VIII
Am Donnerstag trafen Tania, Edric und die anderen Schüler, die am Theaterstück mitwirkten, MrsWiseman am vorderen Schultor, um zusammen zum Globe Theatre zu fahren. Nachdem die Lehrerin sich vergewissert hatte, dass alle da waren, machten sie sich auf den Weg zur nächsten U-Bahn-Station. Eine halbe Stunde später erreichten sie Mansion House Station und überquerten auf der Southwark Bridge die Themse.
Obwohl Tania ihr gesamtes Leben in London verbracht hatte, war sie noch nie im Globe Theatre am Südufer gewesen, und sie freute sich darauf, die moderne Rekonstruktion des berühmten »Hölzernen O’s« von William Shakespeare aus dem sechzehnten Jahrhundert zu besichtigen.
Während Tania neben Edric über die Brücke ging, blickte sie auf das trübe Wasser der Themse hinunter. Sie war entsetzt, wie anders es aussah als das klare, blaue Wasser der Tamesis. Der Elfenfluss verlief in demselben Bett wie die Themse, allerdings mit dem Unterschied, dass sich der Fluss in der Welt der Sterblichen durch das lärmende, schmutzige Herz Londons schlängelte, während sich im Elfenreich am Nordufer der große Königspalast erstreckte und im Süden ein ausgedehnter grüner Wald lag.
Der erste Anblick des Globe Theatre war beeindruckend. Das hohe, runde Gebäude aus Eichenbalken besaß ein Strohdach und war mit Kalk verputzt, der weiß im Sonnenlicht glänzte. Es stand mitten in einem Komplex kleinerer Gebäude, in denen sich Läden, Cafés und Restaurants befanden. Ein überdachtes Backsteingebäude beherbergte ein Besucherzentrum, das im Winter und bei schlechter Witterung als Theatersaal diente.
»Hier entlang, bleibt bitte zusammen«, rief MrsWiseman und führte sie entlang des Flusses zum Ausstellungszentrum. Die Globe-Ausstellung erstreckte sich über zwei Stockwerke, mit großen Bildschirmen, auf denen Filmausschnitte und Dokumentationen zu sehen waren. Hier wurden die Aufgaben der Schauspieler und Musiker zu Zeiten Elisabeths im Vergleich zu heute erklärt.
Nachdem sie einmal gemeinsam durch die gesamte Ausstellung gegangen waren, erlaubte MrsWiseman ihnen, sich in kleine Grüppchen aufzuteilen und auf eigene Faust loszuziehen.
»Komm, gehen wir uns mal das Freiluftheater ansehen!«, schlug Edric Tania vor.
Sie nickte und die beiden bahnten sich einen Weg zum Eingangsfoyer. Sie schoben die schweren Glastüren auf und gingen die Treppe hinauf, die zu den Cafés und einem großen Platz vor der Freiluftbühne führte.
»Ach, wie schön, endlich ein bisschen alleine unterwegs zu sein«, seufzte Tania, als sie einen der äußeren Treppentürme hinaufstiegen, der zu den erhöhten Sitzreihen führte. »Was für ein toller Ort.« Sie betraten den mittleren Rang und liefen dann quer durch die kreisförmig angelegten, gepolsterten Sitzreihen hinunter zur Holzbalustrade.
Von hier aus hatten sie einen guten Blick auf die runde, nicht überdachte Zuschauerfläche. Zwei dicke Säulen standen rechts und links von der rechteckigen Bühne und trugen ein flaches Dach, auf dem ein reetgedeckter Giebel saß. Alles auf der Bühne bestand aus bemaltem Holz, das Marmor und Stein imitieren sollte; das geschnitzte Eichenholz war dunkel gefärbt, in Grau, Braun, Waldgrün und dunklem Rotbraun. Über der Bühne befand sich ein lang gezogener Balkon für die Musiker und Schauspieler– Tania stellte sich vor, dass Julia sich just von diesem Balkon hinunterbeugt, als sie Romeos Stimme in der Nacht des ersten romantischen Treffens vernimmt.
Doch dann dachte Tania nicht mehr an das Schultheater, denn sie hatte andere Dinge im Kopf.
