1. Kapitel
Bald nach dem Anbruch der Morgendämmerung betrat Kapitän Hornblower das Achterdeck der Lydia. Bush, der wachhabende Offizier, führte grüßend die Hand an den Hut, sagte aber nichts. Im Verlauf einer sieben Monate lang dauernden Reise, bei der man kein Land berührt hatte, war er sich über manches klargeworden, was dem Kommandanten gefiel oder nicht gefiel. So durfte man ihn zum Beispiel während der ersten Stunde des Tages nicht anreden oder auf andere Weise seine Gedankengänge unterbrechen. Den ständigen Befehlen entsprechend, die infolge der ungewöhnlichen Länge der Fahrt bereits zur Überlieferung geworden waren, hatte Bootsmann Brown dafür gesorgt, daß die Luv, also die dem Winde zugekehrte Seite des Achterdecks schon beim ersten Tagesschimmer mit Sand und Steinen gereinigt worden war.
Sowie Hornblower erschien, zogen sich Bush und der Midshipman der Wache auf die Leeseite zurück, worauf Hornblower sofort mit seinem einstündigen Morgenspaziergang begann. Er beschränkte sich darauf, auf dem sieben Meter langen, eigens für ihn mit Sand bestreuten Teil der Deckplanken auf und nieder zu gehen. Auf der einen Seite wurde seine Wanderung durch die Gleitschienen der Deckgeschütze begrenzt, auf der anderen durch die in das Deck eingelassenen Ringbolzen, an denen die Taljen zum Richten der Kanonen angeschlagen wurden. So kam es, daß die Fläche, auf der sich Hornblower frühmorgens Bewegung zu machen pflegte, fünf Fuß breit und einmal zwanzig Fuß lang war.
Schnellen Schrittes wanderte der Kapitän hin und her, hin und her. Obwohl er ganz in Gedanken versunken war, wußten seine Untergebenen doch aus Erfahrung, daß sein seemännischer Instinkt stets wach blieb. Unbewußt bemerkte er den über die Decksplanken fallenden Schatten der Takelage des Großmastes, und er spürte den Luftzug auf seiner Wange, so daß die geringste Unachtsamkeit des Rudergängers eine Zurechtweisung seitens des Kommandanten nach sich zog; sie fiel um so schärfer aus, als Hornblower in der wichtigsten Stunde seines Tagewerks gestört wurde. In gleicher Weise nahm sein Unterbewußtsein die Wind und Wetter betreffenden Tatsachen zur Kenntnis. Beim Erwachen hatte er, ohne es bewußt zu wollen, noch in der Koje liegend, an dem über ihm im Deck befestigten Kajütskompaß festgestellt, daß Kurs Nordost anlag, wie das seit drei Tagen der Fall war. Ebenso unwillkürlich erkannte er beim Betreten des Oberdecks, daß die westliche Brise gerade ausreichte, das Schiff steuerfähig zu erhalten, daß alle Segel bis zu den Royals standen, daß der Himmel ein ungetrübtes Blau zeigte und daß die See fast spiegelglatt war.
Gewichtig und gleichmäßig glitt die Lydia über die langgestreckte, friedliche Dünung.
Der erste bewußte Gedanke des Kommandanten bestand in der Beobachtung, daß der im Morgenlicht tiefblaue und gegen den Horizont hin silbrig werdende Pazifik einem in Silber und Blau gehaltenen Wappenschild ähnelte, und dann schmunzelte Hornblower fast ein wenig, denn dieser Vergleich drängte sich ihm seit vierzehn Tagen jeden Morgen auf. Der Gedanke und das Schmunzeln machten sein Hirn im Augenblick ganz klar. Er sah drunten auf dem Hauptdeck die Leute mit Sand und Steinen schrubben. Man unterhielt sich in gleichbleibendem Tonfall.
