XIV

Trotz Sanchas tröstender Worte fühlte sich Tania verantwortlich für die Gräuel, die jetzt im Elfenreich geschahen, und dies belastete sie sehr. Durch Tanias Nachlässigkeit hatte Rathina jene Waffe in die Hand bekommen, die sie für die Befreiung von Lyonnesee gebraucht hatte.

Tania hatte sich selbst gerühmt, die Retterin des Elfenreichs zu sein, die Prinzessin, die Licht und Freude dorthin zurückgebracht hatte. Und jetzt war sie nicht nur verantwortlich dafür, dass Furcht und Schrecken über das Elfenreich hereingebrochen waren, sondern, wenn Sancha Recht behielt, auch für den Horror, der bald Londons Straßen heimsuchen würde.

»Die Grauen Ritter werden dem Hexenkönig inzwischen berichtet haben, was sich in Bonwn Tyr zugetragen hat«, sagte Sancha. »Er weiß, dass die Welt der Sterblichen eine Art Spiegelbild des Elfenreichs ist. Auch wenn es Eden gelungen ist, das Portal wieder vollständig zu versiegeln, hat Lyonesse immer noch das Pirolglas. Er wird herausfinden, an welcher Stelle wir hier herausgekommen sind, dann wird er seine Ritter auf unsere Spur hetzen, damit sie uns töten, bevor wir mit unserer Mutter in Verbindung treten können.« Sancha hatte die Hände auf dem Tisch verschränkt und ihre Knöchel traten weiß hervor. »Die Sache duldet keinen Aufschub. Das Schicksal zweier Welten liegt in unserer Hand.«

Tania starrte sie an. »Aber was können wir tun?«

Sanchas Miene versteinerte sich. »Den Luxus der Unentschlossenheit kannst du dir nicht leisten, Tania«, sagte sie. »Wir kennen uns in dieser Welt nicht aus. Du musst uns führen.« Die Ermahnung klang wie ein Peitschenhieb. »Sei stark, Tania! Wo ist die Königin?«

»In China, ungefähr zehntausend Meilen entfernt.«

»So weit entfernt?«, echote Cordelia entsetzt. »Wie sollen wir rechtzeitig zu ihr gelangen?«

»Gar nicht«, sagte Tania. »Sie kommt bald zurück. Ich weiß leider nicht genau, wann.« Plötzlich überfiel sie eine starke Sehnsucht. »Ich muss Edric anrufen. Er wird es wissen.« Ihre Augen wurden groß und wirkten verzweifelt. »Und was soll ich Jade bloß sagen? In zehn Stunden wollte ich mit ihr nach Florida fliegen.«

»Fliegen?«, hauchte Zara. »Ich dachte, es gibt keine Zauberkünste mehr in dieser Welt. Wie fliegst du? Sterbliche haben doch keine Flügel.«

»Wir haben Flugzeuge«, sagte Tania. »Aber es würde zu lange dauern, dir das genauer zu erklären.« Sie stand auf. »Ich werde Edric anrufen. Er muss uns helfen.«

»Ihn anrufen?« Sancha sah verwirrt aus. »Wie soll er dich hören?«

»Wir haben Maschinen, mit deren Hilfe wir auch über große Distanzen miteinander sprechen können«, erklärte Tania. »Mein Telefon ist oben. Ich bin gleich zurück. Passt bitte auf, dass ihr nichts anfasst. Wenn ihr Hunger habt, mache ich euch später etwas zu Essen.«

Sie rannte in ihr Zimmer. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum die Tasten ihres Handys drücken konnte. Sie beschloss, zuerst die Andersons anzurufen.

Jades Mutter hob ab.

»MrsAnderson? Hier ist Tania… Anita Palmer.«

»Ach, hallo Liebes. Warte, ich hole Jade.«

»Nein, warten Sie: Es tut mir echt leid, ich fand es total nett von Ihnen, dass Sie mich in den Urlaub mitnehmen wollten, aber ich kann nicht… ich kann nicht mitkommen.«

Eine kurze Pause entstand. »Ist irgendetwas passiert?«

»Nein, nichts Schlimmes«, antwortete Tania.

