II
Tania und Edric stolperten Hand in Hand durch einen stockdunklen steilen Taleinschnitt. Sie rannten um ihr Leben. Die zerklüfteten Berge ringsum glänzten wie schwarzes Glas im heftig herabprasselnden eisigen Regen. Schwere, dicke Unwetterwolken hingen am Himmel, deren aufgeblähte Formen von den zackigen Felsen aufgerissen wurden. Blitze hüpften zischend wie Schlangen von Stein zu Stein.
In der alles verschlingenden Dunkelheit konnte Tania dicht hinter sich lautes, heiseres Atmen hören. Ängstlich schaute sie sich um. Sie war sich sicher, dass sie durch den strömenden Regen hindurch zwei rote Augen erkannte.
»Los, komm!«, ertönte Edrics Stimme inmitten des Tosens.
Tania kletterte weiter über das zerklüftete Gelände, klammerte sich an Edrics Hand und schaffte es nur mit Müh und Not, sich auf den Beinen zu halten.
Auf allen Seiten waren sie von glatten schwarzen Felsen eingeschlossen. Die glänzenden Steine waren so spitz und scharfkantig, dass schon eine einzige unvorsichtige Berührung blutige Wunden reißen konnte. Es war, als kletterten sie über ein Feld aus Glasscherben– und die ganze Zeit über prasselte der Regen auf sie nieder, der Donner dröhnte Tania in den Ohren, und die Blitze brannten ihr wie Säure in den Augen.
Plötzlich rutschte sie aus und fiel mit einem Schmerzensschrei auf die Knie.
»Steh auf!«, befahl Edric ihr. »Es kommt näher!«
»Was ist das?«, jammerte sie. »Edric? Was ist das für ein Ort? Wie sind wir hierhergekommen?«
»Weißt du das denn nicht?«, rief er. »Das ist Ynis Maw!«
Bei diesem Namen überlief sie ein Schauder. Aber wieso? Sie hatte diesen fremdartigen Namen noch nie gehört.
»Ich muss dich jetzt loslassen«, rief Edric ihr zu. »Um das nächste Stück zu schaffen, brauche ich beide Hände.«
Er entzog ihr seine regennasse Hand, und sie sah zu, wie er gewandt die Felswand hinaufkletterte. Sie rappelte sich auf. Ihr war eiskalt und sie war durchnässt bis auf die Haut. Sie schlang die Arme wärmend um ihren Oberkörper und starrte in den grausamen Regen. Ihr Gesicht prickelte wie von tausend spitzen Nadelstichen.
Ein lautes, dröhnendes Schnauben ertönte hinter ihr. Als sie sich umsah, blickte sie geradewegs in den schwarzen Schlund unter sich. Sie hörte, wie riesige Krallen über das Gestein kratzten. Zwei rote Lichtpunkte kamen durch den Regen auf sie zu.
»Tania!«
Sie riss den Kopf herum. Edric beugte sich über den hohen Felsrand und hielt ihr seinen ausgestreckten Arm entgegen. Tania sprang hoch und bekam seine Hand zu fassen. Sie war kalt, viel kälter als zuvor, und der Griff war fest.
»Ich hab dich!« Die Stimme klang seltsam.
»Edric?«
Auf einmal war ein triumphierendes Lachen zu hören und im selben Augenblick erhellte ein Blitz das Gesicht der kauernden Gestalt über ihr.
Sie schrie auf.
Das war nicht Edric, sondern Gabriel Drake, der da mit wildem heimtückischem Blick auf sie herabsah.
Sie versuchte, ihre Hand freizubekommen, aber sein Griff lockerte sich nicht. Sie starrte auf ihre ineinander verschlungenen Hände, die in einem matten bernsteinfarbenen Licht glühten.
»Lass mich los!«, schrie sie.
»Niemals, Mylady«, brüllte er. »Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!«
Seine Finger gruben sich in ihre Hand, und mit erschreckender Kraft begann er sie die Felswand hochzuziehen. Im Gewitterschein sah sie den Wahnsinn in seinen silbrigen Augen. Sein Gelächter übertönte selbst den Donner. Regentropfen peitschten ihr ins himmelwärts gewandte Gesicht.
»Nein!«
Tania verlor den Boden unter den Füßen, wand sich in Gabriels Griff und trat um sich, während er sie unerbittlich immer weiter hinaufzog.
