III

Der Freitagvormittag in der Schule war eigenartig. Tania fand es peinlich, dass ihr Vater auf den Lehrerparkplatz fuhr und gemeinsam mit ihr im Vorzimmer des Schulleiters wartete, während alle, die an ihnen vorbeigingen, ihr seltsame Blicke zuwarfen.

Die Unterredung bei MrCox war gar nicht so furchtbar schlimm; natürlich musste sie sich die erwartete Standpauke über verantwortungsbewusstes Verhalten anhören und darüber, dass man erst nachdenken solle, bevor man handle. Die Schärfe der Ermahnung wurde nur dadurch abgemildert, dass alle der Meinung waren, sie sei nach dem Unfall verwirrt gewesen.

Der Direktor bat sie deshalb, gleich zu melden, falls sie Nachwirkungen wie Kopfschmerzen oder Ähnliches spüre, dann entließ er sie. Nachdem Tania sich von ihrem Vater verabschiedet hatte, wappnete sie sich innerlich gegen die Neugier ihrer Mitschüler. So übel wie befürchtet kam es dann aber doch nicht, denn sobald klar war, dass sie zu ihrer Abwesenheit nicht mehr zu sagen hatte, als ihre besten Freundinnen schon wussten, verloren die anderen bald das Interesse und ließen sie in Ruhe.

In der ersten Vormittagspause gelang es Tania, sich unbemerkt davonzustehlen, um Edric zu sehen. Er erwartete sie an der Treppe, die zu den leer stehenden Lagerräumen führte.

Ihm war es ähnlich ergangen wie ihr: Seine Unterredung mit dem Schulleiter hatte sich auf die Gefahr der Selbstüberschätzung konzentriert, die dazu führen könne, dass man andere Gefahren aussetze– eine unverhohlene Anspielung auf den Bootsunfall. Edric war außerdem offiziell dazu angehalten worden, sich von Anita fernzuhalten. Der Schulleiter hatte ihm erzählt, dass Mr und MrsPalmer ihrer Tochter verboten hatten, ihn außerhalb der Schule zu treffen, und hatte ihn gebeten, deren Wünsche zu respektieren und nicht alles noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon war.

Genau wie bei Tania war die Neugier seiner Mitschüler bald versiegt, als er ihnen klar gemacht hatte, dass er keine Geheimnisse zu enthüllen hatte.

Tania streifte ihren Ärmel zurück und zeigte ihm das selbst gebastelte Armband mit dem schwarzen Bernstein.

»So was hab ich auch!«, sagte er lächelnd, während er ihr seinen Stein zeigte, den er an einem dünnen schwarzen Bändel am Handgelenk trug.

»Glaubst du eigentlich, dass ich jetzt für immer allergisch auf Metall reagiere?«, fragte sie. »Oder lässt die Unverträglichkeit nach, wenn ich eine Zeit lang hier bleibe?«

»Keine Ahnung«, meinte Edric und nahm ihre Hand. »Aber an deiner Stelle würde ich’s nicht ausprobieren. Es sei denn, du stehst auf Schmerzen.«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Das wäre zu gefährlich.« Sie drückte seine Hand und legte ihren Kopf an seine Schulter. Es war schön, ihm wieder ganz nahe zu sein, auch wenn es nur für wenige Minuten und im Geheimen war.

»Dass deine Eltern uns voneinander fernhalten wollen, macht die Sache ziemlich vertrackt«, meinte er.

»Was du nicht sagst!«, seufzte Tania. »Man möchte kaum glauben, dass ich eine Elfenprinzessin bin! Sie haben gesagt, wenn ich mich gut benehme, können wir in einem Monat noch mal drüber reden.«

»Ich hatte gehofft, wir könnten schon früher mit der Suche nach Königin Titania beginnen«, sagte Edric.

»Ich auch, aber ich weiß nicht, wie das gehen soll. Meine Eltern werden in der nächsten Zeit mit Argusaugen über mich wachen. Ich werde mich nicht fortschleichen können, ohne dass sie es merken, und ich will sie nicht immer anlügen müssen.«

»Versteh ich gut.« Edric strich ihr übers Haar. »Das muss echt hart für dich sein. Aber die Spur wird kalt, wenn wir zu lange warten. Der einzige Hinweis, den wir bis jetzt haben, ist die Tatsache, dass dein Seelenbuch in Richmond abgeschickt wurde. Ein Päckchen von dieser Größe passt nicht in den Briefkasten, daher muss es auf einem Postamt aufgegeben worden sein.«

Tania nickte, schloss die Augen und genoss das sanfte Streicheln seiner Hände über ihr Haar. »Gut kombiniert«, murmelte sie.