»Du kannst doch nicht einfach im allerletzten Moment absagen«, entgegnete MrsAnderson scharf. »Was soll das alles, Anita?«

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Tania. »Aber mir ist plötzlich klar geworden, dass ich im Augenblick wirklich bei meinen Eltern sein sollte. Nach allem, was geschehen ist. Ich dachte zuerst, es würde mir guttun wegzufahren, aber ich muss einfach bei ihnen sein.« Das war nicht mal gelogen: Sie sehnte sich sehr danach, bei ihrer Elfenmutter und ihrem Elfenvater zu sein, so sehr, dass es schmerzte. »Können Sie das verstehen?«

»Na ja, doch, schon, Anita, aber sind deine Eltern denn nicht schon losgefahren?«

»Ja, ich werde den Zug nehmen. Ich habe schon die Abfahrtszeiten rausgesucht. Das klappt schon. Allerdings muss ich sofort los.«

»Na ja, ich nehme an, dass wir das Flugticket der Fluggesellschaft zurückgeben können«, sagte MrsAnderson mit deutlicher Verärgerung in der Stimme. »Du hättest dir das wirklich früher überlegen können, Anita. Jade wird sehr enttäuscht sein.«

»Das weiß ich. Bitte sagen Sie ihr, dass es mir wirklich sehr leidtut, dass ich sie so hängen lasse.«

»Das mache ich.« Eine Pause entstand. »Bist du wirklich ganz sicher, dass du weißt, was du tust?«, fragte MrsAnderson. »Cornwall ist ganz schön weit weg.«

»Keine Sorge«, sagte Tania. »Ich habe eine direkte Verbindung rausgesucht und vom Bahnhof aus nehme ich mir ein Taxi direkt zu unserem Ferienhaus. Ich rufe Sie an, sobald ich dort angekommen bin.«

»Na gut, wenn du dir so sicher bist.«

»Ja, das bin ich. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Richte Sie Jade bitte aus, dass ich sie bald anrufe. Tschüss.«

Tania legte auf. Damit war schon mal ein Problem gelöst, zumindest für den Moment, denn es war sinnlos, sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen, was geschehen würde, wenn ihre Eltern herausfanden, dass sie nicht nach Florida geflogen war.

Tania zitterte am ganzen Körper. Sie atmete tief durch und tippte dann Edrics Nummer. Sie brauchte ihn jetzt dringend.

Wenige Minuten nach ihrem Gespräch mit Edric erhielt sie eine SMS von Jade.

Ich glaub’s nicht!!!

Sie schrieb zurück: Sorry, hatte keine andere Wahl.

Postwendend kam nur ein einziges wütendes Wort zurück: Scheißegal!!!

Tania antwortete nicht.

Während die Schwestern auf Edric warteten, löste Tania mit einem Messer drei der schwarzen Halbedelsteine aus Titanias Krone, sodass jede der Prinzessinnen einen der schützenden Steine am Körper tragen konnte.

Sobald ihre Schwestern nicht mehr durch Isenmort gefährdet waren, führte Tania Sancha und Zara durch das Haus. Cordelia kam nicht mit. Sie wollte lieber auf der Schwelle der Tür, die in den Garten hinausführte, sitzen und ins Grüne blicken, die Hände im Schoß verschränkt. Die Welt der Sterblichen schien ihr aufs Gemüt zu schlagen– mehr als den anderen.

Obwohl Zara und Sancha aufgrund der Geschehnisse unter Schock standen, waren sie doch neugierig, was das Haus betraf. Sie stellten unzählige Fragen und wollten wissen, ob alle Räume nur für Tania allein bestimmt seien. Tania erklärte ihnen, dass sie hier mit ihren Eltern lebte, die aber momentan im Urlaub seien.

Sancha wollte den genauen Nutzen und Gebrauch von allen Gegenständen erfahren, die ihr gezeigt wurden. Zara wanderte wie ein verwirrtes Kind in den Räumen umher, ließ die Hände über die Möbel gleiten und prägte sich alle Oberflächen und Konturen ein.

»Und wozu dient diese graue Tafel?«, fragte Sancha mit einem Blick auf den Fernseher in der Ecke des Wohnzimmers.

»Ich zeig’s euch.« Tania nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete das Gerät ein. Es lief gerade irgendeine Talkshow. Sancha machte ein erstauntes Gesicht und berührte den Bildschirm.