Zweimal vernahm er ein Lachen. Das war gut so. Leute, die plauderten und lachten, sahen nicht danach aus, als planten sie eine Meuterei. An solche Möglichkeit hatte Kapitän Hornblower aber letzthin immer wieder denken müssen. Sieben Monate befand sich das Schiff in See. Die Vorräte waren fast aufgezehrt.
Vor acht Tagen hatte er die tägliche Wasserration auf einunddreiviertel Liter herabsetzen müssen, und das war für Männer, die zehn Grad nördlich des Äquators vorwiegend von Salzfleisch und Hartbrot leben mußten, nicht viel, zumal das seit über einem halben Jahr mitgeführte Wasser schon fast zu einem grünlichen, von Lebewesen wimmelnden Schlamm geworden war.
Ebenfalls vor einer Woche hatte Hornblower den letzten Zitronensaft austeilen lassen. Innerhalb eines Monats durfte man mit dem Auftreten von Skorbut rechnen; und dabei befand sich kein Arzt an Bord, denn Hankey war, als man in der Höhe des Kap Hoorn stand, der Syphilis und den Folgen alkoholischer Ausschweifungen erlegen. Seit Monatsfrist gab es wöchentlich fünfzehn Gramm Tabak, und Hornblower beglückwünschte sich dazu, daß er den Tabakvorrat in persönliche Verwaltung genommen hatte. Hätte er das unterlassen, so würden die Narren bereits alles verraucht haben, und ohne Tabak wurden die Männer unzuverlässig. Er wußte auch, daß die Leute sich die Kürzung des Tabaks mehr zu Herzen nahmen als den Mangel an Brennstoff, der es mit sich brachte, daß ihnen tagtäglich das gepökelte Schweinefleisch ausgegeben wurde, sowie das zur Zubereitung verwendete Seewasser den Siedepunkt erreichte.
Dennoch bedeuteten alle diese Einschränkungen noch nichts im Vergleich mit der weitgehenden Verringerung der Grogration. Sie vollends zu streichen, hatte Hornblower nicht gewagt, aber nun befand sich nur noch für zehn Tage Rum an Bord. Der besten Kriegsschiffsbesatzung der ganzen Welt war nicht mehr zu trauen, wenn man sie ihrer Rumration beraubte.
Man weilte in der Südsee, und im Umkreis von zweihundert Seemeilen gab es kein anderes Schiff des Königs von England.
Dafür aber lagen dort irgendwo im Westen Inseln der Romantik mit schönen Frauen und reichlicher Nahrung, die man sich mühelos beschaffen konnte. Ein Leben glückseligen Nichtstuns schien zum Greifen nahe zu sein. Es brauchte sich bloß ein Halunke unter den Leuten zu befinden, der, besser unterrichtet als die übrigen, davon erzählte. Wohl würde er zunächst keinen Einfluß ausüben können, aber wenn es in Zukunft mittags nicht mehr das erfreuliche Grogstündchen gab, so mußte damit gerechnet werden, daß die Mannschaft solchen Einflüsterungen zugänglich wurde. Seitdem die von den Reizen des Pazifiks betörte Besatzung der Bounty gemeutert hatte, lastete dieses Ereignis auf der Seele eines jeglichen Kommandanten Seiner Großbritannischen Majestät, den der Dienst in jene Gewässer führte.
Immer noch raschen Schrittes auf und nieder gehend, warf Hornblower den Matrosen nochmals einen scharf prüfenden Blick zu. Sieben Monate ununterbrochener Seefahrt hatten zwar glänzende Gelegenheit geboten, aus dieser Bande von Galgenvögeln und gepreßten Menschen brauchbare Seeleute zu machen, aber die Reise dauerte dafür, daß es keinerlei Ablenkung gab, nachgerade zu lange. Je eher man die Küste von Nicaragua erreichte, desto besser. Ein Landurlaub würde die Leute zerstreuen, und zudem konnten frische Lebensmittel, Wasser, Tabak und alkoholische Getränke beschafft werden.
