
»Dann wäre es uns aber lieber, wenn du mit uns kommst«, sagte ihre Mutter, ohne auf Tanias Scherz einzugehen.
Tania starrte sie an. Sie sollte die Premierenfeier verpassen? Das war wohl ein Witz.
»Wir halten es für das Beste«, fügte ihr Vater hinzu. »Du weißt, warum.«
Tania runzelte die Stirn. »Hört mal, mir ist schon klar, dass ihr nicht wollt, dass ich Evan allein treffe, aber das hier ist kein Date. Wir sind mindestens fünfzehn Leute in der Truppe. Und es ist ja nicht so, dass wir beide uns heimlich davonschleichen, um wild rumzuknutschen.«
»Du hast immer noch Ausgehverbot«, erwiderte ihre Mutter, und ein scharfer Ton schlich sich in ihre Stimme. »Du weißt, dass du spätestens um neun zu Hause sein musst.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Und jetzt ist es schon fast zehn.«
»Das glaube ich einfach nicht«, fauchte Tania. »Ihr erlaubt mir also nicht, mit den anderen zu feiern, nur wegen eines blödsinnigen Ausgehverbots?«
Sie bemerkte, wie Vater und Mutter plötzlich in eine andere Richtung blickten. Beide schauten auf etwas oder jemanden hinter Tanias Schulter– und ihren versteinerten Mienen war zweifelsfrei zu entnehmen, um wen es sich handelte.
Tania drehte sich um.
Tatsächlich: Edric steuerte durch das Gedränge auf sie zu.
Tania ging ihm ein Stück entgegen, um ihn aufzuhalten. »Kein guter Zeitpunkt«, warnte sie ihn.
Er warf einen Blick auf ihre Eltern. »Probleme?«, fragte er. »Ich dachte, ich komm kurz vorbei und sag Hallo.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Sie haben was dagegen, dass ich mit dir und den anderen in die Pizzeria gehe.«
»Das ist nicht fair.«
»Ich weiß, aber ich kann leider nichts dagegen tun«, sagte Tania. »Vergiss nicht, dass wir beide morgen nach Richmond fahren. Ich will jetzt mit meinen Eltern keinen Streit vom Zaun brechen. Das ist es nicht wert.«
Edric zögerte.
»Bitte!«, sagte sie und drückte ihre Hand gegen seine Brust. »Geh einfach. Sag den anderen, ich hätte furchtbare Kopfschmerzen.«
Edric warf einen letzten traurigen Blick auf Tanias Eltern, ehe er sich zurückzog. Tania holte tief Luft, dann drehte sie sich um und kehrte zu ihren wartenden Eltern zurück.
»Okay«, meinte Tania kühl. »Ihr habt gewonnen. Gehen wir.«
Tania marschierte vor den beiden den Gang entlang. Auf dem Weg zum Wagen setzte sie ein gespieltes Lächeln auf, wann immer ihr jemand begegnete.
Sie kletterte in den Fond und saß steif und angespannt da, während ihre Mutter und ihr Vater vorne einstiegen.
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. »Es tut mir sehr leid, wenn wir dich verärgert haben«, sagte sie. »Aber du warst damit einverstanden, den Jungen außerhalb der Schule nicht zu sehen.«
»Ja«, sagte Tania scharf. »War ich. Und?«
»Also bitte«, sagte ihre Mutter. »Ich habe doch mitbekommen, wie du dich damals wegen ihm aufgeführt hast. Wenigstens hast du in den nächsten paar Wochen keine Gelegenheit, ihn zu treffen, jetzt, da das Schulhalbjahr vorbei ist. Und wenn du aus Florida zurück bist, hast du vielleicht schon ganz andere Pläne.«
»Was soll das heißen?«, fragte Tania.
»Es heißt, dass du ganz offensichtlich noch nicht über Evan hinweg bist«, sagte ihre Mutter.
»Kommt, wir wollen nicht streiten«, meinte ihr Vater. »Es war so ein toller Abend– machen wir ihn nicht kaputt.«
»Also, ich bin’s nicht, die ihn kaputtmacht«, sagte Tania.
Den Rest der Fahrt über herrschte angespanntes Schweigen. Tania wollte nur nach Hause und weg von ihren Eltern, denn sie fürchtete, dass ihr eine Bemerkung herausrutschen könnte, die sie später vielleicht bereuen würde.
Sie waren schon fast zu Hause, als ihre Mutter sagte: »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich dir den Umgang mit diesem Jungen verbiete.«
»Warum bist du so?« Tania war selbst erstaunt, wie schrill ihre Stimme auf einmal klang.