»Das ist kühl wie Glas«, wisperte sie. Sie sah Tania an. »Sind die Leute in der Tafel drin? Es scheint, wir sehen sie von Weitem. Zara, schau nur: Das ist wie die Gabe unserer Mutter.«

Zara blickte erstaunt auf den Fernseher. »Das ist so etwas wie ein Puppentheater!«

»Was heißt das: ›Wie die Gabe unserer Mutter‹?«, wandte sich Tania an Sancha.

»Die Königin kann durch stilles, klares Wasser hindurch zu weit entfernten Orten sehen«, antwortete Sancha. »Aber sag mir, haben alle Sterblichen solche Geräte? Kannst du deins auch dazu benutzen, um das Versteck eines Feindes zu finden und seine Pläne auszuspionieren? Das wäre in unserer jetzigen Situation äußerst hilfreich.«

»Leider nicht«, sagte Tania. »Ich kann mir nicht aussuchen, was ich sehe– na ja, doch, irgendwie schon, aber nicht so, wie du meinst.«

Sie überlegte, wie sie ihren Schwestern bloß die moderne Technik erklären sollte, und ihr wurde schwindelig. »Es funktioniert mithilfe einer Kraft, die Elektrizität genannt wird«, meinte sie. »Das ist ein bisschen kompliziert.«

»Das Schauspiel hier verstehe ich nicht!«, entgegnete Zara. »Diese Mimen reden viel zu schnell und lassen ihrem Gegenüber gar keine Zeit, etwas zu erwidern.« Sie rief in Richtung Fernseher: »Sprecht langsamer, ich bitte Euch!«

»Sie können dich nicht hören«, sagte Tania. »Und das ist kein Schauspiel, Zara, sondern real… gewissermaßen.«

Sancha runzelte die Stirn. »Du sagst, es ist kein Spiel, und doch kann man bei dieser Unterhaltung nicht mitreden. Zu welchem Zweck dient es dann?«

»Es soll unterhalten«, sagte Tania. Sie seufzte. »Aber das ist meistens gar nicht der Fall.« Sie drückte auf die Fernbedienung und der Bildschirm wurde wieder schwarz. »Sollen wir mal nachsehen, was Cordelia macht?«

Sie gingen in die Küche zurück. Cordelia hockte noch immer im Schneidersitz auf der Türschwelle zum Garten. Ein Rotkehlchen saß auf ihrer Hand, und sie lauschte lächelnd seinen Tschilp-Rufen.

Als die drei hereinkamen, flatterte der Vogel nervös auf der Stelle und flog dann in wildem Auf und Ab durch den Garten.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Tania. »Haben wir ihn erschreckt?«

»Vielleicht ein bisschen«, sagte Cordelia und stand auf. »Es ist ein Weibchen. Sie spricht sehr gut von deinem sterblichen Vater, Tania. Sie sagt, dass er im Garten mit ihr redet und für sie Würmer zum Essen ausgräbt. Sie ist sehr glücklich hier.« Cordelia lächelte. »Darüber bin ich froh.«

Tania erwiderte das Lächeln ihrer Schwester. »Vielleicht ist die Welt der Sterblichen gar nicht so schrecklich, wie du immer dachtest.«

Cordelia sah sie nachdenklich an. »Bevor ich das glaube, muss ich weit mehr erfahren.«

Ungefähr eine halbe Stunde später traf Edric ein. Tania hatte ihm via Telefon nur das Nötigste mitgeteilt, und es nahm sie mit, wie erschüttert er war, als Sancha ihm die Geschichte von der Befreiung des Hexenkönigs erzählte.

Sie waren nun alle im Wohnzimmer versammelt, drängten sich eng aneinander wie Überlebende einer Katastrophe. Edric konnte kaum eine Minute still sitzen bleiben. Ständig lief er auf und ab.

