17. Kapitel
Bei klarer Sicht konnte vom Großtopp der Lydia aus ein Schiff auf ungefähr zwanzig Seemeilen gesichtet werden.
Demnach besaß der Kreis, den sie beherrschte, einen Durchmesser von vierzig Meilen Hornblower verbrachte die letzten Stunden der Dunkelheit mit der Überlegung, in welchem Kreis die Natividad bei Tagesanbruch stehen wurde Sie mochte ganz in der Nähe sein, oder hatte sich vielleicht schon hundertundfünfzig Seemeilen weit entfernt Mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit, die Natividad beim Hellwerden zu sichten, war äußerst gering, und damit hing auch sein Ruf als Seeoffizier am seidenen Haar. Nur sein navigatorischer Spürsinn konnte möglicherweise der Schwierigkeiten Herr werden. Seine Offiziere wußten so gut wie er selbst, daß sich sein Verhalten nur dann wirklich hätte rechtfertigen lassen, wenn ihm die Pläne des Feindes bekannt gewesen wären. Hornblower fühlte, daß ihn Gerard ungeachtet der Dunkelheit interessiert betrachtete, und dieses Empfinden veranlaßte ihn, starr und unbeweglich an Deck stehenzubleiben. Er verzichtete auf das Hinundhergehen, er regte nicht einmal die Hände, obwohl sein Herz schneller zu pochen begann, je näher die Stunde der Frühdämmerung kam.
Das schwärzliche Dunkel der Nacht wandelte sich in Grau.
Allmählich traten die Umrisse des eigenen Schiffes zutage, und deutlich wurde das Großmarssegel sichtbar. Im Osten zeichnete sich ein ganz schwacher rosiger Schimmer ab. Das graue Meer konnte man sehen mit seinen weißen Schaumköpfen. Für geübte Augen erweiterte sich der Sichtbereich auf eine Meile. Und dann erschien weit hinter dem Heck der Lydia ein funkelndes Goldkorn über der Kimm, um gleich wieder zu verschwinden, als die Fregatte in ein Wellental hinunterglitt. Der Vorgang wiederholte sich mehrere Male, wobei das Stück Gold zu wachsen schien. Die Sonnenscheibe stieg über den Horizont empor. Gierig sog sie den schwachen, über dem Wasser hängenden Dunstschleier ein, und dann stand sie in ihrer ganzen strahlenden Schönheit am Himmel. Das Wunder des jungen Tages war vollendet.
»Hart voraus ein Segel«, tönte es vom Großtopp hernieder.
Hornblower hatte richtig kalkuliert.
Zehn Meilen vorwärts der Lydia schlingerte die Natividad. Ihr Aussehen stand in seltsamem Gegensatz zu dem Anblick, den sie am vorhergehenden Morgen dargeboten hatte Man hatte versucht, eine Art v on Nottakelung herzustellen. Eine gedungene Marsstenge ragte an Stelle des verlorenen Fockmastes empor, und die Großmarsstenge war durch eine leichtere Stenge ersetzt worden. Diese Notmasten waren mit einem absonderlichen Sammelsurium von schlecht aufgebrachten Klüvern, Spiretsegeln und anderen Leinwandstücken versehen. »Als ob Großmama Wasche trocknet«, meinte Bush.
Offenbar hatte man drüben die Lydia bemerkt, denn die Natividad wich vom bisherigen Kurs ab und schien ausreißen zu wollen.
»Jagdgefecht«, bemerkte Gerard der das Fernrohr zum Auge geführt hatte. »Wird gestern wohl genug bekommen haben.«
Hornblower hörte die Bemerkung aber er glaubte, Crespos Gedankengänge besser zu begreifen. Wenn es ihm vorteilhaft erschien, einem Kampf auszuweichen - und das traf unzweifelhaft zu -, so tat er durchaus recht daran bis zur letzten Möglichkeit seine Absicht durchzuführen. Auf See war nichts gewiß. Irgend etwas mochte die Lydia daran hindern, ins Gefecht zu treten eine Bö, eine zufällige Beschädigung der Takelage, plötzlich auftretender Nebel - es gab unzählige Möglichkeiten denen zufolge die Natividad mit einem blauen Augen davonkommen konnte, und Crespo handelte entsprechend. Er dachte folgerichtig, wenn auch nicht heroisch, also ganz so, wie man es von ihm erwarten durfte.