»Titania muss in dem Lexus gesessen haben«, sagte sie zu Edric. »Weißt du, wie teuer solche Autos sind?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht versucht, mir Titania vorzustellen, wie sie jetzt ist. Aber ich habe wohl geglaubt, sie lebt in einem alten Haus wie Miss Havisham in Große Erwartungen, ganz allein und vielleicht auch ein bisschen verrückt, in königliche Gewänder gehüllt, die in all den Jahren von Motten zerfressen wurden und vom vielen Tragen zerschlissen sind. Ich habe mir jedenfalls nie vorgestellt, dass sie von einem Chauffeur in einer Luxuslimousine durch London kutschiert wird.«
Edric lächelte sie an und stützte einen Ellbogen auf die Holzbalustrade. »Sie ist eine Königin, Tania«, sagte er. »Die Tochter eines uralten Elfengeschlechtes. Sie sitzt nicht in abgetragenen Strickjacken herum, trinkt Tee aus einer gesprungenen Tasse und sieht sich Frühstücksfernsehen an.«
»Nein, offenbar nicht.« Tania richtete sich auf und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir gehen besser langsam zum Treffpunkt.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Wir hatten ja entschieden, dass wir erst weiter nachforschen wollten, wenn ich aus Florida zurück bin, aber unter diesen Umständen kann ich nicht so lange warten.«
Er sah sie fragend an. »Und nun?«
»Ich werde Samstag außer Haus sein«, sagte sie. »Ich sage Mum und Dad, dass ich vor dem Urlaub noch mal shoppen gehen muss. Wenn ich etwas in Richmond kaufe, ist das ja nicht gelogen.«
»Und diesmal halten wir die Augen nach einem schwarzen Lexus offen«, sagte Edric.
Sie suchten sich einen Weg zurück an den Sitzreihen vorbei und erreichten die Treppe, die auf den Vorplatz hinausführte.
Auf halbem Weg blieb Tania stehen, um Edric zu fragen, ob es solche Theater auch im Elfenreich gab. Als sie jedoch den Kopf wandte, begann sich die Welt um sie herum zu drehen. Dinge verzerrten sich und kippten weg, die Konturen zerflossen, als seien sie mit Wasserfarbe gemalt und auf einmal nass geworden. Tania tastete blindlings nach dem Treppengeländer, während sie die sich hin- und herbewegenden Stufen hinunterstolperte.
Vage nahm sie Edrics Gesicht wahr– ein bleicher Fleck, der Mund darin ein dunkler Kreis, der sich lautlos öffnete und schloss. Dann gaben die Beine unter ihr nach und sie musste sich auf die Treppe setzen. Die stickige Luft machte das Atmen schier unmöglich, in ihren Ohren rauschte es.
Sie schloss die Augen und rang nach Atem, aber ihre Kehle schnürte sich weiter zusammen, und die Luft schmerzte in ihren Lungen. Der Husten kam tief aus ihren Bronchien und tat in der Kehle weh. Ihr Schädel brummte.
»Mistress Ann! Mistress Ann! Wie ungezogen du bist, mein Kind!«
Das klang warm und freundlich. Es war die eindringliche, besorgte Stimme einer Frau. Jemand packte Tanias Handgelenk und zog sie auf die Füße.
Sie öffnete die Augen. Ihre Umgebung schien seltsam verwandelt. Das Holz des Treppenturms sah älter aus, und die Stufen schienen abgenutzter, als seien sie seit vielen Jahren in Gebrauch.
Eine untersetzte Frau, die sie noch nie im Leben gesehen hatte, stand auf den Stufen unter ihr… und dennoch…
Die Frau trug ein bodenlanges rotes Kleid, ihr rundes Gesicht erinnerte an einen rotbäckigen Apfel, ihr Haar war von einer weißen Faltenhaube bedeckt.
Noch etwas schwindelig im Kopf, blickte Tania die seltsame Fremde an. Die Frau war hochgewachsen; obwohl sie weiter unten stand, war sie in aufrechter Haltung gleichauf mit Tania.
Tania blinzelte benommen und blickte sich um. Viele Menschen eilten die Treppe hinauf. Sie alle waren groß und trugen Kleidung, wie sie in der Renaissance unter Königin Elisabeth Mode gewesen war.