»Sind wir hier sicher?«, wollte er wissen. »Wie lange wird es dauern, bis die Grauen Ritter uns aufgespürt haben?«

»Mindestens ein paar Stunden«, meinte Tania. »Selbst wenn der König von Lyonesse herausfindet, wo sich dieses Haus in Relation zum Bonwn Tyr befindet, wird er es nicht einfach haben. Denn London ist ganz anders aufgebaut als das Elfenreich. Sie müssten die ganze Gegend Straße für Straße durchkämmen.«

»Wie meinst du das: Straße für Straße?«, fragte Cordelia. »Ist Bonwn Tyr in der Welt der Sterblichen eine Stadt? Im Elfenreich ist es doch nur ein einsamer Turm in der Heide.«

Tania setzte zu einer Erklärung an, überlegte es sich dann aber anders, trat zur Anrichte und zog einen Stadtplan von London aus einer Schublade. Sie blätterte, bis sie Camden fand. Dann reichte sie das aufgeschlagene Buch an Cordelia weiter; Zara and Sancha rückten näher heran, um den Plan betrachten zu können.

Tania zeigte auf einen Bereich, wo lauter kleine und große Straßen, Gassen und Boulevards im Zickzack verliefen. »Wir sind hier«, sagte sie. »Die anderen Stadtteile von London sind auf den restlichen Seiten.«

»Ach, du grundgütiger Himmel!«, hauchte Sancha und blätterte weiter. »Und wohnen viele Leute hier in diesem großen Durcheinander?«

»Ungefähr sieben Millionen«, sagte Tania. »Mehr oder weniger.«

Cordelia sah entsetzt aus. »Verliert ihr nicht den Verstand, wenn ihr derart zusammengepfercht leben müsst?«

Tania lächelte schwach. »Doch, viele macht es wahnsinnig. Entscheidend aber ist, dass wir hier von anderen Häusern umgeben sind. So leicht werden uns die Ritter also nicht aufspüren.«

»Nichtsdestotrotz werden sie uns finden«, beharrte Sancha. »Und wenn das geschieht, sind wir in größter Not.«

Cordelia verzog das Gesicht. »Die Ritter nicht minder! Sie werden nicht ohne schwere Verletzungen davonkommen, wenn sie mir nach dem Leben trachten.« Sie hob das längliche Bündel vom Sitz neben sich auf ihren Schoß. »Wir sind nicht unbewaffnet in diese Welt gekommen.« Sie knotete den Stoff auf und schlug ihn auseinander. Drei schmale Schwerter aus reinem weißen Kristall kamen zum Vorschein.

»Drei Schwerter gegen dreizehn?«, seufzte Zara. »Das klingt nicht gerade verheißungsvoll.« Sie nahm eines der Schwerter in die Hand und stand auf. Tania beobachtete, wie sie sich breitbeinig hinstellte, den einen Arm auf dem Rücken, den Schwertarm ausgestreckt, die Augen zusammengekniffen. »Aber sie werden meine Klinge zu spüren bekommen, ehe mein letztes Stündlein schlägt.«

»Vier Schwerter befinden sich in unserer Hand«, sagte Sancha. »Edens Klinge fiel ebenfalls durch das Portal, ehe es sich schloss.« Sie sah Tania an. »Vier Schwerter, vier Prinzessinnen.«

»Ich weiß doch gar nicht, wie man mit einem Schwert umgeht«, protestierte Tania. »Edric sollte lieber das vierte bekommen.«

»Nein«, sagte Edric. »Du musst das Schwert von Prinzessin Eden nehmen. Wenn die Grauen Ritter kommen, werden sie als Erstes versuchen, dich zu töten. Ohne dich sitzen wir anderen hier fest. Du musst unbedingt eine Waffe zur Verteidigung haben.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich gar nicht damit umgehen kann.«

»Das ist nicht wahr«, entgegnete Sancha. »Du erinnerst dich nur nicht daran, wie man mit dem Schwert kämpft. Diese Fähigkeit wird aber zurückkehren, hab keine Angst.«

»Sancha hat Recht«, sagte Cordelia. »Du warst immer eine ausgezeichnete Schwertkämpferin. Von uns Schwestern konnte nur Rathina bei dir mithalten.«

Zara machte einen Ausfallschritt, und im dämmrigen Kerzenschein schien sie ein glitzerndes Netz aus Licht zu spinnen, als sie zustieß und parierte. »Der Todesstoß!«, rief sie. »Und dann waren es nur noch zwölf!«

