18. Kapitel

Was Hornblower schließlich weckte, war die Sonne, die über dem Horizont emporstieg und ihm geradewegs in die Augen schien. Blinzelnd räkelte er sich. Wie ein Kind suchte er das Gesicht mit den Händen zu stützen, um weiterschlafen zu können. Er wußte nicht gleich, wo er sich befand, und im Grunde genommen war es ihm auch gleichgültig. Dann fing er an, sich der gestrigen Ereignisse zu erinnern, und nun war es sein Bestreben, nicht mehr zu schlafen, sondern ganz wach zu werden. Seltsam, zunächst fielen ihm verschiedene Einzelheiten des Gefechts ein, ohne daß er sich des Untergangs der Natividad entsann. Doch als ihm schließlich diese Tatsache zum Bewußtsein kam, da war es mit der Schläfrigkeit endgültig vorbei.

Er stand auf und streckte sich mühsam, denn alle Glieder taten ihm weh. Bush stand beim Ruder. In der harten Beleuchtung sah sein graues, scharfgeschnittenes Gesicht seltsam alt aus. Der Kapitän nickte ihm zu, worauf der andere dienstlich grüßte.

Bush hatte den Dreimaster auf den schmutzigen Kopfverband gestülpt. Hornblower würde ihn angeredet haben, wäre seine Aufmerksamkeit durch einen Rundblick über das Schiff nicht sofort abgelenkt worden. Es wehte eine frische Brise, die jedoch während der Nacht die Richtung geändert haben mußte, denn die jetzt dicht beim Winde liegende Fregatte konnte gerade noch Kurs halten. Sie hatte alle Segel gesetzt. Hornblowers hastig prüfendes Auge erkannte sowohl im stehenden wie im laufenden Gut zahllose Spleißungen. Der behelfsmäßige Kreuztopp schien seiner Aufgabe gewachsen zu sein, aber sämtliche Segel zeigten Schußlöcher; einige von ihnen hatten ein Dutzend oder mehr.

Das Schiff bekam dadurch etwas vom Aussehen eines zerlumpten Vagabunden. Auf der Liste der Tagesarbeiten stand demnach an erster Stelle das Anschlagen neuer Segel. Mit dem Ersatz einzelner Teile der Takelage konnte man noch ein wenig warten.

Erst jetzt, nachdem Hornblower sich über Wetter, Kurs und Segel schlüssig geworden war, wandte er seinen Blick den Decks zu. Vom Vorschiff tönte das einförmige Klancklank der Pumpen herüber. Das klare Wasser, das sie aussprudelten, war der deutlichste Beweis dafür, daß man des starken Wassereinbruchs noch eben Herr wurde. In der Nähe der Kühl lag auf der Leeseite eine lange Reihe in Hängematten eingenähter Toter. Hornblower zuckte zusammen, und es bedurfte seiner ganzen Willenskraft, sie zu zählen.

Vierundzwanzig! Und gestern waren vierzehn bestattet worden.

Wahrscheinlich waren einige dieser Toten nachträglich gestorbene Verwundete aus dem ersten Gefecht, aber bei achtunddreißig Toten durfte man mit mindestens siebzig Verwundeten rechnen, die noch drunten im Schiff lagen. Mit anderen Worten: die Lydia hatte einen Verlust von einem Drittel ihrer Besatzungsstärke zu buchen. Wer mochten sie sein, deren verzerrte Gesichter unter dem Segeltuch der Hängematten verborgen waren?