»Ein Sack Flöhe ist leichter zu hüten!« Ein dicker Finger wedelte vor Tanias Gesicht herum. »Nun komm schon! Dein Vater hat ausdrücklich verboten, dass du allein herumläufst. Sonst gehst du uns noch verloren.« Mit diesen Worten zog die Frau Tania hinter sich die Treppe hinunter.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich gar nicht mehr in ihrem eigenen Körper befand. Sie war zu einem zarten, zerbrechlichen Wesen geschrumpft, dessen magere Ärmchen und Beinchen aus einem Kinderkleid hervorragten.
Die Welt um sie herum war also nicht größer, sondern sie war kleiner geworden, und sie ahnte, dass sie auch wesentlich jünger geworden war. Aber wie viel jünger? Schwer zu sagen– vielleicht zehn Jahre alt?
Die Frau führte sie aus dem hektischen Menschenstrom heraus.
Wieder hustete Tania, wobei ihr die Brust eng wurde und schmerzte.
»Du lieber Gott, hör dir das an!«, sagte die Frau besorgt. »Das ist die Strafe dafür, dass du dich immerfort herumtreibst. Und das, wo du doch erst seit ein paar Stunden wieder auf den Beinen bist, nachdem du tagelang mit Fieber im Bett gelegen hast, Kind.« In ihrer Stimme lag zärtliche Besorgnis. »Ich habe deinem Vater gleich gesagt, dass es ein Fehler war, dich mitzunehmen, aber meine bescheidene Meinung zählt ja nicht, wenn der Herr sich etwas in den Kopf gesetzt hat.« Sie befühlte mit ihrer großen, warmen Hand Tanias Stirn. »Wahrhaftig, das Fieber tobt noch immer in dir, Mistress Ann. Wollen wir uns setzen und einen Moment verweilen?«
Tania starrte die Frau mit verschwommenem Blick und dröhnendem Schädel an. »Wer seid Ihr?«, murmelte sie.
»Du meine Güte, das Kind spricht im Wahn«, sagte die Frau. »Kennst du denn deine Bess nicht mehr, Kind? Deine Bess, die dich liebt und die alles für dich tut, seit deine Mutter dich meiner Obhut überließ, damit ich dich verwöhne und für dich sorge und dich in den wachen Stunden deines Lebens behüte?«
Tania lächelte. »Bess«, sagte sie leise, und der Name klang seltsam tröstlich, auch wenn sie nicht wusste, warum. »Bess.«
»Genau, mein Lämmchen«, sagte die Frau. »Hier ist deine Bess, und am liebsten würde sie dich sofort ins Bett stecken, aber der Herr besteht darauf, dass du ihn auf der Bühne sehen sollst. Und er würde es mir übel nehmen, wenn ich nicht gehorche.« Bess ging in die Hocke und legte die Hände schwer auf Tanias Schultern. »Ich bringe dich zur Seitenbühne«, sagte sie mit verschwörerischer Stimme. »Da kannst du deinem Vater eine Weile zusehen, aber dann bringe ich dich ins Bettchen zurück und rufe einen Arzt, der nach dir schaut. Möge der Himmel über mir einstürzen und meine Kühnheit strafen, aber wenn ich dir mit irgendetwas schaden würde, so könnte ich mir das nie verzeihen.«
Bess kam schwer atmend wieder auf die Beine. Tania nahm ihre Hand und spürte die tiefe Liebe der großen Frau, als sie zusammen den gewundenen Holzgang entlangliefen.
Sie fühlte sich wirklich schwach. Dass sie krank gewesen war, glaubte sie sofort… und dass sie noch immer nicht ganz gesund war. In ihrer Brust brannte es wie Feuer; immer wieder entzündete sich der Schmerz und wanderte ihren Hals hinauf, dann wurde sie wieder von Hustenanfällen geplagt.
Sie ließ sich von Bess zu einer engen Passage führen, in der lauter kostümierte Männer standen, die alle in dieselbe Richtung blickten. Hinter einem Durchgang aus schrägen Holzlatten sah Tania die Bühne und den Zuschauersaal, die dicht gedrängten vertikalen Ränge und die runde Stehfläche, auf der sich andächtig lauschende Menschen tummelten.