»Ich bin so, weil du ganz offensichtlich bis über beide Ohren in ihn verknallt bist, Anita«, sagte ihre Mutter. »Und bis du ihn dir aus dem Kopf geschlagen hast, ist es unsere elterliche Pflicht zu verhindern, dass du seinetwegen noch mehr Dummheiten machst.«
»Sag nicht ›Anita‹ zu mir. Ich heiße Tania.«
»Dann hör mir gut zu, Tania. Tatsache ist, du bist noch immer ein Kind, und solange du unter unserem Dach lebst, hast du dich an unsere Regeln zu halten.«
MrPalmer fuhr an den Randstein und stellte den Motor ab. Kochend vor Wut stieß Tania die Autotür auf. »Ich bin kein Kind mehr«, schrie sie. Mühsam kletterte sie aus dem Wagen, stellte sich auf den Bürgersteig und funkelte ihre Mutter zornig an. »Meine Güte, weißt du denn nicht, wer ich bin?«
Ihre Mutter öffnete ebenfalls ihre Tür und stieg aus. »Also manchmal«, sagte sie, und ihre Stimme klang erschreckend ruhig und leise, »weiß ich es wirklich nicht.«
Tania stürmte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie atmete stoßweise und zitterte vor Wut. Sie ging zum Fenster und machte auf halbem Weg einen kleinen Seitwärtsschritt.
Sofort stand sie im oberen Turmzimmer von Bonwn Tyr und der Mond warf sein fahles Licht auf sie. Ihr Zorn hatte sie aufgewühlt und erschöpft.
Meine Güte, weißt du denn nicht, wer ich bin?
Beinahe wäre ihr die Wahrheit herausgerutscht: So könnt ihr nicht mit mir umspringen. Ich bin eine Elfenprinzessin!
Sie warf einen Blick über die Schulter und malte sich aus, wie ihre Eltern in ihr Zimmer kamen und… ein leeres Bett vorfanden.
»Mir doch egal«, sagte sie laut. »Sollen sie!«
Sie drehte sich um, lief die schmale Wendeltreppe hinunter, überquerte den Steinboden und öffnete die Tür. Weiße Wolkenfetzen jagten über den sternenklaren Himmel. Der Mond leuchtete hell durch die Äste der Espenbäume, so groß und voll, dass Tania wie angewurzelt stehen blieb. Sie streckte beide Hände über den Kopf, sodass es aussah, als hielte sie den Mond in den Händen.
Sie trat aus dem kleinen Wäldchen hinaus. In der Ferne erstrahlte hell der Palast: bernsteinfarben, orange, rot und tiefgelb. Irgendwo in der Nähe trällerte eine Nachtigall. Eine zweite antwortete von etwas weiter her. Ihre hohe Stimme perlte durch die kristallklare Luft.
Tania kam sich vor wie ein Seemann, den es nach einem Schiffsunglück an den Strand einer friedlichen grünen Insel verschlagen hatte, und lief auf den Palast zu.
Sie war noch nicht weit gekommen, da bemerkte sie plötzlich eine kleine dunkle Silhouette, die sich ihr langsam näherte. Sie hielt inne und spähte den langen mondbeschienenen Abhang hinunter.
Es war ein Tier. Vielleicht ein Pferd? Nein, kein Pferd. Sie konnte ein mehrendiges Geweih auf seinem Kopf erkennen. Ein Hirsch!
Voller Freude und Faszination setzte sich Tania ins Gras und wartete darauf, dass das Tier herankam. Jetzt konnte sie schon das Trappeln seiner Hufe im Gras hören. Gleich darauf erspähte sie das raue braune Fell und die schwarzen Vorderhufe. Die Muskeln des Hirsches waren angespannt. Tania nahm das regelmäßige Auf und Ab des Kopfes wahr. Das prachtvolle Tier blieb vor ihr stehen, senkte sein majestätisches Haupt und schnaubte. Das Mondlicht glänzte in seinen klugen Augen.
»Hallo«, sagte Tania und streckte vorsichtig die Hand aus, um die samtweiche Schnauze zu streicheln.
Wieder atmete der Hirsch prustend aus und stupste ihre Hand mit dem Kopf an, wobei er mit dem Vorderhuf ungeduldig auf dem Boden scharrte.
Tania erhob sich. Das Tier schritt würdevoll einen Kreis um sie herum ab und hielt dann inne, den Blick auf den Palast gerichtet.
»Ich soll auf dir reiten?«
Ein Nicken des schweren Kopfes. Ein Schnauben.
»Ich weiß aber nicht, ob ich aufsitzen kann.«
Mit ihren Jeans konnte sie zwar reiten und das Tier schien auch genau dies von ihr zu erwarten, aber seine Größe schüchterte Tania ein.
»Okay«, sagte sie. »Hoffentlich tue ich dir nicht aus Versehen weh.« Sie legte die Arme um seinen Hals, dann holte sie mit einem Bein Schwung und wuchtete sich hinauf. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, aber am Ende lag sie bäuchlings auf dem Rücken des Tieres.
Tania zappelte, wand sich hin und her und schaffte es schließlich, ein Bein über den Rücken des Hirschs zu schwingen. Dann musste sie sich nur noch mit den Händen abstützen, um sich in eine sitzende Position zu bringen.