Hornblowers Gedanken beschäftigten sich mit den Ergebnissen des letzten Bestecks, durch das der Standort des Schiffes festgestellt werden sollte. Der Richtigkeit der errechneten Breite war er gewiß, und die Mondbeobachtung der vergangenen Nacht schien die mittels des Chronometers bestimmte Länge zu bestätigen, obwohl es eigentlich unglaublich war, nach siebenmonatiger Reise überhaupt noch den Chronometer zu Rate ziehen zu können. Wahrscheinlich lag die Küste Zentralamerikas keine hundert Seemeilen weit mehr vor dem Bug des Schiffes, und höchstens handelte es sich noch um dreihundert. Crystal, der Obersteuermann, hatte zwar zu Hornblowers bestimmter Versicherung zweifelnd den Kopf geschüttelt, aber Crystal war ein alter Idiot, den man als Navigationsoffizier nicht brauchen konnte. Jedenfalls würde es sich binnen weniger Tage herausstellen, wessen Meinung die richtige war.
Wiederum sprangen die Gedanken des Kapitäns um. Wie sollte man die nächsten zwei oder drei Tage zubringen? Die Mannschaft mußte beschäftigt werden. Nichts war für das Entstehen einer Meuterei günstiger als lange, faule Tage.
Während der wilden zehn Wochen, die ihn das Umsegeln des Kap Hoorn gekostet hatte, war ihm überhaupt nicht die Möglichkeit einer Empörung vor Augen getreten. Also der Vormittag sollte zu einer Klarschiffübung und zu einem Scharfschießen verwendet werden, wobei jedes Geschütz fünf Schuß verfeuern sollte. Möglicherweise würde das bißchen Wind durch die Erschütterung der Luft zeitweilig gänzlich vertrieben, aber daran ließ sich nichts ändern. Vielleicht war dies die letzte Gelegenheit zur Übung, ehe es zu wirklichen Gefechtshandlungen kam. Eine neue Erwägung drängte sich dem Kommandanten auf. Fünf Lagen würden das Schiff durch den Verbrauch von Pulver und Kugeln um über eine Tonne erleichtern. Dabei lag die Lydia, deren Vorräte fast völlig verbraucht waren, ohnehin leicht auf dem Wasser. Vor seinem geistigen Auge sah Hornblower die unteren Räume und vor allem die Vorratslasten der Fregatte. Es war Zeit, an das Trimmen, an den Ausgleich der Gewichte zu denken. Nach dem Mittagessen der Leute gedachte er, sich in einem Kutter um das Schiff pullen zu lassen. Vermutlich lag es achtern etwas hoch.
Nun, das ließ sich gleich morgen dadurch in Ordnung bringen, daß man die beiden vorn stehenden Karronaden wieder auf ihren ursprünglichen Platz schaffte. Und da die Fregatte während dieser Besichtigungsfahrt im Beiboot Segel kürzen mußte, so konnte Hornblower die Sache gründlich tun und Bush anweisen, die Mannschaft in der Takelage zu bewegen. Wie es sich für einen Ersten Offizier gehörte, besaß Bush geradezu eine Leidenschaft für diese Art der Seemannschaft. Heute bot sich der Mannschaft Gelegenheit zur Verbesserung ihres eigenen Rekords. Bisher hatte sie mindestens elf Minuten, einundfünfzig Sekunden zum Hochbringen der Marsstengen und vierundzwanzig Minuten, sieben Sekunden zum Setzen aller Segel bei niedergeholten Marsstengen benötigt. Hornblower stimmte mit dem Ersten darin überein, daß es sich dabei durchaus nicht um Spitzenleistungen handelte; viele Schiffe konnten mit anderen Zahlen aufwarten; jedenfalls behaupteten das ihre Kommandanten.