Hornblowers Pflicht war es, die Absichten des Feindes zu durchkreuzen. Noch einmal musterte er die Natividad sehr eingehend. Er überzeugte sich auch davon daß die Segel der Lydia günstig standen, und dachte dann an seine Besatzung.
»Lassen Sie die Leute Frühstück empfangen«, befahl er. Jeder Kommandant eines Kriegsschiffes legte Wert darauf, die Mannschaft, wenn irgend möglich, satt ins Gefecht zu führen.
Er begann wieder nach seiner Gewohnheit auf dem Achterdeck hin und her zu gehen, da er es einfach nicht fertigbrachte, sich noch länger still zu halten. Wohl lief die Natividad davon, aber er wußte sehr wohl, daß sie sich erbittert zur Wehr setzen würde, wenn er sie einholte. Ihre im Batteriedeck aufgestellten schmetternden Vierundzwanzigpfünder stellten für das Holz einer leichtgebauten Fregatte ein sehr schweres Kaliber dar. Sie hatten tags zuvor wahrlich genug Unheil angerichtet. Hornblower hörte das melancholische Geräusch der Pumpen, mit denen das Wasser drunten im Raum niedrig gehalten werden mußte. Seit gestern ächzten sie unaufhörlich. Mit ihrem Notmast, mit den vielen Schußlöchern im Rumpf, durch die ungeachtet des untergezogenen Segels fortwährend Wasser einströmte, und mit einem Ausfall von vierundsechzig Mann war die Lydia nicht mehr fähig, noch ein schweres Gefecht durchzukämpfen.
Niederlage und Tod warteten vielleicht schon hinter jenem blauen Streifen der See.
Plötzlich stand Polwheal mit einem Tablett in Händen auf dem Achterdeck.
»Ihr Frühstück, Sir«, sagte er. »Wenn Ihre eigentliche Zeit kommt, werden wir im Gefecht sein.«
Mit einemmal kam es Hornblower zum Bewußtsein, wie sehr er nach einer Tasse dampfenden Kaffees verlangte. Hastig führte er sie zum Mund und trank, ehe es ihm einfiel, daß er vor diesem Untergebenen keine menschliche Schwäche zu erkennen geben durfte. »Ich danke dir, Polwheal«, nickte er, worauf er bedächtig schlürfte. »Und eine Empfehlung von der Dame, Sir, und ob sie im Orlopdeck bleiben dürfe, wenn's wieder losgeht.«
»Ha... hm«, räusperte sich Hornblower. Er starrte den Steward an, dessen unerwartete Frage ihn aus dem Takt brachte.
Während der ganzen Nacht hatte er sich bemüht, nicht mehr an Lady Barbara zu denken, wie ein Mann einen schmerzenden Zahn zu vergessen sucht. Das Verbleiben im Orlop bedeutete, daß Lady Barbara, nur durch ein Stück Segeltuch von ihnen getrennt, in nächster Nähe der Verwundeten weilen würde. Das war natürlich kein Platz für eine Frau, aber schließlich war es das Kabelgatt ebensowenig, wie es sich eben nicht verheimlichen ließ, daß eine Frau an Bord einer ins Gefecht segelnden Fregatte überhaupt nichts zu suchen hatte.
»Bring sie meinetwegen unter, wo du willst, wenn sie dabei nur in Deckung bleibt«, sagte er gereizt.