Tania saß nun rittlings mit baumelnden Beinen auf dem Hirsch. Sie hatte ihre Hände flach auf die Schultern des Tiers gelegt. Die Geweihstangen erhoben sich vor ihr wie vielfingrige Hände. Mit einem zufriedenen Schnauben begann das Tier, den Hang hinunterzutraben, auf demselben Weg, den es gekommen war.
Tania fand den Ritt ziemlich unbequem. Sie fühlte sich nicht besonders sicher auf dem breiten, knochigen Rücken und wurde wie eine Stoffpuppe durchgeschüttelt. Doch immerhin fiel sie nicht hinunter. Bald erreichten sie den Palastgarten, dessen Kiesbelag unter den Hufen des Hirsches knirschte.
Sie näherten sich dem Wachhäuschen und Tania erblickte eine schlanke Gestalt auf den Eingangsstufen vor dem großen Türbogen.
»Cordelia!«, rief sie. Natürlich– wer sonst hätte einen Hirsch geschickt, um sie abzuholen?
Cordelia winkte und lief ihr entgegen.
Der Hirsch blieb stehen und drückte die Schnauze an Cordelias Schulter. Die Prinzessin streichelte ihm über den Kopf.
»Willkommen im Schein des Mondes, Tania«, sagte Cordelia mit einem ernsten Lächeln. »Und Euch, Mylord, danke ich ganz herzlich dafür, dass Ihr euch als Reittier zur Verfügung gestellt habt.«
Tania rutschte vom Rücken des Hirschs hinunter. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Tania legte die Hand auf den muskulösen Nacken des Hirschs. »Vielen Dank«, sagte sie. »Wie heißt er?«
In Cordelias Augen glänzte das Mondlicht. »Tiere mögen es nicht, wenn man ihren wahren Namen ausspricht«, sagte sie.
»Oh. Okay.« Tania tätschelte dem Hirsch wieder den Nacken. »Dann sag ihm bitte vielen Dank von mir.«
Cordelia neigte sich zu einem Ohr des Tieres und sprach leise hinein. Tania konnte die Worte nicht verstehen, aber Cordelias Stimme klang wie der Wind in den Bäumen, wie leise Huftritte auf Kiefernnadeln, wie die Schwingen einer Eule im Sturzflug.
Der Hirsch neigte den Kopf vor Cordelia, dann drehte er sich um und trabte davon.
»Hast du ihn zu mir geschickt, damit er mich abholt?«, fragte Tania, als sie ihrer Schwester die Stufen hinauffolgte. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Eden hat deine Rückkehr ins Elfenreich sofort gespürt und auch deinen großen Kummer«, erwiderte Cordelia. Sie blickte Tania an. »Deine Schwestern warten. Komm, lass alles, was dich in der Welt der Sterblichen bedrückt hat, hinter dir.« Sie zögerte kurz, ehe sie durch die Tür ging. »Heute Nacht liegt etwas in der Luft«, sagte sie und Tania sah die Beklommenheit in ihren Augen.
»Was denn?«
Cordelia schüttelte den Kopf. »Noch weiß ich es nicht. Unheil droht. Die Tiere spüren es und sind unruhig. Die Luft ist drückend schwül wie vor einem Gewitter, doch nirgends sind dunkle Wolken zu sehen, und der Wind weht aus Südosten.« Sie kniff die Augen zusammen. »Vielleicht kommt die Bedrohung von dort… Ich vermag es nicht zu sagen.« Sie sah Tania an. »Aber genug davon. Es ist eine bezaubernde Nacht. Komm, du wirst sehnsüchtig erwartet!«
Cordelia ließ die Tür zu den weiträumigen Dachgemächern der Prinzessinnen aufschwingen. »Seht, da ist sie!«
»Hi allerseits«, sagte Tania und betrat den Raum mit seinen dicken, gemusterten Teppichen, den vielfarbigen Wandbehängen, den bequemen Sesseln und Sofas.
Ihre Schwestern waren alle da– außer Rathina natürlich. Hopie und Sancha saßen zu zweit auf einem breiten Kanapee und lasen in einem großen Buch, das aufgeschlagen vor ihnen in der Luft schwebte. Auf eine Handbewegung von Sancha hin klappte das Buch zu und schwebte zu einem nahen Tisch. Eden stand an einem der Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Ihre Miene war sehr ernst, die Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. Zara saß am Spinett– einem kleinen klavierähnlichen Instrument, das auf einem Podium stand–, und spielte eine heitere Melodie, indem sie die Saiten zupfte.
Eden kam auf Tania zu und legte ihr zur Begrüßung die Hände auf die Schultern. »Ich habe deinen Kummer gefühlt, geliebte Schwester«, sagte sie beinahe feierlich. »Wovor fürchtest du dich?«
Tania sah sie überrascht an, während auch die übrigen Schwestern näher herantraten.