Derzeit gab es mehr Tote als Lebendige an Oberdeck. Bush schien bis auf ein starkes Dutzend Männer alles nach unten geschickt zu haben. Es war sehr vernünftig von ihm, denn nach den Strapazen des vergangenen Tages mußten alle erschöpft sein, und überdies arbeitete jeder siebente Mann an den Pumpen, bis die Schußlöcher abgedichtet werden konnten. Die wenigsten Leute hatten noch Willenskraft genug zum Aufhängen einer Hängematte besessen; die große Mehrzahl war einfach wo niedergesunken, wobei sie sich gegenseitig als Kopfkissen benutzten, sofern sie nicht mit härteren Unterlagen irgendwelcher Art vorliebnahmen. Aber auch abgesehen von den Toten und den noch nicht beseitigten dunklen Blutflecken, die die hellen Decksplanken verunstalteten, gab es noch manche anderen Spuren des überstandenen Gefechts. Die Decks waren kreuz und quer mit Schrammen und Furchen überzogen. Hier und da ragten noch zerfetzte Splitter auf. Schußlöcher in der Bordwand hatte man zunächst einmal mit Segeltuch geflickt. An Backbord waren die Ränder der Stückpforten schwarz von Pulverrückständen. An einer Stelle ragte eine Achtzehnpfünderkugel halb aus dem zähen Eichenholz hervor, in dem sie steckengeblieben war. Andrerseits aber war ein gewaltiges Stück Arbeit geleistet worden; vom Auslegen der Gefallenen bis zum Seefestzurren der Geschütze. Wenn man die Müdigkeit der Besatzung nicht in Rechnung stellen wollte, konnte die Lydia jederzeit wieder ins Gefecht treten.

Das Gefühl, daß so viel getan worden war, während er selbst faul in seinem Liegestuhl schlief, versetzte Hornblower einen Stich. Er zwang sich dazu, keinen Ärger darüber aufkommen zu lassen. Obwohl er dadurch, daß er Bushs Tatkraft lobte, sein eigenes Versagen zugab, mußte er doch ritterlich handeln.

»Wirklich ausgezeichnet, Mr. Bush«, sagte er, indem er zu seinem Ersten Offizier trat. Dennoch klangen seine Worte etwas kalt. Seine ihm angeborene Schüchternheit und ein gewisses Schamgefühl trugen die Schuld daran. »Ich bin ebenso erstaunt wie erfreut über die von Ihnen geleistete Arbeit.«

»Es ist Sonntag, Sir«, sagte Bush schlicht.

Das traf allerdings zu. Am Sonntag pflegte der Kapitän einen Rundgang durchs Schiff zu machen, um sich durch die Besichtigung aller Einzelteile davon zu überzeugen, daß der Erste Offizier seiner Aufgabe gewachsen war, das Schiff instand zu halten. So mußte am Sonntagmorgen alles tadellos aufgeräumt, das Tauwerk sauber aufgeschossen sein. Die Mannschaft trat im besten Anzug divisionsweise zur Musterung an; es wurde ein Gottesdienst abgehalten, nach dem die Kriegsartikel zur Verlesung kamen; kurzum, Sonntag war der Tag, an dem jeder Erste Offizier Seiner Britannischen Majestät Marine auf Herz und Nieren geprüft wurde.

Hornblower konnte ein Lächeln über die Erklärung nicht ganz unterdrücken.

»Sonntag oder Alltag«, nickte er, »Sie haben Ihre Sache glänzend gemacht, Mr. Bush.«

»Danke, Sir.«

»Ich werde daran denken, wenn ich meinen Bericht an die Admiralität schreibe.«

»Ich weiß, daß Sie das tun werden, Sir.«

Ein Ausdruck der Freude erhellte Bushs müdes Gesicht. Nach einem erfolgreichen Einzelgefecht wurde ein Kapitänleutnant - welchen Rang Bush bekleidete - meistens zum Korvettenkapitän befördert, und Bush, der weder Familie noch Verbindungen hatte, hegte die große Hoffnung, alsbald diesen entscheidenden Schritt auf der Stufenleiter der Rangordnung machen zu können.

Andrerseits konnte ein eigennütziger Kommandant, der sich allein den Ruhm des Sieges sichern wollte, den Bericht so abfassen, als habe er den Erfolg ohne die Hilfe seines Untergebenen errungen.