»Aye, aye, Sir. Und die Dame läßt sagen, daß Sie Ihnen für den heutigen Tag alles Glück wünscht, Sir, und... und... sie glaubt sicher, daß Sie siegen werden, Sir, weil... Sie's verdienen.«
Polwheal stolperte heftig über seine lange Rede. Offenbar war es ihm nicht gelungen, sie so fließend auswendig zu lernen, wie es seine Absicht gewesen war.
»Danke, Polwheal«, erwiderte Hornblower ernst. Er entsann sich des Augenblicks, da Lady Barbara gestern vom Oberdeck aus zu ihm emporgeblickt hatte. Klar und beseelt waren ihre Gesichtszüge gewesen... wie ein Schwert, dachte er, und wußte doch nicht, wie ihm ein so sonderbarer Vergleich in den Sinn kommen konnte.
»Ha... hm«, machte er zornig. Er fürchtete, daß sich sein Gesicht entspannt und daß Polwheal womöglich erkannt hatte, woran er gerade dachte. »Geh jetzt und sorge dafür, daß die Dame alles bekommt, was sie nötig hat.«
Die Leute hatten inzwischen gefrühstückt und strömten wieder an Deck. Nun da die bisherige Mannschaft abgelöst worden war, wurde der Rhythmus der Pumpen lebhafter. Die Geschützbedienungen standen auf ihren Gefechtsstationen, und von der Back aus beobachteten ein paar Matrosen gespannt den weiteren Verlauf der Jagd.
»Glauben Sie, daß der Wind so bleibt, Sir?« fragte Bush, der wie ein Unglücksvogel auf dem Achterdeck erschien. »Mir scheint, die Sonne frißt ihn auf.«
In der Tat konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß der Wind mit dem Höhersteigen des Tagesgestirns nachließ. Noch immer lief eine kurze und steile See, aber die Bewegungen der darüber hinweggleitenden Fregatte büßten jede Grazie und Leichtigkeit ein. Des steten Druckes eines guten Segelwindes beraubt, begann sie zu stoßen und zu bocken. Im Zenit nahm das Himmelsblau einen harten, metallischen Glanz an.
»Wir kommen schnell auf«, murmelte Hornblower, der den Gegner nicht aus den Augen ließ und jetzt so tat, als beachte er die Witterungszeichen nicht.
»Innerhalb von drei Stunden haben wir sie«, meinte Bush;
»das heißt, wenn der Wind nicht vollends abflaut.« Schnell wurde es heiß. Der Gegensatz gegen die verhältnismäßig angenehme Kühle der vergangenen Nacht ließ die Hitze besonders stark fühlbar werden. Die Mannschaft hatte sich nach Möglichkeit schattige Plätzchen ausgesucht und machte es sich bequem. Nun da der Wind nachließ, schien das Klancklank der Pumpen lauter zu werden. Hornblower erkannte plötzlich, daß er todmüde sein würde, wenn er sich nur ein wenig in dieser Richtung gehenließ. So stand er eigensinnig auf dem Achterdeck, indessen die Sonne auf seinen Rücken brannte. Alle Augenblicke hob er das Fernglas, um zur Natividad hinüberzusehen. Bush versuchte durch Trimmen der Segel das Schwächerwerden des Windes auszugleichen.
»Kurs halten, verdammt noch mal!« fuhr Hornblower den Steuermann an, als das in ein Wellental gleitende Schiff mit dem Bug ein wenig abfiel.
»Verzeihen Sie, Sir, aber es geht nicht«, lautete die Antwort.
»Wir haben nicht genug Wind.«
Das stimmte allerdings. Die Brise reichte nicht einmal mehr für die zwei Knoten aus, die dazu nötig waren, die Lydia steuerfähig zu erhalten.
»Wir müssen die Segel naß machen, Mr. Bush; sorgen Sie dafür«, befahl Hornblower.
Die Hälfte der einen Wache wurde für die neue Aufgabe eingeteilt.
Ein nasses Segel läßt natürlich weniger Luft durch als ein trockenes. Die Leute schoren Jolltaue durch die Blöcke der Rahen, heißten Seewasser nach oben und übergossen die Segel.