»Nein!«
Tania erwachte mit einem Ruck, der das ganze Bett erbeben ließ. Ihr Herz klopfte wild und sie musste sich zwingen, die Augen zu öffnen. Rasch blickte sie sich um. Die Vorhänge waren offen, der Raum taghell. Am Rand ihres Gesichtsfelds erblickte sie die bunten Geburtstagskarten.
Erleichtert seufzte sie auf und strich sich übers Gesicht. Sie war schweißgebadet, das Haar klebte ihr an Stirn und Wangen.
Sie lag komplett angezogen auf ihrem Bett in London. Es war nur ein Albtraum gewesen.
Ein paar Minuten blieb sie still und mit geschlossenen Augen liegen. Das Donnergrollen verhallte langsam, und auch das rote Feuer vor ihrem inneren Auge löste sich allmählich auf.
Sie nahm die Hände vom Gesicht und schlug die Augen auf. Tania atmete tief durch und setzte sich auf.
Die feuchten Kleider klebten ihr unangenehm am Körper. Sie schaute sich im Zimmer um, als wollte sie sich an den weltlichen Dingen festhalten, damit sie nicht wieder in den Traum zurückgezogen wurde. Dann griff sie nach ihrer Umhängetasche und zog ihren Ausweis heraus. Sie betrachtete das Passbild. Langes, lockiges rotes Haar umrahmte ihr herzförmiges Gesicht mit dem breiten Mund und den hohen, schräg stehenden Wangenknochen. Rauchgrüne Augen blickten sie an.
Anita Palmer.
Prinzessin Tania.
Zwei Mädchen mit ein- und demselben Antlitz, einem Herzen und nur einem Leben.
Aber für welches Leben sollte sie sich entscheiden? Und wo?
Ynis Maw.
Sie schauderte bei der Erinnerung an Gabriel Drakes Gesicht, sein grausiges Lächeln, seine weit aufgerissenen Augen, in denen sie das Weiße um die silbrige Iris herum sehen konnte. Tania verbarg ihre Hand unter der Bettdecke, als sie an seinen eisernen Griff dachte.
Ihr werdet nie von mir loskommen! Wusstet Ihr das nicht? Wir sind für alle Zeiten miteinander verbunden!
Unwillkürlich musste sie an die Vereinigung der Hände denken, die sie und Gabriel im Lichtsaal zelebriert hatten. Das Ritual war gegen ihren Willen vollzogen worden– ihre Schwester Rathina hatte sie mit einer List zu Gabriel gelockt. Er hatte flüssigen Bernstein über ihrer beider Hände gegossen, und sie hatte daraufhin sein wahres Wesen in seiner ganzen Tücke und Bösartigkeit erkannt.
Doch seine Pläne waren gescheitert. Plötzlich war Oberon aufgetaucht und hatte ihn überwältigt; Tania konnte sich noch gut an den Augenblick erinnern, in dem Gabriel verbannt worden war. An den schockierten Blick in seinen Augen, als der König sein Schicksal verkündet hatte.
Und dann, im Bruchteil einer Sekunde, war er verschwunden. Zurück blieb lediglich eine dünne, sich kräuselnde Rauchsäule, die sich wenig später in Luft auflöste.
Tania wusste, dass die Vereinigung der Hände lediglich das erste von vielen Hochzeitsritualen im Elfenreich bildete: Die Zeremonie dauerte drei volle Tage. Tania war also nicht wirklich mit Gabriel verheiratet, und doch war zwischen ihnen etwas geschehen– ein Band war geschmiedet.
Zum ersten Mal fragte sich Tania, was mit Gabriel geschehen war. Er war verschwunden– aber Oberon hatte ihn nicht getötet. Zur Strafe für seine Verbrechen wurde er verbannt. Aber wohin? Nach Ynis Maw?
Gab es diese Gegend wirklich? Ein schreckenerregendes Exil für Lord Gabriel? Rief Gabriel von dort aus nach ihr und erinnerte sie so an die unlösbare Verbindung zwischen ihnen beiden?
Tania erhob sich und trat schnell ans Fenster, wo sie die Stirn an die kühle Scheibe legte und in den Garten hinabblickte.
»Nein! Nein! Nein!«, flüsterte sie, das Glas beschlug von ihrem Atem. »Letztes Mal hat er mich nur gefunden, weil ich den Bernsteinanhänger getragen habe.« Sie biss die Zähne zusammen. »Aber das wird mir nicht noch mal passieren. Niemals!«
Angenommen, Ynis Maw existierte tatsächlich– konnte ein so mächtiger Mann wie Gabriel Drake von dort fliehen?