»Wir können es uns nicht leisten, den Kampf mit ihnen zu wagen«, sagte Sancha. »Edric hat Recht: Tanias Tod würde unser aller Untergang bedeuten. Unsere einzige Hoffnung ist es, im Verborgenen zu bleiben, bis wir die Königin finden.«

»Niemals!«, stieß Cordelia hervor. »Es widerstrebt mir mit jeder Faser meines Herzens, vor so einem Gelichter davonzurennen. Wir sollten Widerstand leisten.« Ihre Augen glänzten. »Oder noch besser: Wir sollten ihnen den Kampf ansagen. Was sind schon dreizehn Ritter? Sie werden fallen wie der Weizen durch die Sense!«

»Diese dreizehn sind nur die Vorhut«, wandte Sancha ein. »Wenn Lyonesse erst mal hinter das Geheimnis von Tasha Dhul kommt, werden Tausende seiner Ritter folgen.«

»Was hat es mit Tasha Dhul auf sich?«, fragte Tania. Wie viele Namen im Elfenreich kam ihr dieser irgendwie vertraut vor, aber sie hatte trotzdem keine Ahnung, was er bedeutete.

»Das ist die versteckte Mine«, sagte Sancha. »Dort liegt das größte Geheimnis des Elfenreichs verborgen. Nur dort findet man in unserer Welt schwarzen Bernstein. Unzählige Jahre schon trachtet der Hexenkönig danach, die Mine zu finden, Tausende sind in den Kriegen umgekommen, die er gegen uns führte. Doch das Geheimnis ist noch nicht gelüftet, denn nur König Oberon und Königin Titania wissen, wo Tasha Dhul liegt, und sie werden seinen Standort niemals preisgeben, selbst wenn das gesamte Elfenreich in Schutt und Asche liegen sollte.«

Tania war klar, welche Bedeutung der schwarze Bernstein hatte; nur er konnte die Elfen vor dem tödlichen Metall schützen.

»Wenn der Hexenkönig die Mine findet«, fuhr Sancha fort, »was gewiss geschehen wird, wenn seine Armeen erst mal überallhin ausgeschwärmt sind, wird er genug Schmuck aus schwarzem Bernstein herstellen, um eine Armee von mehreren Zehntausend auszurüsten.« Sie sah Tania sehr ernst an. »Und dann wird er seine Ritter in großer Zahl hierherschicken, und Isenmort wird nichts mehr gegen sie ausrichten können.«

Tania schauderte. »Wie können wir sie aufhalten?«

»Wir müssen die Königin finden«, sagte Sancha. »Nur sie kann helfen, unseren Vater zu befreien, weil zwischen den beiden durch die Vereinigung der Hände ein untrennbares Band geknüpft wurde.«

»So wie zwischen mir und Gabriel, meinst du?«, fragte Tania ruhig.

»Eine noch viel stärkere Verbindung«, antwortete Sancha. Mitgefühl lag in ihrem Blick. »Sie wurde ewig und untrennbar durch weitere Hochzeitsrituale, die du und der Verräter nicht vollzogen haben. Wenn wir die Königin zu unserem Vater bringen, genügt sicher allein die Kraft, die zwischen ihnen beiden fließt, um die Fesseln von Isenmort zu sprengen und das Bernsteingefängnis aufzubrechen.«

»Und dann wird der Hexenkönig Fersengeld geben«, sagte Cordelia grimmig. »Mit Oberon an der Spitze werden die Elfenarmeen diesen Abschaum ins Meer fegen.«

»Bis dahin müssen wir uns aber vor ihnen verstecken«, beharrte Sancha. Sie blickte Tania an. »Kennst du einen Zufluchtsort, wo wir unbehelligt bis zur Rückkehr der Königin warten können?«

Tania überlegte. Wo konnten sie sich zu fünft für einen Tag, eine Woche oder sogar noch länger verstecken?