»Tut mir leid, ich weiß nicht genau, was du meinst«, sagte sie zögernd. »Ich habe mich aufgeregt, weil ich Streit mit meinen Eltern hatte. Das musst du gespürt haben.« Sie blickte Eden in die Augen. »Außer, du meinst Gabriel…«
»Was ist mit diesem abscheulichen Verräter?«, fragte Eden. »Hat er dir noch mehr Alpträume geschickt?«
»Das nicht«, sagte Tania. »Erinnerst du dich noch an deine Worte? Du sagtest, in der Welt der Sterblichen gäbe es Menschen, deren er sich bedienen kann, um mich anzugreifen? Also, ich habe einen von ihnen getroffen. Und du hattest Recht: Gabriel hat mich zu sich nach Ynis Maw entführt. Zumindest kam es mir so vor, aber möglicherweise hat sich das alles auch bloß in meinem Kopf abgespielt. So oder so war diese Erfahrung ganz schön furchterregend.« Sie schauderte bei der bloßen Erinnerung. »Ich bin entkommen– mit knapper Not.«
»Gut gemacht!«, sagte Eden. »Jedoch ist die Gefahr, die von ihm ausgeht, noch viel größer, als ich befürchtet habe. Sei stets auf der Hut, Tania. Sei wachsam und erlaube nicht, dass er dich in einem unbedachten Moment überwältigt.« Sie runzelte die Stirn. »Doch Drake ist nicht unser einziger Feind. Erkennst du die anderen Vorzeichen?«
»Welche anderen Vorzeichen?«
»Ach, nichts!«, rief Zara leichthin und trat von hinten an Tania heran. »Den ganzen Tag schon wird Eden von düsteren Ahnungen geplagt und sagt grauenhafte Ereignisse voraus, aber bisher irrte sie!« Sie breitete lächelnd die Arme aus. »Wir sind noch immer hier, keinem von uns ist ein Leid geschehen.« Sie zeigte mit ihrem schmalen Finger auf Eden. »Du brütest zu viel über dunklen Gedanken, Weiße Malkin! Du wirst dich noch zu Tode hungern, vor lauter Sorge!«
»Die Tiere spüren das kommende Verhängnis ebenfalls«, sagte Cordelia. »Als stünde ein Gewitter bevor.«
»Dann wäre es das Beste, wir trügen wagenradgroße Hüte, damit der Regen nicht auf unsere bloßen Köpfe herniederprasselt und uns Kopfweh beschert!«, scherzte Zara ausgelasssen.
Cordelia schüttelte den Kopf. »Weder Hut noch Übermantel können uns vor solchen Unwettern schützen.«
»Ich spüre nichts«, sagte Hopie und blickte von Cordelia zu Eden. »Woher kommt das Grauen?«
»Denkt doch daran, was die Meeresschildkröte Cordelia anvertraut hat«, sprach Sancha. »Ein Licht ist erschienen in der alten Festung Bale Fole. Lyonesse erwacht aus langem Schlaf. Ich fürchte, Lady Lamia ist zurück– und ich glaube, die Gefahr kommt mit dem Wind aus Südost.«
»Das ist unmöglich«, sagte Hopie. »Der König von Lyonesse liegt eingeschlossen in Bernstein im Verlies zu unseren Füßen. Ohne seine Hexenkünste vermag Königin Lamia uns nichts anzuhaben.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete Eden ihr bei. »Aber ich glaube nicht, dass der Wind das Unheil herbeiträgt. Es ist ganz nah.« Sie runzelte die Stirn. »Ich mühe mich, die Quelle des Unheils zu finden, doch sie entzieht sich mir.«
»Weil es nichts zu finden gibt«, erwiderte Zara. »Kommt, was ist das für ein trauriger Empfang, den wir unserer lieben Schwester bereiten? Ich spiele jetzt rasch eine heitere Melodie auf dem Spinett und dann sprechen wir nicht mehr über böse Omen!«
Sie hob zu singen an:
Wir kennen kein
Ende
noch schweben wir je herab.
Dieser Traum wird ewig währen,
die Sonne immer am Himmel stehn.
Wir tanzen in der Nacht
bei flackerndem Feuerschein.
Dieser Traum wird ewig währen,
der Mond immer am Himmel stehn.
Auch wenn die Blätter fallen,
die Echos leise verhallen:
Dieser Traum wird ewig währen,
das Sternenzelt immer am Himmel stehn.
Sancha hakte Tania unter und zog sie mit sich zum Sofa. Die übrigen Schwestern versammelten sich um sie. Hopie setzte sich auf die eine Seite, Cordelia auf die andere und Sancha auf einen Hocker zu ihren Füßen. Eden stellte sich hinter das Sofa und warf hin und wieder einen Blick aus dem Fenster, als erwarte sie, etwas Finsteres am Nachthimmel zu sehen.