Ihr Blick wanderte nach oben. Die Bühnendecke erschien ihr wie das reinste Wunderwerk: Die mitternachtsblauen Tafeln waren golden eingefasst und mit Sonnen, Sternen, Monden und Symbolen aller Tierkreiszeichen bemalt. Doch dann fesselte ein großer, gut aussehender Mann ihre Aufmerksamkeit. Er stand allein in der Mitte der Bühne, gekleidet in ein hermelinbesetztes Gewand und mit einer Krone auf dem Kopf.
»Vater!«, hörte sie sich selbst flüstern. »Das ist mein Vater…«
Der Mann begann zu sprechen. Seine Stimme klang laut und fest.
»Nun ward der Winter unsers Missvergnügens’ Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks…«
Bess brachte ihren Mund nahe an Tanias Ohr.
»Das ist er«, flüsterte sie. »Richard Burbage persönlich, ein großartiger Mime und dein Vater. Sieht er nicht prächtig aus in seinen Gewändern und mit der Krone?« Sie legte Tania den Arm um die Schultern. »Ich sage dir, mein Lämmchen, dein Vater ist der beste Schauspieler, der je vor der Königin auftreten durfte.«
Tania starrte in das große runde Gesicht. »Du meinst Königin Titania?«
»Du meine Güte, nein, mein Kind«, sagte Bess mit einem kehligen Kichern. »Ich meine, Ihre Majestät, Königin Elisabeth, möge Gott sie schützen.«
»Oh.« Tania hatte das Gefühl, als entgleite ihr alles. »Wie schade. Ich dachte, du meinst Titania… ich suche doch Titania… und ich dachte…«
»Tania?« Eine Stimme drang verzerrt an ihr Ohr, mit einem Nachhall wie ferner Donner. »Tania? Alles in Ordnung?«
»Edric?« Tania hatte das merkwürdige Gefühl, in ihrem eigenen Körper zu wachsen wie ein Schmetterling, der seinen Kokon durchbricht. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und stöhnte erleichtert, als das Gefühl bedrückender Enge allmählich nachließ.
Sie schlug die Augen auf und merkte, dass sie auf der Holztreppe im Globe Theatre saß. Edric kniete vor ihr.
»Was ist passiert?«, fragte Tania.
»Sag du’s mir«, erwiderte Edric, als er ihr aufhalf. »Ist jetzt alles wieder in Ordnung? Kannst du alleine stehen?«
»Ja, mir geht’s gut.«
»Bist du ohnmächtig geworden?«
Tania sah ihn an. »Nein, nicht ohnmächtig«, murmelte sie. »Lass uns nach draußen gehen.«
Tania und Edric saßen auf dem Vorplatz des Theaters. Tania hatte ihm gerade, so gut es ging, beschrieben, was ihr widerfahren war.
»Und?«, fragte sie. »Was sagst du dazu?«
»Ich glaube, das war eine Art Rückblende in eines deiner früheren Leben in der Welt der Sterblichen«, meinte Edric ruhig. »Du glaubst also, dass du in die elisabethanische Zeit zurückversetzt worden bist?«
Tania nickte. »Die Frau, die sich Bess nannte, hat Königin Elisabeth erwähnt«, meinte sie. »Aber ich habe mich so elend gefühlt, Edric. Und ich war so dünn. Bess sagte, dass ich drei Tage lang krank gewesen sei. Sie hatte mich nur aufstehen lassen, weil mein Vater wollte, dass ich ihn auf der Bühne sehe.« Sie griff nach Edrics Hand. »Ich habe so eine düstere Ahnung«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen gesund wurde. Ich fürchte, es ist schon als Kind gestorben, Edric. Ich meine, ich bin gestorben.«
Edric nahm ihre Hände in die seinen. »Du weißt doch, dass du in der Welt der Sterblichen schon mehrere Leben hattest«, meinte er beruhigend.
»Ja, das stimmt«, sagte Tania. »Aber es macht einen großen Unterschied, ob mir jemand etwas darüber erzählt oder ob ich mich plötzlich in einem meiner früheren Ichs wiederfinde.« Sie schauderte. »Wie viele Male habe ich Geburt und Tod erfahren, Edric? Wie viele Menschen bin ich schon gewesen?«