Die Sonne brannte jedoch so heiß, daß die Segeltucheimer dauernd auf- und niedersteigen mußten. In das Klancklank der Pumpen mischte sich jetzt das Kreischen der Blockscheiben.
Unter dem grellen Himmel schleppte sich die immer noch heftig arbeitende Fregatte weiter.
»Sie schafft's nicht«, meinte Bush und deutete mit dem Daumen zur Natividad hinüber. »Mit unserem Schiff kann sie's nicht aufnehmen, und die neue Takelage da wird ihr wenig nützen.«
Wirklich glitt der Zweidecker träge der Dünung entsprechend vorwärts und rückwärts, wobei er abwechselnd seine Breitseite und die in einer Linie stehenden Masten zeigte. Bei dem kaum spürbaren Luftzug war er außerstande, auch nur einigermaßen Kurs zu halten. Selbstzufrieden sah Bush zu dem neuen Kreuztopp hinauf und dann hinüber zu der schlingernden, keine fünf Seemeilen mehr entfernten Natividad. Die Minuten verstrichen. Nur die eintönigen Geräusche des Schiffes markierten die Zeit. Hornblower stand im sengenden Sonnenschein und fingerte an seinem Fernrohr herum. »Bei Gott, da ist die Brise wieder!« rief Bush plötzlich. Sie genügte wirklich, die Lydia ein wenig krängen zu lassen, und die Takelage gab einen leisen, harfenden Laut.
Stetig kroch die Fregatte weiter, wobei sie immer wieder klatschend in die Dünung einstampfte. Die Natividad kam näher.
»Bald genug wird auch sie den Wind spüren... da! Was habe ich gesagt?«
Die Segel des ehemaligen Spaniers füllten sich, als sie von der Brise erreicht wurden. Sie steuerte wieder den alten Kurs.
»So viel wie uns nützt es ihr nicht«, bemerkte Bush. »Gott im Himmel, wenn's nur so bleibt!«
Der Wind schien nachlassen zu wollen, wehte dann aber von neuem. Noch eine Stunde - vielleicht auch weniger -, dann mußte man auf Schußweite an die Natividad herangekommen sein.
»Wir sollten mit Einzelfeuer auf große Entfernung beginnen«, riet Bush, aber Hornblower nahm ihm solche Bevormundung sehr übel.
»Mr. Bush, ich vermag die Lage auch ohne Ihre gewiß sehr scharfsinnigen Bemerkungen zu beurteilen.«
»Ich bitte um Verzeihung«, erwiderte Bush verletzt. Einen Augenblick stieg ihm die Zornröte ins Gesicht, aber dann gewahrte er den Ausdruck der Besorgnis in Hornblowers müden Augen, und so schritt er schnell zur entgegengesetzten Reling hinüber, um seinen Ärger hinunterzuschlucken.
Wie auf ein Stichwort begann das Großsegel mit dem Getöse eines Kanonenschusses einmal laut hin und her zu schlagen. So unvermittelt die Brise aufgekommen war, so plötzlich schlief sie auch wieder ein. Und die Natividad hielt ihren Kurs inne! Der tückische Wind half ihr dabei. Hier in den tropischen Gebieten des Stillen Ozeans konnte ein Schiff guten Wind haben, während ein anderes kaum zwei Meilen davon entfernt in eine Flaute geriet; gerade so, wie der Seegang verriet, daß der Sturm der vergangenen Nacht noch jenseits des Horizontes auf der entfernteren Seite des Golfes von Tehuantepec tobte. Nervös starrte Hornblower ins grelle Sonnenlicht. Er fürchtete, die Natividad werde ihm glatt davonlaufen. So windstill war es geworden, daß auch das Anfeuchten der Segel nichts mehr nutzte. Hilflos torkelte die Lydia in der Dünung umher. Zehn Minuten vergingen, bevor Hornblower aufatmend erkannte, daß sich die feindliche Fregatte genauso benahm. Die Lydia rollte so heftig, daß sie in allen Fugen knarrte und ächzte. Dazu klatschten die schlaff herabhängenden Segel, und das Klappern der Blöcke mischte sich hinein. Nur der metallische Laut der Pumpen tönte gleichmäßig durch die heiße Luft. Die Natividad war jetzt noch drei Seemeilen weit entfernt, und damit befand sie sich noch ein gutes Stück außerhalb der Reichweite der britischen Geschütze.