»Ja!«, rief sie. »Ich hab’s.« Sie sah Edric an. »Wir können zu Jade gehen. Das Haus steht die nächsten zwei Wochen leer. Wir haben ja Ersatzschlüssel.«

»Gute Idee«, meinte Edric. Er wandte sich an die drei Schwestern, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. »Ich glaube allerdings, dass ihr euch etwas anderes anziehen solltet. Wir dürfen nicht auffallen, vor allem jetzt nicht, da die Grauen Ritter uns auf den Fersen sind.«

»Ich suche ihnen etwas raus«, sagte Tania. »Unser Plan hat leider einen kleinen Nachteil: Die Andersons verlassen das Haus erst morgen Früh um vier Uhr.«

»Das heißt also, dass wir die Nacht über noch hier bleiben müssen«, meinte Edric. Einen Augenblick schwieg er nachdenklich. »Ich glaube, wir sollten das Risiko eingehen«, entschied er. »Wie Tania sagte, werden die Grauen Ritter uns so schnell nicht finden, und es wäre zu gefährlich, wenn wir die ganze Nacht auf der Straße herumspazieren würden. Aber ihr solltet angekleidet zu Bett gehen für den Fall, dass wir ganz plötzlich aufbrechen müssen.«

»Wir können alle in meinem Zimmer schlafen«, sagte Tania. »Wir tragen einfach die Matratze meiner Eltern hinüber. Es ist genug Platz für alle.«

»Ich bleibe hier unten«, sagte Edric und deutete mit einem Kopfnicken auf das Sofa. »Auf diese Weise kann ich sofort Alarm schlagen, wenn irgendetwas vorfällt. Und ich werde den Schlüssel zu Jades Haus in meiner Tasche verwahren, falls wir überstürzt aufbrechen müssen.«

Das Gespräch über die kommende Nacht lenkte Tanias Aufmerksamkeit darauf, dass die Abenddämmerung bereits den Raum mit ihren langen Schatten füllte. Tania erhob sich und knipste das Licht an.

Sofort schrien ihre Schwestern auf und Tania erschrak fürchterlich. Für sie war elektrisches Licht das Normalste auf der Welt; sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass die Prinzessinnen so heftig darauf reagieren würden.

Cordelia sprang auf. »Das ist das Koboldlicht von Lyonesse!«, schrie sie und schnappte sich ein Schwert. »Zu den Waffen! Wir sind entdeckt!«

»Nein! Nein!«, rief Tania. »Alles in Ordnung. Keine Angst.« Sie schaltete das Licht wieder aus. »Seht ihr? Es ist nichts Gefährliches. Ich war das.« Sie betätigte den Lichtschalter ein drittes Mal.

Sancha beschirmte mit der Hand die Augen und sah blinzelnd zu der grellen Glühbirne hinauf. »Sonnenlicht in einem Gefäß!«, stieß sie hervor. »Einmal habe ich Eden einen solchen Zauber vollbringen sehen, allerdings unter großen Mühen und nach ausführlicher Vorbereitung.«

Zara hatte sich vorgebeugt und stützte das Gesicht in die Hände. »Das ist nicht die Sonne!«, murmelte sie. »Das ist in der Tat Koboldlicht, unnatürlich hart und grell. Mach es aus, Tania, ich bitt dich. Es schmerzt mir in den Augen.«

Tania schaltete das Licht wieder aus.

»Vielleicht wären Kerzen besser«, schlug Edric zu Tania gewandt vor. »Hast du welche hier?«

Tania ging Kerzen mit Duftaroma holen, zündete ein gutes Dutzend an und verteilte sie auf Untertellern im ganzen Raum. Den restlichen Abend verbrachten sie im flackernden Kerzenschein. Erst unterhielten sie sich eine Weile, später, als zu fortgeschrittener Stunde das Gespräch erstarb, sang Zara für die anderen: Lieder aus glücklicheren Zeiten, die von Schönheit und Freude handelten und von den bevorstehenden Gefahren ablenken sollten.

Zaras Stimme hatte eine tröstliche Wirkung auf Tania, die zusammengerollt auf dem Sofa lag. Doch selbst in den friedlichsten Momenten gelang es ihr nicht, die bedrohliche Zukunft auszublenden.

Tania war von einem züngelnden Flammenmeer umgeben, das eine unerträgliche Hitze verbreitete und schwarze, rußende Rauchsäulen in den Himmel wachsen ließ. Außer sich vor Angst rannte Tania hin und her, die Hände schützend vor dem Gesicht. Während ihre Haut immer schlimmer versengt wurde, suchte sie panisch nach einem Ausgang.