»Die Sache wird in England Aufsehen erregen«, meinte Hornblower.

»Sicherlich, Sir. Es kommt nicht alle Tage vor, daß eine Fregatte ein Linienschiff versenkt.«

Es war etwas gewagt, die Natividad so zu bezeichnen. Als sie sechzig Jahre früher gebaut wurde, mochte sie gerade noch geeignet gewesen sein, im Geschwader der Linienschiffe mitzufahren, aber seither hatten sich die Zeiten geändert.

Immerhin blieb die Tatsache bestehen, daß die Lydia einen beachtenswerten Sieg davongetragen hatte. Die ganze Bedeutung seines Erfolges kam Hornblower erst jetzt voll zum Bewußtsein, und seine Stimmung besserte sich dementsprechend. Das britische Volk konnte stolz sein über dieses Seetreffen, und es geschah nicht selten, daß sich die Admiralität der öffentlichen Meinung anschloß.

»Na, und wie sieht die Metzgerrechnung aus?« fragte Hornblower, womit er in brutaler Form dem Gedanken Ausdruck verlieh, der sie beide bewegte. Er wäre sich sentimental vorgekommen, falls er sich anders ausgedrückt hätte.

»Achtunddreißig Tote, Sir«, meldete Busch, der einen schmutzigen Zettel aus der Tasche zog. »Fünfundsiebzig Verwundete und vier Vermißte. Die Vermißten sind Harper, Dawson, North und Chump, der Neger; sie gehörten zur Besatzung der versenkten Barkaß. Clay fiel im ersten Gefecht...«

Hornblower nickte. Er erinnerte sich, daß er den kopflosen Körper Clays auf dem Achterdeck hatte liegen sehen.

»Gefallen sind ferner der Obersteuermannsmaat John Summers sowie die Bootsmannsmaate Henry Vincent und James Clifton. Verwundet wurden die Leutnants Galbraith und Simmonds; außerdem der Midshipman Howard Savage und vier andere Deckoffiziere.«

»Galbraith?« fragte Hornblower besorgt. »Schwer, Sir. Beide Beine unterhalb der Knie zerschmettert.« Galbraith hatte also das Schicksal erlitten, das der Kommandant für seine eigene Person gefürchtet hatte. Die ihn erschütternde Nachricht gemahnte ihn an seine Pflicht.

»Ich werde sofort die Verwundeten besuchen«, sagte er, richtete sich dann aber plötzlich auf und sah prüfend seinen Ersten Offizier an. »Wie steht's denn mit Ihnen, Bush? Sie sehen eigentlich nicht so aus, als könnten Sie Dienst tun.«

»Mir geht's ausgezeichnet, Sir«, widersprach Bush. »Ich lege mich eine Stunde hin, wenn Gerard heraufkommt, mich abzulösen.«

»Gut, also wie Sie wollen.«

Drunten im Orlop konnte man an eine Szene aus Dantes Inferno denken. Es war dunkel. Die vier Öllampen, deren flackernder, rötlichgelber Schimmer von den Decksbalken zurückfiel, warfen nur Schatten. Die Luft war erstickend. Zu den normalen Gerüchen der Bilge und der Lasten traten die Ausdünstung zusammengepferchter, kranker Menschen und der Gestank der qualmenden Lampen. Der bittere Pulverdunst, der gestern eingedrungen war, hatte auch noch keine Zeit gefunden, sich wieder zu verziehen. Hitze und Gestank schlugen dem eintretenden Hornblower entgegen, und innerhalb einer Viertelminute war sein Gesicht so naß, als sei es mit Wasser begossen worden, denn die erhitzte Atmosphäre war mit Feuchtigkeit übersättigt.