»Mr. Bush«, befahl Hornblower, »lassen Sie die Barkaß und den Kutter zu Wasser bringen; wir wollen die Boote vorspannen.«
Sekundenlang machte der Erste Offizier ein bedenkliches Gesicht. Was der eine tat, stand ja auch dem anderen frei, aber dann fiel ihm ein, was Hornblower schon vor ihm bedacht hatte, daß die schnittige Lydia viel leichter in Schlepp zu nehmen war als der plumpe Rumpf der Natividad. Jedenfalls war es Hornblowers Pflicht, alles zu tun, um sein Schiff ins Gefecht zu führen.
»Barkaß und Kutter klar!« brüllte Harrison.
Die Pfeifen der Maate gaben dem Befehl Nachdruck, und bald setzten die ausgeschwungenen Boote von der in der Dünung schlingernden Fregatte ab.
Für die Bootsbesatzungen begann nun eine äußerst anstrengende Arbeit. Mit kräftigen Schlägen trieben sie ihre schweren Boote über die bewegte See, bis die Schlepptaue mit einem Ruck steif kamen. Von dem Augenblick an schien es so, als ob sie ungeachtet ihrer Mühen überhaupt nicht mehr vorwärts kämen. Machtlos wirbelten die Riemen das schäumende blaue Meerwasser auf. Schließlich fiel es der Lydia ein, etwas vorwärts zu kriechen, worauf die ganze Arbeit wieder von frischem begann. Die kräftige Dünung behinderte die Leute.
Zuweilen schnitten sämtliche Riemen einer Seite tief ins Wasser, so daß das betreffende Boot sich drehte und das andere behelligte. Die unter Segel so wendige Lydia wurde geradezu zum Klotz, wenn man sie auf diese Weise schleppen wollte.
Sie gierte und sackte zuweilen in einem Wellental so stark achteraus, daß die Beiboote mitgerissen wurden. Es gab dann jedesmal ein heftiges Klatschen der Riemen. Gleich darauf aber glitt die Fregatte plötzlich wieder vorwärts, ihren durchhängenden Schlepptauen nach. Die Leute, die sich mit voller Wucht in die Riemen gelegt hatten, purzelten fast durcheinander und liefen obendrein Gefahr, überrannt zu werden.
Nackt saßen sie auf den Duchten, während ihnen der Schweiß in Strömen über die Gesichter und die Oberkörper rann. Im Gegensatz zu ihren pumpenden Kameraden war es ihnen unmöglich, ihre Anstrengung in der Eintönigkeit der Arbeit zu vergessen, denn keinen Augenblick durften sie in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen. Verzweifelt zerrten sie an dem widerspenstigen Schiff. Ihr furchtbarer Durst wurde nur unvollkommen durch das Wasser gelöscht, das die Unteroffiziere von Zeit zu Zeit austeilten. Schließlich gab es sogar an den durch jahrelange seemännische Arbeit hornig und schwielig gewordenen Fäusten Risse und Blasen, so daß die Berührung der hölzernen Griffe zur Qual wurde. Hornblower kannte die Strapazen sehr wohl, die er der Mannschaft zumutete.