»Hier entlang!«, rief da eine Stimme durch die zuckende Flammenwand. »Zu mir!«

»Edric?«

»Komm zu mir!« Die Flammen teilten sich, sodass ein schmaler Durchgang entstand, der einen Fluchtweg andeutete. Weit hinten am Ende des Ganges war der Umriss eines Mannes zu sehen, der sie zu sich winkte. Sie rannte auf ihn zu und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die roten Flammenzungen an ihr leckten. Die schwarze Silhouette des Mannes schien sich beständig zu entfernen, während sie auf die Gestalt zulief.

»Warte auf mich!«

Seine Stimme schwebte über die heiße, trockene Luft hinweg zu ihr. »Kommt, Mylady!«

Kurz loderten die Flammen heller auf und endlich konnte Tania das Gesicht der Gestalt erkennen: Es war jenes heimtückische Antlitz mit den silbernen Augen, das sie so gut kannte– Gabriel Drake.

»Nein!«

Er sprang mit einem Satz auf sie zu, umschlang sie, riss sie mit Schwung zu Boden und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf sie.

Sie erwachte und merkte, dass sie mit der Decke kämpfte. Neben ihr im Bett lag Zara. Tania lauschte reglos dem ruhigen, gleichmäßigen Atem ihrer Schwester.

Ein paar Minuten blieb sie still liegen, zu ängstlich, um die Augen wieder zu schließen. Würde sie sich denn ein Leben lang vor Gabriel Drake fürchten müssen? Und jetzt bestand sogar die Möglichkeit, dass der König von Lyonesse den bösen Elfenlord aus seinem Exil auf Ynis Maw befreit hatte. Nun, da er kein Gefangener mehr war, konnte er sie viel leichter entführen!

Wut stieg in ihr auf und verdrängte ihre Angst. Mit einem Mal war sie hellwach. Tania warf einen Blick auf den Wecker neben dem Bett. 1Uhr 13. Noch drei Stunden, bis sie zu Jades Haus hinübergehen konnten. Drei Stunden! Zu lange, um liegen zu bleiben.

Sie schlüpfte aus dem Bett und schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür. Sancha und Cordelia lagen aneinandergekuschelt auf der Matratze am Boden, unter der Bettdecke ihrer Eltern. Beide schienen tief und fest zu schlafen; Cordelia schnarchte leise.

Im fahlen Mondlicht konnte Tania die geöffneten Schubladen und herumliegenden Kleidungsstücke sehen; dieses Schlachtfeld hatte sie angerichtet bei dem Versuch, etwas zum Anziehen für die drei Prinzessinnen herauszusuchen.

Dabei war die Kleidergröße kein Problem gewesen. Aber etwas zu finden, das Zara überhaupt anzuprobieren geruhte, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.

Zara weigerte sich schlichtweg, Röcke oder Kleider in die engere Wahl aufzunehmen, die ein bisschen Bein zeigten, Hosen oder Jeans lehnte sie grundsätzlich ab. Cordelia hatte sich schnell für eine braune Cordhose und eine weite karamellfarbene Bluse entschieden. Sancha wählte einen knöchellangen schwarzen Satinrock, der mit großen roten Rosen gemustert war, und dazu eine weiße Baumwollbluse. Außerdem hatten sie einen großen Rucksack aufgetrieben, in dem sie die Krone verstauten, die sie vorher wieder in den weißen Seidenstoff eingewickelt hatten.

Eine halbe Stunde später hatte Zara sich endlich zu einem langen dunkelblauen Folklorerock aus indischer Baumwolle und einem weiten, hochgeschlossenen Oberteil mit langen Ärmeln herabgelassen.

Nachdem Tania den Prinzessinnen in ihre Kleider geholfen hatte– vor allem die Reißverschlüsse irritierten sie zunächst–, schickte sie rasch eine SMS an Jade: Sag deinen Eltern, ich bin angekommen und alles ist okay. Liebe Grüße von Mum und Dad. T.

Dann waren sie alle zu Bett gegangen.

Das Letzte vor dem Einschlafen, an das sich Tania erinnerte, war Zaras Stimme dicht an ihrem Ohr: »Warum hast du diese roten Zahlen an deinem Bett?« Sie meinte den Wecker.