Hornblower stellte fest, daß der Wind um einen geringen Grad aufgefrischt hatte; wie ein leises Flüstern strich es durch die Takelage. Dem Gefühl nach, das er auf seinem Nacken und auf seiner Wange empfand, mußte die Brise um einen Strich oder zwei umgesprungen sein, aber noch während der Kapitän überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis Bush davon Notiz nahm, hörte er bereits den Ruf nach der Wache. Clay, der auf dem erhöhten Achterdeck stehende Midshipman, brüllte wie ein Stier. Seit der Abfahrt von England wechselte der junge Mensch die Stimme. Er konnte sie jetzt schon richtig anwenden, während er früher nur immer gequiekt und gekrächzt hatte.
Anscheinend ohne der Geschehnisse zu achten, lauschte Hornblower doch dem Lärm, den die an Oberdeck und an die Brassen stürzenden Seeleute verursachten, indessen er selbst nach wie vor auf der Hütte, wie das Achterdeck mit anderem Namen genannt wurde, auf und ab schritt. Ein Klatschen und ein Schrei verrieten ihm, daß der Bootsmann Harrison seinen Stock auf dem Sitzfleisch irgendeines feisten oder unglücklichen Matrosen hatte landen lassen. Harrison war ein prächtiger Seemann, der nur die Schwäche besaß, seinen Rohrstock mit umfangreichen Hinterteilen in Berührung zu bringen. Jeder Mann, dessen Hosen prall ausgefüllt waren, durfte darauf gefaßt sein, lediglich aus diesem Grunde einen Hieb vor die Kehrseite zu empfangen; vor allem dann, wenn er das Pech hatte, beim Vorbeikommen Harrisons mit einer dienstlichen Verrichtung beschäftigt zu sein, die notwendigerweise eine gebückte Haltung erheischte. Die Betrachtungen, die Hornblower über die Schwäche des Bootsmanns anstellte, hatten fast die ganze, zum Trimmen der Segel nötige Zeit in Anspruch genommen. Nun das Manöver beendet war, brüllte Harrison »Belege das!«, worauf sich die Wache wieder an ihre bisherige Beschäftigung begab. Gleich darauf schlug die Schiffsglocke siebenmal an.
Sieben Glas in der Frühwache. Hornblower hatte die Morgenwanderung ein gutes Stück über das Stundenmaß hinaus ausgedehnt. Er fühlte, daß seine Haut unter dem Hemde schweißig wurde. Nun trat er zu dem neben dem Ruder stehenden Ersten Offizier.
»Guten Morgen, Mr. Bush«, sagte Kapitän Hornblower.
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte Bush genauso, als sei der Kommandant nicht bereits seit fünfviertel Stunden wenige Meter von ihm entfernt hin und her gewandert.
Hornblower besah sich die Schiefertafel, die einen Überblick über die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden ermöglichte. Es hatte sich nichts Besonderes ereignet. Das stündliche Loggen hatte Geschwindigkeiten von drei bis viereinhalb Knoten ergeben, und aus der Rückseite der Tafel war zu ersehen, daß das Schiff während des ganzen Tages auf nordöstlichem Kurse geblieben war. Der Kapitän merkte sehr wohl, daß ihn sein Erster gespannt ansah und daß er mit Fragen sozusagen geladen war. Es befand sich nur ein einziger Mensch an Bord, dem das Ziel der Lydia bekannt war, und dieser eine war der Kommandant selbst. Mit versiegelter Order hatte er die Heimat verlassen, und als er den Umschlag befehlsgemäß auf 30
Grad Nord und 20 Grad West geöffnet hatte, war es ihm nicht in den Sinn gekommen, wenigstens den Nächstkommandierenden vom Inhalt des Schreibens zu unterrichten. Seit sieben Monaten gab sich Leutnant Bush alle Mühe, keine Fragen zu stellen, aber es fiel ihm sichtlich schwer.
»Ha... hm«, räusperte sich Hornblower ausweichend. Ohne ein Wort zu sprechen, hängte er die Tafel wieder auf, stieg den Niedergang hinunter und betrat seine Schlafkammer.