»Du erwähntest einen unschönen Streit mit deinen sterblichen Eltern«, sagte Sancha zu Tania. »Erzähl uns von deinen Schwierigkeiten. Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
»Meine Mum und mein Dad haben mir verboten, Edric zu sehen«, erklärte Tania. »Sie glauben, er sei schuld daran, dass ich neulich verschwunden bin… als ich hier bei euch war, meine ich.« Sie blickte in Sanchas intelligente Augen. Die Gegenwart ihrer Schwestern tröstete sie. »Ich konnte ihnen nicht erzählen, was wirklich passiert ist, aber so langsam glaube ich, dass ich es tun sollte.«
Hopie tätschelte ihr die Knie. »Ich bereite dir einen Trank aus Myrte und Frauenminze«, sagte sie. »Er wird dich beruhigen und deinen Kummer lindern.« Sie stand auf und ging zu einem Schubladenschränkchen aus dunklem Holz.
Zara setzte sich auf Hopies Platz neben Tania.
»Soll ich ihnen die Wahrheit sagen?«, fragte Tania.
»Aus welchem Grund?«, fragte Sancha. »Um dein Herz zu erleichtern oder ihres?«
Tania runzelte die Stirn. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Um mein Leben zu vereinfachen, glaube ich«, sagte sie schließlich. »Im Moment halten sie mich bloß für ein dummes Ding, das in einen Jungen aus der Schule verknallt ist. Und solange sie das denken, meinen sie, es reicht, mich von Edric fernzuhalten, damit ich über ihn hinwegkomme. Aber was passiert, wenn ich ihnen die Wahrheit sage?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann wird nichts mehr so sein wie früher. Wenn sie erst mal alles wissen, gibt es kein Zurück– wenn sie mir überhaupt glauben.«
Hopie beugte sich über sie, eine braune Tontasse in der Hand. »Wird die Wahrheit sie schmerzen?«, fragte sie, als Tania ihr die Tasse abnahm.
»Was, dass ich in Wirklichkeit eine Elfenprinzessin mit einer anderen Familie bin? Das glaube ich schon«, meinte Tania.
»Trink«, forderte Hopie sie eindringlich auf. »Die Wirkung des Tees lässt rasch nach.«
Tania schaute in die Tasse. Die Flüssigkeit wirbelte darin herum, als würde sie von einem unsichtbaren Löffel umgerührt. Sie war tiefblau und schmeckte wie kalte, klare Bergluft. Sternenlicht schien durch Tanias Kehle zu rinnen, weder warm noch kalt, weder süß noch bitter, aber während ihr der Dampf in die Nase stieg und sich in ihren Atemwegen verteilte, spürte sie, wie Gelassenheit sie durchströmte.
»Vermagst du die Wahrheit für alle Zeit vor ihnen zu verbergen?«, fragte Sancha.
»Ich könnte es versuchen«, sagte Tania und reichte Hopie die leere Tasse. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich es ihnen beibringen sollte. Hey, Mum, Dad, wisst ihr was? Ich führe ein Doppelleben in einer Parallelwelt– ich habe eine Zweitmutter und einen Zweitvater und jede Menge Schwestern. Was sagt ihr dazu?«
»Was, wenn du unsere Mutter wiedergefunden hast und in unsere Mitte zurückkehrst, um in der Elfenwelt zu leben? Wirst du deine alte Welt verlassen, ohne deinen Menscheneltern den Grund zu sagen?«, erkundigte sich Cordelia.
Tania verschlug es für einen Moment die Sprache. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass ihre Schwestern selbstverständlich annahmen, dass sie für immer im Elfenreich leben wollte.
»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht richtig nachgedacht«, meinte sie. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Es wäre nicht recht, sie einfach so zu verlassen«, meinte Zara. »Du musst ihnen die ganze Wahrheit sagen, bevor du gehst, ganz gleich, wie schwierig es für dich sein mag, sie auszusprechen, oder für deine Eltern, sie zu hören.«
Sancha ergriff Tanias Hand. »Du hast den wahren Kummer unserer Schwester nicht erkannt, Zara«, sagte sie sanft. »Sie weiß, dass sie sich für eine der beiden Welten entscheiden muss. Das ist es, was sie quält, nicht der Umstand, dass sie ihre Eltern einweihen muss.«
Tania spürte, wie Edens feingliedrige, schlanke Hände auf ihren Schultern ruhten. »Sancha ist sehr weise in derlei Herzensangelegenheiten«, murmelte Eden, beugte sich über Tania und küsste sie aufs Haar. »Unsere liebe Schwester ist nicht als dasselbe Mädchen zu uns zurückgekehrt, das vor Jahrhunderten verschwand. Ihre Seele hat in der Zwischenzeit mehr als sechzig verschiedene Leben gelebt.«
Tania bog den Kopf zurück und sah Eden an. »So viele?«
»Oh ja. Denn der Mensch, der Anita Palmer genannt wird, ist bereits die dreiundsechzigste Reinkarnation deiner Elfenseele«, sagte Eden. »Reste dieser vergangenen Leben sind noch in dir– ich kann sie spüren. Jeder Mensch, in dem deine Seele einmal gewohnt hat, hat sie geprägt.«
»Was heißt das genau?«
»Das heißt, meine Liebe, dass du für alle Ewigkeit halb Elfe und halb Mensch sein wirst«, sagte Eden. »Und in eben diesem Dilemma liegt die Qual deiner Wahl.«
Zara fasste mit beiden Händen nach Tanias Arm. »Nein! Nein!«, rief sie. »Tania ist unsere Schwester– sie gehört hierher zu uns!« Sie starrte zu Eden hoch, wild und erschrocken. »Denkst du tatsächlich, sie wünscht sich, in der Welt der Sterblichen zu bleiben?«
»Das wäre eine schwerwiegende Entscheidung«, erwiderte Sancha. »Es gibt einen alten Reim, eine Vorhersage des blinden Dichters Draco Sinistre von Talebolion:
Die Elfenseele lebt im
Menschenkind
und strahlt zu hell– ihr Leib ist
todgeweiht.