»Ich bin heute Morgen im Computerraum gewesen und habe im Internet recherchiert«, fuhr Edric fort. »In Richmond gibt es nur zwei Postämter– eins nördlich und eins südlich der Themse.«

»Das grenzt die Suche ein.«

»Wenn wir also möglichst rasch dorthin können, besteht die Chance, dass sich noch jemand an Königin Titania erinnert– immerhin fällt sie ziemlich auf.«

Tania hob den Kopf und blickte ihn an. »Sie sieht genauso aus wie ich«, sagte sie. »Nur älter.«

Edric nickte. »Und schau dich an, mit deinen unglaublichen Haaren und diesem Gesicht und den fantastischen Augen. Keiner, der dich gesehen hat, würde dich so schnell vergessen.«

Tania unterdrückte ein verlegenes Kichern. »Ich wusste ja gar nicht, dass ich so besonders aussehe.«

»Doch, tust du«, sagte Edric. »Und das sage ich nicht nur, weil ich dich liebe. Du bist unglaublich schön!«

»Aber Titania ist jetzt seit fünfhundert Jahren hier«, sagte Tania. »Ich weiß, dass Elfen ewig leben, aber bestimmt ist sie ein bisschen gealtert. Du weißt schon, mit grauen Haaren und Falten und so.«

Edric lächelte und nahm ihre Hände in die seinen. »Es ist schwer zu begreifen, aber wir altern nicht– jedenfalls nicht so wie die Sterblichen. Es gibt keinerlei Grund zu der Annahme, dass die Königin nicht noch haargenau so aussieht wie vor fünfhundert Jahren.« In seine Augen trat ein abwesender Blick. »Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als ich sie gesehen habe«, sagte er. »Es war beim Fest zum Weißen Hirschen– eine Woche, bevor du verschwunden bist und das Unglück seinen Lauf nahm.« Er nahm Tanias Gesicht in beide Händen. »Sie war fast so schön wie du«, sagte er. »Nicht ganz– aber fast.«

Von Gefühl überwältigt, lehnte sie ihre Stirn an die seine. »Oh, Edric«, sagte sie. »Was soll ich nur einen ganzen Monat lang ohne dich machen?«

»Ich bin für dich da«, versicherte er und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Ich werde hier sein, und auch wenn wir uns nicht so oft sehen können, wie wir es gerne tun würden, können wir doch noch telefonieren und uns Nachrichten schicken. So schlimm wird es also nicht. Außerdem bin ich in Geduld geübt– wir im Elfenreich haben die letzten fünfhundert Jahre gewartet.«

Sie seufzte. »Was ich wohl in der ganze Zeit in der Welt der Sterblichen getan habe? Mir kommt es ganz schön seltsam vor, dass ich Jahrzehnte hier gelebt habe, aber nicht weiß, wer ich war und was ich so gemacht habe.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wie ich starb. Oder auch nur, wie oft ich gestorben bin.«

»Zerbrich dir doch darüber nicht den Kopf«, sagte Edric. »Konzentrieren wir uns lieber auf die Zukunft und darauf, Titania zu finden.«

Tania riss sich aus ihren düsteren Gedanken. »Du hast Recht«, sagte sie. »Hoffen wir also, dass sich jemand im Postamt von Richmond an sie erinnert– aber selbst wenn, was bringt uns das?«

»Dann haben wir wenigstens eine vage Ahnung, wo wir in Richmond suchen müssen«, sagte Edric. »Angenommen, sie ist zu dem Postamt gegangen, das in der Nähe ihrer Wohnung oder ihrer Arbeitsstelle liegt, dann können wir in den umliegenden Läden und Büros herumfragen. Aber wenn wir zu lange mit der Suche warten, wird es immer unwahrscheinlicher, dass sich jemand an sie erinnert, und dann haben wir doppelt so viel Arbeit.«

»Ja, das sehe ich ein«, sagte Tania. »Ich sag dir was: Ich versuche am Samstag wegzukommen. Wenn ich es schaffe, meinen Eltern weiszumachen, dass ich eine Theaterprobe habe, können wir heimlich nach Richmond fahren.«

Die Schulklingel ertönte zum Pausenende.

»Bis zur Probe heute Nachmittag«, sagte er.

Sie nickte. Als sie begann, die Treppe hinaufzugehen, sprach er leise hinter ihr. »Nun gute Nacht! So süß ist Trennungswehe…«

Sie drehte sich lächelnd um. »Das ist Julias Text«, sagte sie.

»Ich weiß, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.«

»Weißt du, was du bist?«, fragte sie, während sie weiterging.

»Edric Chanticleer, Höfling im Elfenpalast, einst im Dienst des Verräters Gabriel Drake, jetzt einzig und allein König Oberon und seiner Familie verpflichtet.«

»Nein, ein hoffnungsloser, verrückter Romantiker.«

Die Theaterprobe in der Aula lief gut.

Tania saß mit dem Textbuch auf dem Schoß da und versuchte, sich ihre Zeilen einzuprägen, während sie ab und zu einen Blick zur Bühne riskierte, wo MrsWiseman Edric und einem anderen Jungen beibrachte, wie man ein Fechtduell simuliert.

»Wichtig ist, dass es echt aussieht«, sagte MrsWiseman und schwang Romeos Schwert. »Aber natürlich, ohne dass ihr dem anderen die Augen ausstecht! Okay, Evan, probier’s mal, und denk an das, was ich dir über Haltung und Balance gesagt habe.«

»Ich versuch’s«, sagte Edric und nahm das Schwert in die Hand.