Es war Pech für Bush, daß er in solcher Weise im dunkeln gehalten wurde, aber Hornblower hatte nicht deswegen auf eine Erörterung seiner Befehle verzichtet, weil er Bushs Schwatzhaftigkeit fürchtete; vielmehr hegte er andere Befürchtungen. Als er vor nun mehr fünf Jahren sein erstes selbständiges Kommando antrat, hatte er seinem eigenen Mitteilungsbedürfnis die Zügel schießen lassen, und sein damaliger Erster Offizier hatte sich das so weitgehend zu nutze gemacht, daß Hornblower schließlich keinen Befehl mehr erteilen konnte, ohne daß dieser vorher besprochen wurde. Auf der letzten Reise war er bemüht gewesen, den Untergebenen innerhalb der von den Regeln der Höflichkeit gezogenen Grenzen zu halten, doch hatte er erkannt, daß es ihm selbst unmöglich war, diese Grenzen zu bestimmen; stets sprach er ein Wort zuviel, das er dann später bereute. Dieses Unternehmen nun hatte er mit dem festen Vorsatz begonnen - er ähnelte darin einem Trinker, der sich nicht zutraut, bei mäßigem Alkoholgenus zu bleiben -, nichts zu seinen Offizieren zu sagen, was nicht unmittelbar zum Dienst gehörte. Der Entschluß war durch die zwingende Notwendigkeit zur Geheimhaltung der ihm erteilten Befehle noch verstärkt worden. Sieben Monate lang hatte er durchgehalten. Je stärker er unter die Einwirkung des natürlichen Standes der Dinge geriet, desto verschlossener wurde er. Im Atlantik hatte er mit Mr. Bush immerhin zuweilen über das Wetter gesprochen. Hier drüben im Stillen Ozean beschränkte er sich auf ein Räuspern.
Seine Kammer war ein winziges, von der Kajüte durch eine Holzwand getrenntes Gelaß. Die Hälfte des Raumes wurde von einem Achtzehnpfünder eingenommen, und im Rest hatten gerade noch seine Koje, der Schreibtisch und eine Truhe Platz.
Sein Steward Polwheal packte das Rasierzeug und den Ledernapf aus, den er auf einer kleinen Konsole unterhalb des an der Wand angebrachten Stückchens Spiegelglas aufbaute.
Die beiden Männer vermochten sich in der Enge kaum zu bewegen. Um seinen Vorgesetzten eintreten zu lassen, quetschte sich Polwheal gegen die Truhe. Er sagte nichts, denn er war ein Mann weniger Worte. Aus diesem Grunde hatte Hornblower ihn ausgesucht, denn auch seinen Dienern gegenüber mußte er sich vor seiner Sünde der Geschwätzigkeit in acht nehmen.
Der Kapitän streifte das feuchte Hemd und die Hosen ab.
Nackend trat er vor den Spiegel, um sich zu rasieren. Das Gesicht, das er im Glase bemerkte, war weder hübsch noch häßlich, weder alt noch jung. Melancholisch braune Augen blickten ihn an; die Stirn war ziemlich hoch, die Nase einigermaßen gerade, und der gutgeformte Mund verriet die in zwanzigjährigem Seedienst erworbene Charakterfestigkeit. Das leicht gelockte braune Haar begann an den Schläfen lichter zu werden, wodurch die Stirn noch etwas höher erschien. Für Hornblower bedeutete diese Erscheinung eine Quelle der Unruhe, denn der Gedanke, eine Glatze zu bekommen, war ihm verhaßt. Und als er nun an seinem nackten Körper heruntersah, kam ihm die andere Sorge zum Bewußtsein. Schlank und muskulös war er gebaut; ja, wenn er sich zur ganzen Höhe seiner sechs Fuß aufrichtete, machte er eine durchaus wirkungsvolle Figur. Dort unten aber, wo die Rippen endeten, ließ sich das Vorhandensein eines Bauches nicht verheimlichen, der gerade begann, über den unteren Teil des Brustkorbes hervorzutreten. Mit einem für seine Generation seltenen Abscheu fürchtete Hornblower das Dickwerden. Ihn ekelte der Gedanke, seinen schlanken, glatthäutigen Körper durch eine unziemliche Wölbung verunstaltet zu sehen. Das war der Grund, weswegen er, der im Grunde genommen zur Bequemlichkeit neigte und das Gewohnheitsmäßige haßte, sich dazu zwang, jeden Morgen einen Spaziergang auf dem Achterdeck zu machen.