Doch harrt sie länger aus als sechzehn Jahr’,
so muss sie wählen: Freud oder Leid.
Wenn Elfenherz sich selbst erkennt,
von Neuem wird es dann geboren.
Doch bleibt es in der Welt der Sterblichen,
so ist ihr Erbe ganz verloren.
Bedrückte Stille folgte Sanchas Worten. Tania blickte in die Runde und las Angst, Furcht und Mitgefühl in den Gesichtern ihrer Schwestern. »Ich muss also wählen? Ich muss mich entscheiden, ob ich hier oder in der Welt der Sterblichen leben möchte?«
»Wenn ich den Text richtig interpretiert habe, dann ist dem so«, sagte Sancha.
»Aber meine Gabe ist doch die Fähigkeit, mich zwischen den Welten zu bewegen«, gab Tania zu bedenken. »Warum muss ich mich dann für eine entscheiden?«
»Du vermagst zwar zwischen den Welten hin- und herzureisen«, sagte Eden. »Doch du kannst nur ein Zuhause haben, und dein Herz wird dir helfen, es zu erkennen.«
»Wie schnell muss ich mich entscheiden?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, gab Sancha zu.
»Aber es könnte schon bald sein, nicht wahr?«, fragte Cordelia. »Unzählige Gefahren lauern in der Welt der Sterblichen, und wenn Tania dort stirbt, wird sie diesmal nicht wiedergeboren werden. Ist das nicht die wahre Bedeutung der alten Verse?«
Sancha nickte.
»Habe keine Angst, meine Liebe«, beteuerte Eden und beugte sich wieder über Tania. »Anita Palmers Seele ist willensstark, sonst wäre ihr Menschenleben längst vorbei. Im Moment herrscht Verwirrung in deiner Seele, aber die Zeit wird dir Klarheit schenken.«
»Vielleicht aber auch nicht«, antwortete Tania bedrückt.
»Erwägst du ernsthaft, in der Welt der Sterblichen zu leben?«, fragte Zara mit großen Augen.
Tania blickte sie eine Weile wortlos an. »Ich liebe meine Mum und meinen Dad.«
Zara legte den Kopf auf die Seite. »Aber deine Eltern werden irgendwann sterben, Tania. Was dann?«
»So weit habe ich noch nicht gedacht.«
»Aber…«
»Bedräng sie nicht, Zara«, mahnte Hopie. »Mit deiner endlosen Fragerei würdest du noch den härtesten Fels zermürben.«
»Ja«, meinte Tania, setzte sich auf und zwang sich, ihre Schwestern anzulächeln. »Sprechen wir nicht mehr von mir. Das ermüdet mich.« Sie blickte zu Eden. »Gibt es denn irgendetwas Neues von Rathina?«
»Die Stille umgibt sie wie ein Nebelmantel«, erwiderte Eden. »Ich kann ihre Gegenwart im Elfenreich weder sehen noch spüren.«
»Unser Vater sorgt sich sehr um sie«, erzählte Cordelia. »Ich habe die Tiere nach Neuigkeiten gefragt, ich habe Vögel ausgeschickt, das Land abzusuchen, aber sie haben nichts entdeckt.«
»Das Letzte, was wir von ihr wissen, ist, dass sie mit Maddalena nach Norden ritt, als wären die Einhörner von Caer Liel ihr auf den Fersen«, fügte Hopie hinzu. »Ich für meinen Teil hege jedoch nicht den Wunsch, sie wiederzusehen. Der König hat Mitleid mit ihr, ich nicht. Ihre bösen Pläne gegen Tania kamen nicht aus einem gebrochenen Herzen, sondern aus der Seele eines grausamen Kindes!«
»Nein, Hopie«, sagte Eden. »Böse Taten und böse Gedanken sind nicht dasselbe. Auch mir tut das arme Kind von Herzen leid. Vielleicht hat die Gabe sich ihr inzwischen offenbart, dann ist sie auf dem richtigen Weg.«
»Wie wahr«, ergänzte Sancha. »Sie sprach kaum darüber, doch weiß ich, dass sie manches Mal grübelte, warum ihre Gabe sich nicht zeigte.«
»Sie war erst siebzehn, als die Große Dämmerung über uns hereinbrach«, sagte Hopie. »Meine Heilkräfte wurden auch nicht gleich an meinem sechzehnten Geburtstag offenbar, sondern sie wuchsen langsam wie eine Pflanze, die man mit Fleiß und Mühe umsorgen muss. Rathina aber meinte, die Gabe müsse ihr in den Schoß fallen.«
»So wie es bei mir war, meinst du?«, bemerkte Tania.