»Das wird Oberon nicht zulassen«, sagte sie laut. »Er hat dafür gesorgt, dass Gabriel niemals zurückkehren kann.«
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unangenehm sich die geliehenen Kleider auf ihrer Haut anfühlten. Sie ging zurück zum Bett und warf einen Blick auf den Wecker.
Halb vier. Auf dem Teppich lag das Handy. Sie setzte sich auf die Bettkante und hob es auf. Sie hatte eine SMS bekommen. Von ihrer besten Freundin Jade.
Du böses Mädchen! Wir wollen alle schmutzigen Details hören! Komm nach Schulschluss zur Pizzeria!
Tania lächelte. Typisch Jade! In der Schule hatte sich anscheinend schon herumgesprochen, dass sie gesund und munter war, und jetzt wollte Jade alle Einzelheiten hören.
Auf einmal überkam Tania unbändige Lust, ihre Schulfreundinnen zu treffen, aber… »Sorry, Jade«, sagte sie laut. »Diesmal kann ich dir leider nicht die Wahrheit sagen.« Sie schrieb zurück: Ich komme.
»So, und jetzt muss ich dringend unter die Dusche«, beschloss sie. Als sie sich vom Bett erhob, fiel ihr der schwarze Bernstein wieder ein. Sie fischte ihn aus der Tasche und ging mit ihm zum Tisch. Dort setzte sie sich, nahm eine Nagelschere aus der Schublade, hielt den flachen Stein zwischen Finger und Daumen und begann, ein Loch hineinzubohren. Bald war eine kleine runde Kerbe entstanden. Tania arbeitete ein paar Minuten weiter, bis ein kleines Loch zu sehen war. Dann nahm sie ein Stück lilafarbenes Band, fädelte es durch das Loch und band sich den Stein ums Handgelenk.
Um sicherzugehen, dass das improvisierte Armband auch gut hielt, schüttelte sie ein paarmal die Hand. Dann zog sie ein Metalllineal aus einer Schublade und umschloss es fest mit der Hand. Sie bemerkte ein schwaches Kribbeln in den Fingern, so als hielte sie eine winzige Fliege in der Hand. Das war alles. Eisen stellte jetzt keine Gefahr mehr für sie dar.
Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Zuerst die Dusche, und dann war es schon an der Zeit, Jade und die anderen zu treffen.
Tania kehrte in ein Badetuch gewickelt und mit einem Handtuchturban um ihr nasses Haar ins Zimmer zurück. Abgesehen von der Tatsache, dass es Donnerstag war und sie eigentlich in der Schule hätte sein müssen, fühlte sich langsam alles wieder angenehm normal an. Die Poster an den Wänden, die gestapelten Schulbücher auf ihrem Schreibtisch, ihre über das gesamte Zimmer verstreuten Habseligkeiten. Ihre Pinnwand mit Zeitschriftenbildern, Postkarten und alten Kinotickets. Das Foto aus dem Automaten, auf dem sie und Jade Grimassen zogen. Der Schnappschuss von ihr und Edric– damals natürlich noch Evan– im Hyde Park. Sie standen auf einer Bank, spielten Romeo und Julia und gestikulierten übertrieben theatralisch, während Jade sie mit ihrer Digitalkamera aufnahm.
Dies hier war die Realität. Das Elfenreich war… was? Eine Illusion? Nein, das auch wieder nicht. Und doch schien es nicht so wirklich wie dieses Zimmer. Dennoch wusste sie, dass es real war.
Ohne groß nachzudenken, machte Tania den einfachen Seitwärtsschritt, der die Tür zwischen den Welten öffnete.
Augenblicklich löste sich der Raum um sie herum auf und sie atmete aus. Statt des weichen Teppichs befand sich nun harter Dielenboden unter ihren nackten Füßen. Und statt ihres Zimmers erblickte sie glatte braune Wände aus unverputztem Mauerwerk. Der Raum, in den sie getreten war, war kreisrund, hatte eine niedrige Decke mit dunklen Holzbalken und ein schmales, unverglastes, bogenförmiges Fenster, durch das goldenes Sonnenlicht hereinströmte.
»Ich Idiot!«, sagte sie laut. »Ich war im ersten Stock und hätte genauso gut mitten in der Luft landen können!« Sie lachte, weil sie so viel Glück gehabt hatte: Sie war im Elfenreich in einem Gebäude angekommen, in einem Raum, der auf derselben Höhe lag wie ihr Zimmer in Camden.