Nachdem er das Rasieren beendet hatte, legte er Messer und Pinsel nieder, damit Polwheal sie reinige und wegräume, worauf ihm der Steward einen zerschlissenen Schlafrock um die Schultern hängte Polwheal folgte ihm über Deck bis zur Hauptpumpe, nahm ihm den Schlafrock ab und pumpte eifrig Seewasser, während sich Hornblower würdevoll unter dem Wasserstrahl drehte. Dann bekleidete der Kapitän die tropfnassen Schultern abermals mit dem Schlafrock und begab sich in die Kajüte zurück Ein sauberes Leinenhemd - verbraucht aber instand gesetzt - sowie weiße Hosen lagen auf der Koje Hornblower zog sich an, und Polwheal half ihm in den abgetragenen, mit verblichenen Litzen besetzten Rock und reichte ihm den Hut. Während der ganzen Zeit wurde kein Wort gesprochen, so sehr war dem Kommandanten das System des Schweigens, zu dem er sich selbst gezwungen hatte, in Fleisch und Blut übergegangen. Und er, dem jede Routine verhaßt war, hielt sich jetzt, um das überflüssige Sprechen zu vermeiden, so völlig an sie, daß er, wie das übrigens jeden Morgen geschah genau in dem Augenblick wieder an Oberdeck erschien, als es acht glaste.
»Mannschaft zum Strafvollzug, Sir?« fragte Bush, die Hand am Hutrand.
Hornblower nickte. Sofort begannen die Bootsmannspfeifen zu trillern.
»Antreten zum Strafvollzug'« brüllte Harnson, der auf dem Hauptdeck stand und aus allen Teilen des Schiffes quollen die Leute hervor um an den ihnen zugewiesenen Stellen anzutreten.
Regungslos stand Hornblower in der Nähe der Reling des Achterdecks. Sein Gesicht versteinerte sich. Ihn bedrückte die Tatsache daß ihm der Vollzug körperlicher Strafen als bestialische Angelegenheit erschien, daß es ihn ekelte sie anzuordnen und ihnen beizuwohnen. Ein paar tausend Auspeitschungen hatte er im Laufe der letzten zwanzig Jahre gesehen und war doch nicht unempfindlich dagegen geworden, ja beschämt mußte er sich eingestehen daß er schwächer war als damals der siebzehnjährige Fähnrich. Jedoch hatte er sich auch heute nicht der Beaugenscheinigung der Angelegenheit entziehen können. Das Opfer war ein Waliser namens, Owen der es sich einfach nicht abgewöhnen konnte an Deck zu spucken.
Ohne sich auf den Kommandanten zu berufen, hatte Bush geschworen, er werde ihn für jede weitere Übertretung peitschen lassen und Hornblower blieb nichts anderes übrig, als diesen Beschluß im Namen der Disziplin zu decken, doch hegte er Zweifel, daß ein Mensch, der dumm genug war und sich nicht einmal durch die Furcht vor einer körperlichen Züchtigung zurückschrecken ließ, auf die Decksplanken zu spucken, es nach erhaltener Strafe unterlassen würde.
Glücklicherweise war die Sache bald überstanden. Die Bootsmannsmaaten heißten den bis zur Hüfte nackten Owen in die Wanten des Großtopps und hieben nach dem Rasseln der Trommeln drauflos. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Seeleute heulte der Gepeinigte auf, als ihn die neunschwänzige Katze in die Schultern biß. Er führte groteske Tanzbewegungen aus, seine bloßen Füße klatschten auf Deck, bis er gegen das Ende der ihm zugemessenen zwei Dutzend Schläge regungslos und stumm an den gefesselten Unterarmen baumelte. Irgend jemand übergoß ihn mit Wasser, und dann wurde er unter Deck geschafft.