Er probierte ein paar Positionen aus, stieß den Degen mit der Plastikspitze nach vorn und drehte das Handgelenk, sodass er mit der Klinge einen kreisförmigen Bogen beschrieb. Der Junge, der den Tybalt spielte, starrte entgeistert auf Edrics Klinge, die die Luft durchschnitt, während sein eigener Degen zu Boden fiel.

»Oh! Sehr gut, Evan!«, sagte MrsWiseman. »Hattest du schon mal Fechtunterricht?«

Edric lächelte entschuldigend. »Ist schon ein Weilchen her. Es waren auch nur ein paar Stunden.«

Tania schmunzelte. Ein paar? Edric hatte fast fünfhundert Jahre Training hinter sich. Das Fechten war im Elfenreich fester Bestandteil der Erziehung, bei Jungen wie bei Mädchen.

Edrics und Tanias Blicke trafen sich und er zwinkerte ihr zu.

Ungefähr eine Stunde später war die Probe zu Ende und alle machten sich zum Gehen fertig.

»Montagnachmittag proben wir das nächste Mal«, entschied MrsWiseman. »So könnt ihr das Wochenende nutzen, um euren Text zu lernen. Ich erwarte von allen, dass ihr den Text aus dem Effeff beherrscht, wenn ich euch das nächste Mal sehe.«

Tania und Edric hatten keine Sekunde für sich alleine, und nach einem kurzen, traurigen Abschied vor den anderen Schülern schlich sich Edric zum Seiteneingang hinaus, um Tanias Vater aus dem Weg zu gehen, der schon am Vordereingang im Auto auf seine Tochter wartete.

»Na, wie war’s?«, fragte er. »Gab’s irgendwelche Probleme?«

»Nein, überhaupt keine«, erwiderte Tania, während ihr Vater den Wagen anließ.

Während des gesamten Heimwegs fragte er kein einziges Mal nach Edric und sie schnitt das Thema auch nicht an. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, dachte sie.

»Alle, die bei der Aufführung dabei sind, machen nächste Woche einen Ausflug ins Globe Theatre«, erzählte sie ihrem Vater.

»Ach ja?«, erwiderte er. »Liegt das nicht an der Themse?«

»Ja, stimmt. Angeblich ist es eine exakte Nachbildung des Theaters, das dort zu Elisabeths Zeiten stand, als Shakespeares Stücke uraufgeführt wurden. MrsWiseman glaubt, der Ort würde uns inspirieren und wir spielen besser, wenn wir mal das Original gesehen haben.«

»Das macht bestimmt Spaß«, meinte ihr Vater. »Und wo wir gerade von Spaß reden: Deine Mum hat mit dem Besitzer des Ferienhäuschens in Tintagel telefoniert, wo wir letzten Sommer waren. Wir haben es ab nächsten Montag für vierzehn Tage gebucht. Was sagst du dazu?«

»Klingt toll«, sagte Tania und verbarg sorgfältig ihre Bestürzung. Ein Familienurlaub bedeutete ein weiteres Hindernis bei der Suche nach Titania.

»Dann war MrsWiseman also nicht verärgert, dass du mehrere Proben verpasst hast?«, fragte ihr Vater.

»Nein, sie hat nur ein paar spitze Bemerkungen über die Zusammenarbeit mit Primadonnen gemacht und dann weitergeprobt.«

»Für dich gibt es wahrscheinlich ein paar Extraproben, damit du alles aufholst, was du versäumt hast.«

»Ja, das nehme ich an.«

»Möchte sie, dass du morgen kommst?«

Morgen war Samstag, der Tag, an dem sie und Edric nach Richmond wollten.

Tania sah ihren Vater entschuldigend an. Er hatte ihr unabsichtlich geholfen, eine Lüge zu vermeiden. »Ja, es steht einiges an«, sagte sie. »Hättest du was dagegen, wenn du mich gegen zehn Uhr morgens hinfährst?«

»Kein Problem«, sagte er. »Und wenn du fertig bist, ruf mich einfach an, dann komme ich dich gleich abholen.«

»Das brauchst du nicht– ich kann allein nach Hause kommen.«

»Auf keinen Fall«, sagte ihr Vater resolut. »Ich hole dich von der Schule ab, okay?«

Tania nickte.

»Ach, übrigens«, sagte ihr Vater und wechselte dabei das Thema. »Was ist eigentlich mit dem Buch passiert? Du weißt schon, dieses schöne alte Buch mit dem Ledereinband, das wir dir zum Geburtstag ins Krankenhaus gebracht haben; der Band den dir ein geheimnisvoller Fremder geschickt hat.«

Tania wusste genau, wo sich das Buch befand. Es stand wieder an seinem angestammten Platz in der großen Bibliothek im Elfenpalast– zwischen dem Seelenbuch ihrer Schwester Zara und dem ihres Onkels, des Grafen Marshall Cornelius.

»Keine Sorge«, entgegnete Tania und blickte aus dem Autofenster. »Ich verwahre es an einem sicheren Ort.«