Wie sie aus Erfahrung wusste, hatte vieles im Elfenreich seine Entsprechung in der Welt der Sterblichen und umgekehrt– beinahe so, als wäre alles, was man sah, gleichzeitig auf zwei Fotos abgebildet, die übereinanderlagen. Sie nahmen denselben Raum ein, aber in zwei verschiedenen Welten. Für Tania war der Übertritt von einer Welt in die andere so einfach, wie wenn sie von einem Zimmer in das nebenan ging; dies war ihre Gabe, niemand sonst im Elfenreich konnte zwischen den Welten wandeln, ohne einen mächtigen und gefährlichen Zauber anzuwenden.
Sie tapste zum Fenster. Die Luft des Elfenreichs wehte ihr entgegen, sie duftete so süß wie Rosen, so betörend wie Geißblatt, so geheimnisvoll wie die Mondblume. Durch das Geflecht aus dünnen Ästen und Blättern hindurch sah sie über das grüne Parkgelände hinweg, das zum Königspalast hin sanft abfiel.
War sie wirklich erst gestern mit ihrer Schwester Cordelia und einer Meute Hunde über diese grasbewachsenen Hügel spaziert?
Zu ihrer Linken erblickte sie in der Ferne die vertrauten Türme und Wachhäuschen hinter der großen Gartenanlage, die von gelblichen Wegen durchzogen wurde. Gelegentlich waren Brunnen und elegante weiße Marmorstatuen zu sehen. Tania konnte die entfernten Umrisse von Spaziergängern ausmachen, die von hier oben nicht größer als Schachfiguren schienen. Die Gebäude dort waren die königlichen Privatgemächer, in denen König Oberon mit seinen Töchtern wohnte. Irgendwo in dem gotischen roten Backsteingebäude mit seinen spitz zulaufenden grauen Schieferdächern und cremefarbenen Steinverzierungen, befand sich auch ihr Prinzessinenzimmer.
Das Gebäude, in dem sie sich jetzt befand, gehörte dagegen nicht zum Hauptteil des Palastes; es war ein kleiner Turm oben auf einem Hügel, umgeben von einem Hain aus Espenbäumen.
Gegenüber dem offenen Fenster schmiegte sich eine steinerne Wendeltreppe an die gebogene Turmwand; sie schlängelte sich vom Erdgeschoss bis zu einer hölzernen Falltür in der Zimmerdecke. Tania sehnte sich danach, den gewundenen Stufen hinunter zum Erdgeschoss zu folgen und ins Freie zu laufen, das Gras unter den nackten Füßen und den Wind im Gesicht zu spüren.
Sie lachte auf. »Nur mit einem Handtuch bekleidet?«, sagte sie laut. »Nein, ich glaube, das lasse ich wohl besser.«
Das Elfenreich würde schließlich immer für sie da sein. Mit einem kleinen Seitwärtsschritt konnte sie zurückkehren, wann immer sie wollte.
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick durch das Fenster drehte sie sich um und betrat wieder die Welt der Sterblichen. Sie kam in ihrem Zimmer an, gerade als ihre Mutter hinausgehen wollte.
»Wo um alles in der Welt kommst du denn plötzlich her?«, stieß ihre Mutter hervor.
Tania schluckte.
Denk nach! Sie deutete hinter das Bett. »Ich war da unten«, sagte sie. »Ich habe einen Schuh unter dem Bett gesucht.«
»Du hättest ja wenigstens was sagen können– ich hab dich doch gerufen!«
»Sorry, ich hab dich nicht gehört.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Was gibt’s denn?«
Ihre Mutter warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich mit dem Polizeibeamten gesprochen habe, der für Vermisstenanzeigen zuständig ist.«
Tania erschrak. »Ich muss aber doch nicht mit der Polizei reden, oder? Dad hat gesagt, dass alles in Ordnung ist.«
»Es ist ja auch alles in Ordnung«, sagte ihre Mutter. »Aber ich musste ihnen doch mitteilen, dass du wieder aufgetaucht bist. Sie werden keine weiteren Schritte einleiten.«
Erleichterung stieg in ihr auf. »Danke, Mum. Das hast du toll gemacht.«
Ihre Mutter warf ihr ein ironisches Lächeln zu. »Ja, nicht wahr? In zehn Jahren werden wir vielleicht alle mal darüber lachen.«
»Ja, hoffentlich«, sagte Tania. Nachdenklich sah sie ihre Mutter an; vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, eine neue Mini-Bombe hochgehen zu lassen. »Mum? Wie würdest du es finden, wenn ich meinen Namen ändern würde?«
Ihre Mutter schaute sie verwirrt an. »Wie meinst du das?«
Tania holte tief Luft. »Ich würde lieber Tania genannt werden.«
Ihre Mutter stand ein paar Minuten schweigend in der Tür. An ihrer Miene war nicht abzulesen, was sie dachte. War sie wütend auf Tania? Belustigt? Verwirrt?