»Antreten lassen zum Frühstücksempfang, Mr. Bush«, stieß Hornblower hervor. Er hoffte, daß ihn die von der Tropensonne gebräunte Haut davor bewahrte, so blaß auszusehen, wie er sich fühlte. Auf nüchternen Magen der Auspeitschung eines geistig Minderwertigen zuzusehen war durchaus nicht nach seinem Geschmack Dabei ärgerte er sich maßlos über sich selbst, daß er nicht energisch genug war, derlei überhaupt zu verhindern, und auch, daß ihm kein Ausweg aus dem Dilemma eingefallen war, in das ihn Bushs Entscheid gebracht hatte.
Die Gruppe der auf dem Achterdeck versammelten Offiziere zerstreute sich, als alles wegtrat. Gerard, der zweite Leutnant, übernahm von Bush die Wache. Hornblower ging nach unten, wo Powheal das Frühstück für ihn bereithielt. »Kaffee, Sir«, sagte der Steward. »Burgoo«.
Hornblower setzte sich zu Tisch Im Verlauf der sieben Monate dauernden Reise hatte längst jeglicher Luxus aufgehört.
Der Kaffee war ein Extrakt aus verbranntem Brot, und alles, was man zu seinen Gunsten sagen konnte, bestand darin, daß er heiß und süß war. Das Burgoo vollends stellte eine unappetitliche, aus zerquetschtem Hartbrot und gehacktem Pökelfleisch zusammengerührte Masse dar. Hornblower aß, ohne bei der Sache zu sein. Mit der Linken, die ein Stück Hartbrot hielt, klopfte er auf den Tisch, um die im Brot enthaltenen Maden zu veranlassen, auszuwandern, bis er mit seinem Burgoo fertig geworden war.
Wahrend er aß, umgaben ihn ringsum die Geräusche des Schiffes. Jedesmal, wenn die Lydia ein wenig schlingernd auf den Kamm der Dünung gehoben wurde, knarrte es leise im Gebälk. Droben vernahm er den Schritt Gerards, der auf dem Achterdeck hin und her ging. Zuweilen auch ertönte das Klatschen einer hornigen, nackten Sohle, wenn irgendein Matrose vorüberkam. Im Vorschiff rasselten und klinkten die Pumpen bei der täglichen Arbeit des Lenzpumpens der Bilge.
Doch alle diese Geräusche waren von längerer oder kürzerer Dauer. Ein Laut nur blieb in seiner Art so gleichförmig, daß sich das Ohr daran gewöhnte und ihn nur wahrnahm, wenn die Aufmerksamkeit bewußt darauf hingelenkt wurde: das Wehen der Brise in den unzähligen Teilen der Takelage. Eigentlich war es nur ein ganz feines Summen, eine Harmonie von Tausenden hoch schwingender Töne, aber dennoch durchdrang es das ganze Schiff. Selbst die Ketten und das periodisch ächzende Holzwerk leiteten es weiter.
Hornblower hatte mittlerweile sein Burgoo gegessen und wandte sich dem Stück Hartbrot zu, mit dem er auf die Tischplatte getrommelt hatte. Mit beherrschtem Widerwillen musterte er es. Eine dürftige Nahrung für einen Mann, und in Ermangelung der Butter - das letzte Faß war schon vor einem Monat ranzig geworden - mußte man das trockene Zeug wohl mit dem sogenannten Kaffee hinunterspülen. Ehe Hornblower jedoch den ersten Bissen zu sich nehmen konnte, ließ ihn ein oben ertönender Schrei aufhorchen, so daß seine Hand, die den Schiffszwieback hielt, auf halbem Wege zum Mund stehenblieb.