»Deine Gabe wurde prophezeit«, sagte Eden. »Du bist die siebte Tochter, von der man seit Urzeiten spricht. Wie Hopie schon erklärt hat, war es bei uns anders. Unsere Fähigkeiten sind ganz allmählich gewachsen. Rathinas Gabe hätte sich von selbst gezeigt, wäre sie geduldiger gewesen.«
»Geduld gehörte noch nie zu ihren Tugenden«, meinte Zara. Sie warf Hopie einen Blick zu. »Trotzdem tut sie mir leid, so einsam und verlassen draußen in der Wildnis.«
Tania sah Eden an. »Aber wenn du Rathina nicht spüren kannst, heißt das, dass sie gar nicht mehr im Elfenreich weilt? Wo kann sie sein?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Eden. »Welches Schiff würde sie übers Meer in ein anderes Land bringen? Wir würden sofort Kunde davon erhalten.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist, als sei sie hinter einem Schleier verborgen, und ich kann nichts tun, um ihr zu helfen. Sie muss zu ihrer eigenen Zeit und auf ihrem eigenen Weg zurückkehren oder gar nicht.«
Tania schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine Minute vor zehn. Die Zeiger waren genau in dem Moment stehen geblieben, als sie aus ihrem Zimmer ins Elfenreich hinübergetreten war. »Ich muss zurück«, sagte sie. Sie sah Cordelia an. »Ich nehme nicht an, dass ein weiterer Hirsch bereitsteht?«
»Wir finden einen bequemeren Weg zurück zum braunen Turm«, sagte Sancha.
Tania tat es in der Seele weh, dass sie sich schon von ihren Schwestern verabschieden musste, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren.
Nach Hause? Die Welt der Sterblichen war also noch immer ihr Zuhause. Und doch, wenn sie hier war, empfand sie das Elfenreich als ihre Heimat. Wie soll ich jemals in der Lage sein, zwischen den beiden Welten zu wählen– wie kann ich mich für den einen Teil meines Wesens entscheiden, den anderen jedoch für immer aufgeben?, dachte sie, als sie mit Sancha in einem Ponywagen, an dem Silberglöckchen klingelten, durch die nächtliche mondbeschienene Landschaft fuhr.
Bald hatten sie die Espenbäume erreicht, Sancha schnalzte mit den Zügeln, und der Wagen kam bimmelnd zum Stehen.
»Vielen Dank fürs Chauffieren«, sagte Tania. »Ich fand den Hirsch zwar beeindruckend, den Ritt aber reichlich unbequem.« Sie kletterte hinunter.
»Dein Kopf ist voller Sorgen«, bemerkte Sancha. »Doch denk immer daran: Selbst in der Welt der Sterblichen bist du noch Prinzessin Tania aus dem Elfenreich.« Ihre dunklen Augen blitzten. »Benimm dich entsprechend!«
Tania lächelte sie an. »Ich werde es versuchen«, versprach sie.
»Leb wohl, liebe Schwester«, rief Sancha ihr zu, als sie die Zügel aufnahm und das Pony antraben ließ. »Mögen die Engel der Barmherzigkeit dich beschützen, bis wir uns wiedersehen.«
»Danke«, rief Tania und winkte dem kleinen Wagen hinterher, der zwischen den Bäumen davonfuhr.
In ihrem Zimmer war es dunkel und still. Sie blieb einen Augenblick mitten im Raum stehen, genau dort wo sie angekommen war, und lauschte. Sie hörte gedämpft den Fernseher im Erdgeschoss. Sie warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Es war Viertel nach elf. Sie war also eine gute Stunde im Elfenreich gewesen.
Sie öffnete die Zimmertür und fühlte sich erstaunlich ruhig. Als sie die Treppe hinunterging, stellte sie ihre Armbanduhr wieder richtig und drehte die Zeiger vor, um die verlorene Zeit in der Menschenwelt auszugleichen.
Sanchas Abschiedsworte hallten noch in ihr nach.
Du bist Prinzessin Tania aus dem Elfenreich. Benimm dich entsprechend!