»Damit ich sehe, wie spät es ist«, hatte Tania schläfrig entgegnet.

»Ah ja, Eden hat uns erzählt, dass die Sterblichen alle von der Zeit beherrscht werden«, hatte Zara gesagt. »Das ist närrisch, Tania. Du stammst aus dem Elfenreich. Riech die Luft, schau dir an, wie der Mond über den Nachthimmel wandert, und orientiere dich tagsüber an der Position der Sonne. Mehr muss man doch nicht von der Zeit wissen!«

»Okay«, hatte Tania gesagt und laut gegähnt. »Wenn du meinst.«

Und dann war sie eingeschlafen. Zumindest für eine kurze Weile, bis Gabriel sich in ihre Träume gedrängt und sie aus dem Schlaf gerissen hatte.

Vorsichtig öffnete Tania die Zimmertür und glitt in den Flur. Ihre Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und sie fand ohne Schwierigkeiten den Weg über die Treppe ins Erdgeschoss. Die Wohnzimmertür stand offen. Im Türrahmen blieb sie stehen und sah zu Edric hinüber, der auf dem Sofa unter einer Decke zusammengerollt lag.

Sie hatte das starke Verlangen, sich einfach neben ihm auf den Boden zu setzen. Sie wollte nur seine Nähe genießen und ihn betrachten. Doch sie wollte nicht riskieren, ihn aufzuwecken.

Sie schlich in die Küche. Ihre Kleider fühlten sich klamm und zerdrückt an, weil sie in ihnen geschlafen hatte.

Sie öffnete den Kühlschrank, ein bläulicher Lichtschein fiel schräg auf den Boden. Sie nahm eine Milchtüte heraus und trank einen großen Schluck. Das Getränk war kalt und belebend. Dann ging sie zur Tür, die in den Garten hinausführte.

Da sie mehrere Stunden mit drei Menschen auf engstem Raum verbracht hatte, sehnte sich Tania nach unverbrauchter Luft. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und trat mit der Milchtüte in der Hand hinaus. Erfrischende Kühle wehte ihr entgegen. Die Pflastersteine fühlten sich eiskalt unter ihren bloßen Füßen an.

In der Nacht waren nur die Lichter der Stadt zu sehen, keine Sterne. Am Rand der Terrasse blieb Tania stehen, weil ihr ein sonderbarer Geruch auffiel. Sie schnupperte. Unerklärlicherweise musste sie an Gewitter denken. Sie fröstelte unwillkürlich.

Mit einem Mal erhob sich ein kalter, schneidender Wind, der ihr die Haare ins Gesicht blies und die Kleidung gegen den Körper drückte. Sie wandte sich zum Haus um, die mit einem Mal eisig gewordene Luft stach ihr in die Augen.

Plötzlich vernahm sie im Zischen des Windes ein lautes Wiehern. Es klang wild und böse und schien die gesamte Luft um sie her zu erfüllen.

Einen Augenblick später vernahm sie Hufgeklapper. Die Tüte fiel ihr aus der Hand auf den Steinboden, die Milch lief aus.

Im hinteren Bereich des Gartens setzte ein Reiter über den Gartenzaun. Das Fell des Pferdes schimmerte silbern wie Mondlicht, doch seine Augen waren blutunterlaufen, sein Blick wild. Ein markerschütterndes Wiehern drang aus seinem Maul. Als der Reiter die Zügel straffte, keilte es schnaubend aus. Ein fahles Leuchten umgab das Tier wie eine Aura.

Der bloße Anblick des Reiters ließ Tania erschaudern: Der Mann trug einen schweren, schwarzen Umhang, der im Wind flatterte. Der Blick seiner silbern glänzenden Augen war auf Tania gerichtet, und sein bleiches, schönes Gesicht wurde von einem grausamen triumphierenden Lächeln verzerrt. Tania starrte zu ihm hinauf, unfähig, sich zu regen. Die Luft gefror in ihren Lungen und in ihrem pochenden Herzen erstarb jede Hoffnung.

Der Reiter zog ein weißes Schwert und richtete es auf sie.

»Seid gegrüßt, Mylady«, sagte Gabriel Drake, »meine wunderschöne Braut!«