»Land!« hörte er. »Land, zwei Strich an Backbord voraus, Sir!«
Das war der Ausguck, der vom Vortopp aus das Oberdeck anrief. Hornblower, der noch immer regungslos verharrte, vernahm wachsenden Lärm. Nach drei Monaten bekam man zum erstenmal wieder Land zu sehen, und das mußte natürlich gerade auf dieser Reise mit unbekanntem Ziel jedermann in Aufregung versetzen. Der Kapitän selbst machte davon keine Ausnahme. Nicht nur war er äußerst gespannt, ob er das Land richtig angesteuert hatte, es bewegte ihn auch der Gedanke, daß er sich möglicherweise binnen vierundzwanzig Stunden mitten in jener gefahrvollen und schwierigen Mission befand, mit der ihn die Mylords der Admiralität betraut hatten. Er fühlte, daß sein Herz schneller zu schlagen begann. Er spürte das leidenschaftliche Verlangen, der ersten Gemütsregung nachzugeben und an Deck zu stürmen, doch bezwang er sich.
Stärker noch als sonst wünschte er in den Augen seiner Offiziere und Mannschaften als ein Mann zu erscheinen, der über unerschütterliches Selbstvertrauen verfügte. Je mehr Respekt man vor dem Kommandanten hatte, desto besser war es für das Schiff. So nahm er denn gewollt eine durchaus bequeme Haltung ein, schlug die Beine übereinander und schlürfte gänzlich gleichgültig seinen Kaffee, als der Midshipman Savage an die Kajütentür klopfte und gleich darauf hereinstürzte.
»Mr. Gerard schickt mich, Ihnen zu melden, daß Land an Backbord voraus gesichtet wurde, Sir«, sagte der junge Mann, der vor Erregung kaum stillzustehen vermochte. Hornblower schlürfte erst noch einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete, und dann kamen seine Worte langsam und ruhig.
»Sagen Sie Mr. Gerard, daß ich in wenigen Minuten nach Beendigung meines Frühstücks an Deck kommen werde.«
»Aye, aye, Sir«, stieß der Midshipman hervor. Das von ihm benutzte Wort bedeutete soviel wie »verstanden«. Im Sturmschritt verließ er die Kajüte. Seine großen plumpen Füße polterten über die Stufen des Niedergangs.
»Mr. Savage! Mr. Savage!« schrie Hornblower ihm nach, worauf das Vollmondgesicht des Gerufenen abermals erschien.
»Sie haben vergessen, die Tür zu schließen«, sagte Hornblower kühl. »Und bitte machen Sie nicht solchen Lärm auf der Treppe.«
»Aye, aye, Sir«, stammelte Savage niedergeschlagen.
Hornblower war mit sich zufrieden. Wohlgefällig strich er sich über das Kinn. Dann nippte er wieder an seinem Brotkaffee, doch sah er sich außerstande, noch mehr von dem Hartbrot zu essen. Mit den Fingern trommelte er auf die Tischplatte, als könne er dadurch die Zeit beschleunigen. Vom Vortopp, wohin ihn Gerard vermutlich mit einem Fernglas geschickt hatte, vernahm er die Stimme des jungen Clay. »Sieht aus wie ein brennender Berg, Sir. Zwei brennende Berge. Vulkane, Sir!«
Sofort stand vor Hornblowers geistigem Auge das Bild der Seekarte, die er so oft in der Abgeschlossenheit seiner Kajüte studiert hatte. Vulkane gab es hier an der Küste überall; die Gegenwart zweier feuerspeiender Berge an Backbord konnte den Standort des Schiffes noch nicht mit Bestimmtheit festlegen.
Und dennoch... dennoch... unzweifelhaft würde die Einfahrt zum Golf von Fonseca durch zwei an Backbord erscheinende Vulkane markiert werden. Es lag also durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß er, nachdem man elf Wochen lang außer Sicht von Land geblieben war, tadellos navigiert hatte. Hornblower vermochte nicht länger still zu sitzen. Er stand auf, besann sich noch gerade rechtzeitig darauf, daß er langsam gehen mußte, und begab sich mit völlig gleichgültigem Gesichtsausdruck an Oberdeck.