»Tania?«, sagte ihre Mutter endlich zögernd, als müsse sie sich an den Klang dieses Namens gewöhnen.
»Ja. Würde dich das sehr stören?«
Ihre Mutter verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite. »Tania ist ein ziemlich schöner Name, finde ich«, sagte sie. »Dein Vater und ich könnten uns wahrscheinlich daran gewöhnen, dich so zu nennen, wenn du das wirklich willst. Aber solange er nicht offiziell geändert wird, kannst du nicht als Tania Palmer unterschreiben.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich nehme an, Palmer ist aber noch okay, oder?«
Tania lächelte. Sie wünschte sich, sie könnte ihrer Mutter sagen, wie viel ihr das bedeutete. »Ja«, entgegnete sie und meinte es auch so. »Palmer ist völlig in Ordnung!«
Wie immer um diese Zeit war die Pizzeria gut besucht von jungen Leuten, die auf dem Heimweg nach der Schule hereinschneiten, um einen Happen zu essen und sich mit ihren Freunden zu treffen.
Tania besetzte mit ihren Freundinnen einen Ecktisch. Jede hatte einen Milchshake vor sich stehen und sie aßen gemeinsam von einer großen Pizza in der Mitte des Tisches. Auf Tanias Tischseite lagen viele Geburtstagskarten und ausgewickelte Geschenke von Jade, Natalie, Rosa, Susheela und Lily.
Da waren Lippenbalsam und Handcreme, Wattebällchen in einer Chromdose, auf der Mädchenkram eingraviert war, ein pinkfarbener Notizblock mit weißen Punkten und dazu passendem Kugelschreiber, ein farbiger Fotorahmen und ein Kosmetiktäschchen mit der Aufschrift Verwöhnte Prinzessin, bei dessen Anblick Tania unwillkürlich schmunzeln musste. Von Jade bekam sie ein sehr hübsches Silberarmband mit eingesetzten grünen Steinen.
»Also, ich finde es ja total doof, dass du deinen Geburtstag nicht feierst«, sagte Rosa zu Tania. »Wer hat denn bitteschön keine Zeit zum Feiern?«
Tania zuckte die Achseln. »Jemand, der noch viel Text aus einem echt schwierigen Theaterstück lernen muss, das nächste Woche Premiere hat. Ich will ja feiern, bloß nicht sofort.«
»Vergiss die Party«, sagte Jade und blickte Tania durchdringend an. »Ich möchte jetzt endlich wissen, was mit dir und Evan war.«
»Sorry, dass ich euch da leider enttäuschen muss«, sagte Tania so locker-lässig wie möglich. »Es ist gar nichts zwischen uns passiert– wenn du meinst, was ich denke, das du meinst.«
»Ach, komm schon!«, schnaubte Lily. »Das ist nicht dein Ernst! Ihr zwei hängt jetzt seit Wochen zusammen und könnt nicht voneinander lassen.«
»Und dann seid ihr beide drei Tage lang einfach verschwunden«, fügte Susheela hinzu. »Und drei ganze Nächte!«
»Uns kannst du’s doch sagen«, drängte Natalie. »Wir sind deine besten Freundinnen.«
»Ich habe euch bereits alles erzählt, was es zu erzählen gibt«, sagte Tania. »Mehr ist da nicht. Außer, dass Mum und Dad mir verboten haben, ihn nach der Schule zu sehen. Das ist natürlich echt fies.«
Jade grinste. »Na, was hast du denn erwartet? Ich finde es eher erstaunlich, dass sie ihm nicht die Polizei auf den Hals gehetzt haben, weil er dich entführt hat. Und was das Ausgehverbot betrifft– das ist doch gar nichts! Meine Eltern hätten mich eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen, wenn ich so ein Chaos verursacht hätte. Du warst drei Tage weg, Anita! Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mich die ganze Zeit kein einziges Mal angerufen hast.«
»Stimmt«, sagte Lily. »Du hättest ja wenigstens eine Karte à la: ›Schade, dass ihr nicht dabei seid‹ aus eurem heimlichen Versteck schicken können, wo immer ihr wart.«
Tania seufzte. »Wir haben uns nirgends versteckt! Und denkt bitte dran, dass ich ab jetzt Tania genannt werden will?«
»Okay, Tania«, erwiderte Jade mit eigenartigem Nachdruck. »Wir werden’s versuchen, Tania.«
»Warum gerade ›Tania‹?«, fragte Natalie. »Also, mal abgesehen davon, dass sich der Name aus den Buchstaben von Anita zusammensetzt– was ist so toll daran?«
Tania runzelte die Stirn. Die Übereinstimmung der Buchstaben war ihr noch gar nicht aufgefallen. »Mir gefällt der Name einfach.«
»Ich wette, es war Evans Idee«, vermutete Lily. »Los, gib’s schon zu. Evan wollte, dass du deinen Namen änderst.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte Tania.