Und nun erst der unterschiedliche Lärm! Da waren die üblichen Schiffsgeräusche, das Knacken und Ächzen der Hölzer, das von den Rüsten her weitergeleitete Vibrieren der Takelage, das Anschlagen der See gegen die Bordwand, das Glucksen des Bilgewassers und das monotone Klanken der Pumpen. Alles das wurde dadurch verstärkt, daß das Holz des Schiffes als Resonanzboden wirkte. Dennoch war das nur die Begleitung zu dem innerhalb des Verbandsplatzes herrschenden Lärm. Hier lagen dicht bei dicht fünfundsiebzig verwundete Männer, die stöhnend, schluchzend, schreiend, fluchend und sich erbrechend ihren Schmerzen Luft zu machen suchten. Schwerlich konnten verdammte Seelen inmitten der Hölle eine grausigere Umgebung finden oder qualvoller leiden.

Hornblower entdeckte Laurie, der tatenlos im Halbdunkel stand. »Gott sei gedankt, daß Sie kommen, Sir«, stöhnte der Mann.

Der Klang seiner Worte verriet, daß er heilfroh war, von diesem Augenblick an alle Verantwortung auf die Schultern seines Kommandanten abzuwälzen.

»Kommen Sie mit beiseite und erstatten Sie mir Meldung«, herrschte Hornblower ihn an. Die ganze Angelegenheit war ihm widerwärtig, doch wenn er auch unumschränkter Herrscher an Bord war, durfte er doch nicht, seinen Gefühlen nachgebend, fliehen. Die Arbeit mußte unbedingt geleistet werden, und nun, da Laurie seine Unfähigkeit erwiesen hatte, war er selbst am geeignetsten dazu, mit ihr fertig zu werden. Er näherte sich dem letzten Mann in der Reihe und prallte betroffen zurück. Lady Barbara war dort. Das flackernde Licht beleuchtete das klassische Profil der neben dem Verwundeten Knienden. Mit einem Schwamm wusch sie dem sich krümmenden Mann Gesicht und Hals. Hornblower war peinlich davon berührt, sie auf solche Weise beschäftigt zu sehen. Der Tag, da eine Florence Nightingale aus der Krankenpflege einen auch für Frauen geeigneten Beruf machte, war noch nicht gekommen.

Kein einigermaßen feinfühliger Mann konnte sich mit dem Gedanken abfinden, eine Frau mit der schmutzigen Arbeit eines Hospitals beschäftigt zu sehen. Höchstens durfte man dulden, daß barmherzige Schwestern dort ihres Seelenheils wegen tätig waren; versoffene alte Weiber mochten anderen Frauen in ihren Geburtsnöten beistehen und sich gelegentlich auch eines Kranken annehmen, die Behandlung von Verwundeten aber war ganz und gar Männerarbeit; und zwar wurde sie von Männern verrichtet, die nichts Besseres verdienten, die ihrer dienstlichen Unfähigkeit oder ihrer schlechten Führung wegen dazu kommandiert wurden wie zum Latrinenreinigen. Hornblower verspürte geradezu Übelkeit, als er Lady Barbara in nächster Nähe der mit Blut, Auswurf und Eiter besudelten schmutzigen Körper gewahrte.

»Lassen Sie das!« stieß er rauh hervor. »Gehen Sie fort von hier. Gehen Sie an Deck!«

»Ich habe die Arbeit nun einmal begonnen«, erwiderte Lady Barbara gleichgültig. »Ich lasse sie nicht unvollendet.«

Ihr Tonfall schloß jede weitere Erörterung aus. Offenbar sprach sie von der Tätigkeit als von etwas Unvermeidlichem; so, als ob sie sich erkältet hätte und warten müßte, bis die Krankheit sich ausgewirkt hatte.