Die weise Sancha hatte Recht. Tania konnte nicht schmollen, schreien, mit den Füßen aufstampfen und dann erwarten, wie eine Erwachsene behandelt zu werden. Wenn sie die Angelegenheit mit ihren Eltern bereinigen wollte, musste sie sich entsprechend benehmen. Sie musste sich mit ihnen zusammensetzen und sachlich und ohne Groll über ihre Probleme sprechen.
Sie öffnete die Wohnzimmertür.
Wie immer saß Dad in seinem Sessel, Mum auf dem Sofa, unter einer Decke. Als Tania ins Zimmer trat, blickten die beiden sie abwartend an.
»Können wir kurz reden?«, bat Tania.
»Natürlich«, sagte ihre Mutter. Ihr Vater griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton aus.
Tania holte tief Luft. »Es tut mir leid, wie ich mich vorhin benommen habe«, begann sie. »Ich weiß, dass ihr nur mein Bestes wollt, und ich verstehe auch gut, dass ihr euch Sorgen macht wegen… wegen Evan. Wirklich. Mir ist auch bewusst, dass ich vor Kurzem Dinge getan habe, die euer Vertrauen in mich ziemlich angekratzt haben. Ich will euch beweisen, dass ihr mir vertrauen könnt; ich würde euch so was niemals wieder antun: einfach zu verschwinden. Doch es gibt da etwas, das ihr auch verstehen solltet. Evan bedeutet mir sehr viel und außerdem trägt er keine Schuld an dem, was ich getan habe.«
»Ich glaube nicht…«, setzte ihre Mutter an.
»Mary! Lass sie ausreden«, sagte ihr Vater.
»Ich will die Ferien mit Evan verbringen«, sagte Tania. »Ich möchte so gern, dass ihr eure Meinung über ihn ändert. Ich bin ihm sehr wichtig, und ihr bestraft ihn für etwas, das er nicht getan hat. Gebt mir die Chance, euer Vertrauen zurückzugewinnen. Lasst mich mit Evan zusammen sein– traut uns zu, dass wir uns verantwortungsbewusst verhalten.« Sie hielt inne und alle drei schwiegen. Dann lächelte sie und breitete die Hände aus. »Das war’s. Ich bin fertig.«
Ihre Mutter musterte sie forschend. »So viel bedeutet er dir?«
»Ja.«
»Die erste Liebe ist immer sehr intensiv«, sagte ihre Mutter. »Aber sie ist selten von Dauer. Das ist dir doch klar?«
Tania nickte. Sie hätte ihren Eltern gern erzählt, dass die Liebe zwischen Edric und ihr etwas ganz Besonderes war– unzerbrechlich–, aber sie nahm sich zusammen. Bestimmt erzählten Millionen von Teenagern auf der ganzen Welt ihren Eltern, dass ihre Liebe etwas Besonderes war– und ebenso oft waren sie im Irrtum. Wie konnte Tania ihren Eltern beweisen, dass und warum die Beziehung zwischen ihr und Edric außergewöhnlich war?
»Wenn wir dich wie eine Erwachsene behandeln sollen, dann musst du dich auch so benehmen«, fuhr ihre Mutter fort. »Wir wollen, dass du auch noch andere Dinge machst, außer dich mit Evan zu treffen. Kleb nicht so sehr an ihm. Triff dich auch noch mit anderen Leuten. Unternimm andere Sachen.«
»Und mach deine Schularbeit für den Sommer ordentlich«, ergänzte ihr Vater.
»Das werde ich beherzigen«, versprach Tania. »Ich tue alles, was ihr wollt. Heißt das, ich darf ihn sehen?«
»Ja«, sagte ihre Mutter. »Aber nicht mehr heute! Das Ausgehverbot steht.«
»Danke! Vielen, vielen Dank!« Tania sprang schnell die Stufen hoch, um Edric anzurufen und ihm die guten Neuigkeiten mitzuteilen.
Keine Heimlichtuerei mehr hinter dem Rücken ihrer Eltern! Keine Lügen mehr darüber, wo sie hinging und mit wem sie sich traf!
Sie rannte in ihr Zimmer.
Es kam ihr so vor, als würde sie geradewegs in ein Minenfeld laufen. Sie prallte gegen eine flammende, pechschwarze Macht, so undurchdringlich wie eine Mauer und so stark wie eine riesige geballte Faust. Durch die Wucht des Aufpralls wurde Tania der Boden unter den Füßen weggerissen und sie sauste rücklings durch die Luft.
Sie keuchte, die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, als sie auf den Teppich stürzte. Die Dunkelheit schoss über sie hinweg wie eine Lawine, drückte sie zu Boden, machte sie blind, verschloss Ohren, Nase und Mund und sandte bernsteinfarbene Lichtranken aus, die ihre Augen entzündeten und ihre Gedanken versengten.
Dann hatte sie das Gefühl, sie fiele durch die Finsternis in einen bodenlosen schwarzen Abgrund.
Und dann… war alles vorbei.