»Das ist doch irgendwie die Ironie des Schicksals, oder?«, meinte Jade und gestikulierte mit einem schlaffen Stück Pizza in der Hand herum. »Du und Evan, ihr spielt Romeo und Julia, und jetzt haben deine Eltern dir verboten, ihn zu treffen– das ist genau wie im Stück!«
»Hoffentlich nicht«, sagte Tania. »Die beiden sterben am Schluss.«
Natalie grinste. »Du willst also nicht aus Liebe zu ihm sterben?«
»Nein danke!«
»Hey, wo wir gerade von Leuten sprechen, die aus Liebe sterben«, sagte Susheela plötzlich. »Habt ihr zufällig die letzte Folge von Spindrift gesehen? Coral Masters ist ja wohl total peinlich!«
Spindrift war eine Seifenoper, die täglich ausgestrahlt wurde und die alle in der Schule sahen, aber Tania konnte einfach nicht die nötige Begeisterung aufbringen, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Während die anderen weiterplapperten, überkam sie das Gefühl, innerlich weit weg in der Elfenwelt zu sein und ihre Freundinnen aus großer Entfernung zu beobachten.
Sie dachte an ihre Elfenschwestern und fragte sich, was Sancha und Hopie wohl von Pizza und Milchshakes halten würden. Und von Fernsehen und Radio und Filmen– all dies gab es nämlich im Elfenreich nicht. Wenn man Lust auf Unterhaltung hatte, musste man schon selbst dafür sorgen. Tania war sich sicher, dass Cordelia die Menschenmassen in London verabscheuen würde, auch wenn Zara die Großstadt vielleicht lustig fände. Ja, die Musik liebende Zara konnte sie sich gut in einem Club vorstellen!
»Wann fahrt ihr los?«, drang Lilys Stimme in Tanias Gedanken.
»Dienstag in einer Woche«, sagte Jade. »Florida, wir kommen!«
Tania wurde klar, dass ihre Freundin über die bevorstehenden Ferien sprach. »Kommt Dan auch mit?«, wandte sie sich an Jade. Dan war Jades älterer Bruder, der bereits auswärts auf die Uni ging.
»Wir haben jedenfalls ein Flugticket für ihn«, sagte Jade. »Aber als ich letztes Mal mit ihm gesprochen habe, war er noch ziemlich unentschlossen. Einige seiner Studienfreunde reisen den ganzen Sommer mit dem Rucksack durch Indien, und er hat überlegt, ob er sich nicht dranhängt.«
»Hast du denn schon irgendwas für die Ferien geplant, Anita?«, fragte Natalie. »Ups! Tut mir leid. Tania, meine ich.«
»Versuch’s doch mal mit Tanita«, schlug Rosa vor. »Oder Anitania.«
»Wahrscheinlich fahren wir nach Cornwall«, antwortete Tania, ohne auf Rosas Zwischenbemerkung einzugehen.
»Wow!«, sagte Jade mit gespielter Überraschung. »Schon wieder Cornwall! Nein, wie exotisch!« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommt es eigentlich, dass deine Eltern nie ins Ausland reisen, Tania? Wie kommt’s, dass du noch nie in deinem ganzen Leben in einem wirklich aufregenden Land warst?«
Tania lächelte nur wortlos.
Wenn ihr vom Elfenreich wüsstet…