»Der Herr, der hier die Aufsicht führt«, setzte sie hinzu, »hat keine Ahnung von seinen Pflichten.«

Lady Barbara glaubte durchaus nicht, daß die Krankenpflege ein vornehmer Beruf sei; ja, in ihrer Meinung war er noch erniedrigender als kochen oder Kleider flicken - zu welcher Tätigkeit sie gelegentlich auf Reisen ihre geschickten Finger benutzte, wenn die Umstände es forderten -, aber jetzt hatte sie feststellen müssen, daß eine bestimmte Arbeit unzureichend ausgeführt wurde, daß niemand da war, der sie besser leisten konnte, und daß gerade jetzt der Dienst des Königs eine gute Ausführung dringend verlangte. Mit derselben gründlichen Beachtung aller Einzelheiten und Hintanstellung ihrer eigenen Bequemlichkeit, mit der der eine ihrer Brüder Indien regiert und der andere die Mahratten dort bekämpft hatte, machte sie sich ans Werk.

»Dieser Mann hat einen großen Holzsplitter unter der Haut, der sofort herausgezogen werden sollte«, fuhr sie fort.

Sie deutete auf des Matrosen behaarte Brust. Unter der Tätowierung hob sich eine abscheulich aussehende, schwärzliche Erhebung ab, die vom Brustknochen bis zur rechten Achselhöhle verlief, unter der die Haut in zackiger Weise hervorstand. Als Lady Barbara die Finger auf jene Stelle legte, zuckte der Mann zusammen und stöhnte vor Schmerz. Auf hölzernen Kriegsschiffen bildeten dergleichen Fälle einen hohen Prozentsatz aller Verwundungen. Dabei konnten die Splitter nie dadurch wieder entfernt werden, daß man sie rückwärts herauszog, denn ihre Form verlieh ihnen natürliche Widerhaken.

Im vorliegenden Fall war das große Stück von den Rippen abprallend am Brustkorb entlanggeglitten und schließlich steckengeblieben.

»Sind Sie jetzt bereit, es zu tun?« fragte Lady Barbara den unglücklichen Laurie.

»Ja, aber...«

»Wenn Sie sich weigern, tue ich es selbst. Seien Sie doch kein Narr, Mann.«

»Ich werde dafür sorgen, daß es geschieht, Lady Barbara«, mischte sich Hornblower ein. Er würde das Blaue vom Himmel herunter versprochen haben, nur um dieser Szene ein Ende zu bereiten.

»Also gut, Herr Kapitän.«

Lady Barbara stand zwar auf, traf aber keine Anstalten, sich in weiblicher Weise zurückzuziehen. Hornblower und Laurie sahen einander an.

»Vorwärts, Laurie«, befahl Hornblower grob. »Wo sind Ihre Instrumente? Ihr da, Wilcox und Hudson, bringt ihm einen gehörigen Schluck Rum. Also passen Sie auf, Williams, wir werden Sie von dem Splitter befreien. Wird allerdings weh tun.«

Hornblower mußte sich alle Mühe geben, um seinen Gesichtsausdruck nichts von dem Widerwillen und auch der Furcht verraten zu lassen, die er vor seiner Aufgabe empfand. Er sprach rauh, damit die Stimme fest blieb. Er verabscheute die ganze Geschichte aus tiefster Seele. Und wirklich, es war eine peinliche und blutige Angelegenheit. Obwohl Williams die Zähne zusammenbiß, bäumte er sich doch auf, als der Einschnitt gemacht wurde. Wilcox und Hudson mußten seine Hände ergreifen und die Schultern zurückdrücken. Dann stieß er einen langen, furchtbaren Schrei aus, und als das schwärzliche Stück Holz zutage gefördert worden war, sank er ohnmächtig zusammen, so daß er keinerlei Widerstand mehr leistete, als die Wundränder mit groben Stichen zusammengenäht wurden. Lady Barbaras Lippen waren fest geschlossen. Sie beobachtete Lauries ungeschicktes Hantieren mit dem Verband, und dann bückte sie sich wortlos, um ihm den Leinenstreifen wegzunehmen. Bewundernd sahen die Männer zu, wie sie, die eine Hand gegen die Wirbelsäule des Verwundeten gepreßt, die Rolle behende um den Oberkörper des Matrosen Williams wickelte und festband. »So wird es halten«, sagte Lady Barbara aufstehend. Zwei lange Stunden verbrachte Hornblower dort unten im Lazarett, während er mit Lady Barbara und Laurie von einem Verwundeten zum anderen ging, aber die Tätigkeit war nicht annähernd so qualvoll mehr, wie sie hätte sein können.

Einer der Hauptgründe seines Widerwillens hatte im Bewußtsein seiner eigenen Unzulänglichkeit bestanden. Unwillkürlich übertrug er einen Teil seiner Verantwortung auf die Schultern der Dame. Sie war so offensichtlich geschickt und selbstsicher, daß sie von allen an Bord befindlichen Personen sicherlich die geeignetste für die Behandlung der Verwundeten war. Nachdem Hornblower den Rundgang beendet und man die fünf mittlerweile Gestorbenen hinausgeschafft hatte, blickte er seiner Begleiterin im Flackerschein der am Ende der Reihe pendelnden Lampe in die Augen.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Madame.

Jedenfalls ist meine Dankbarkeit so groß wie die irgendeines dieser armen Menschen.«

Lady Barbara zuckte die schmalen Schultern. »Für eine Arbeit, die geleistet werden muß, bedarf es keines Dankes.«

Viele Jahre später sollte ihr herzoglicher Bruder die Worte »Des Königs Regierung muß fortgeführt werden« in genau dem gleichen Tonfall sprechen.

Der den beiden zunächst liegende Mann hob einen verbundenen Arm.

»Drei Hurras für Lady Wellesley«, krächzte er. »Hip... hip...

Hurra!«

Einige Verwundete stimmten ein, aber es war ein trauriger Chor, in den sich das Wimmern und Stöhnen der fiebernden Männer mischte. Lady Barbara hob beschwichtigend die Hand und wandte sich dann wieder an den Kommandanten.

»Frische Luft sollten wir hier unten haben«, sagte sie. »Läßt sich das nicht einrichten? Ich erinnere mich, wie mein Bruder erzählte, daß die Sterblichkeit im Lazarett von Bombay sofort nachließ, als man anfing, den Kranken frische Luft zuzuführen.

Vielleicht könnte man die leichter Verwundeten an Oberdeck schaffen.«

»Ich werde dafür sorgen«, nickte Hornblower. Lady Barbaras Wunsch erhielt kräftigen Nachdruck durch den Gegensatz, den Hornblower beim Betreten des Oberdecks empfand; nach dem stickigen Dunst des Orlops kam ihm die frische Luft des Pazifiks wie Champagner vor. Er gab Befehl, sofort die Windsäcke wieder anzubringen, jene weiten Leinenhüllen, die durch Aufheißen in die Takelage die Aufgabe von Ventilatoren übernahmen. Sie waren, als das Schiff gefechtsklar gemacht wurde, entfernt worden. »Mr. Rayner«, fuhr Hornblower fort, »einigen der Verwundeten würde es sehr guttun, wenn man sie an Oberdeck brächte. Sie müssen sich bei Lady Barbara Wellesley erkundigen, welche dafür in Frage kommen.«

»Lady Barbara Wellesley, Sir?« wiederholte Rayner erstaunt.

Er wußte nichts von den allerjüngsten Geschehnissen. »Sie hörten, was ich sagte!« fuhr ihn Hornblower an. »Aye, aye, Sir«, beeilte sich Rayner zu bestätigen, worauf er aus Furcht, er könne noch mehr sagen, was den Kommandanten erzürnen würde, schleunigst unter Deck verschwand.

So wurde denn an jenem Morgen die Sonntagsmusterung und der Gottesdienst an Bord der Lydia abgehalten, nachdem die Toten bestattet worden waren.

Auf jeder Seite des Oberdecks pendelte eine Reihe von Verwundeten in ihren Hängematten, und von drunten drangen schwach die schrecklichen Laute aus dem Lazarett herauf.