Er begab sich nach vorn und sah zu den Seeleuten hinunter. Er wußte, daß sein eigener Körper solche Anstrengungen höchstens eine halbe Stunde lang würde ertragen können. Durch stündliche Ablösung trug er der Lage Rechnung, wie er überhaupt sein Bestes tat, die allgemeine Stimmung zu heben. Hornblower empfand ein beruhigendes Mitgefühl mit seinen Matrosen. Drei Viertel davon waren vor sieben Monaten noch keine Seeleute gewesen und hegten auch keineswegs den Wunsch, es zu werden. Die alles erfassenden Preßkommandos hatten sie zusammengetrieben. Fast gegen seinen Willen bemühte er sich stets, im Gegensatz zu den meisten seiner Offiziere, in ihnen nicht nur Toppsgäste oder Vorhandsgäste, sondern das zu sehen, was sie vor jener Freiheitsberaubung gewesen waren: Packer, Jollenführer und ähnliches.
Er hatte Fuhrleute und Töpfer, ja sogar zwei Tuchmachergehilfen und einen Drucker unter der Mannschaft.
Leute waren das, die ohne Benachrichtigung der Familie und der Arbeitgeber zu diesem Dienst gepreßt worden waren. Sie mußten sich mit abscheulichen Arbeitsbedingungen abfinden, sie lebten in ständiger Furcht vor der neunschwänzigen Katze und hatten dauernd mit der Möglichkeit zu rechnen, den Tod des Ertrinkens zu finden oder in irgendeinem Gefecht zu fallen. Ein so lebhaft empfindender Mensch wie Hornblower mußte natürlich Verständnis für seine Leute haben, wie er überhaupt mit den zunehmenden Jahren im Herzen immer duldsamer wurde. Diese Schwäche aber fand ihren Ausgleich durch das unerschütterliche Bestreben, jede einmal begonnene Aufgabe auch zu Ende zu führen. Nun sich die Natividad in Sicht befand, durfte er nicht ruhen, ehe er sie niedergekämpft hatte, und wenn der Kommandant eines Kriegsschiffes keine Ruhe findet, so fällt auch die Ruhe der Besatzung ungeachtet schmerzender Rücken und blutender Hände aus.
Durch sorgfältige, mit Hilfe des Sextanten vorgenommene Messungen konnte er nach Verlauf einer Stunde mit Sicherheit feststellen, daß die Lydia ihrem Gegner um ein geringes näher gekommen war, und Bush, der die gleichen Messungen durchführte, bestätigte es. Die Sonne stieg, und zollweise schlich sich die Lydia an den Feind heran.
»Natividad bringt ein Boot zu Wasser, Sir!« rief Knyvett vom Vortopp aus.
»Wieviel Riemen?«
»Zwölf, soviel ich sehen kann, Sir. Sie nehmen das Schiff in Schlepp.«
»Viel Vergnügen«, spottete Bush. »Zwölf Riemen werden die alte Badewanne nicht weit bringen.«
Hornblower sah ihn mißbilligend an, worauf sich Bush wieder auf die andere Seite der Hütte zurückzog; er hatte ganz vergessen, daß sich sein Kommandant in wenig mitteilsamer Stimmung befand. Hornblower steigerte sich immer mehr in eine fieberhafte Spannung hinein. Er stand in der glutenden Sonne, und die Hitze, die von den Decksplanken zurückstrahlte, traf sein Gesicht. Das schweißige Hemd scheuerte seine Haut.
Er kam sich eingesperrt vor wie ein gefangenes Tier, in seinen Bewegungen durch die Einzelheiten der dienstlichen Erfordernisse beengt. Das endlose Klanken der Pumpen, das Rollen des Schiffes, das Klappern der Takelblöcke, das Ächzen der in die Dollen gezwängten Riemen... alle diese Geräusche machten ihn fast verrückt, als könne er beim geringsten Anlaß schreien oder gar weinen. Zur Mittagstunde wurden die in den Booten und an den Pumpen arbeitenden Leute abgelöst. Die Mannschaft trat zum Essenempfang an, wobei sich Hornblower bitter daran erinnerte, daß er sie des scheinbar dicht bevorstehenden Gefechtes wegen bereits zeitig hatte frühstücken lassen. Als es zwei glaste, fragte er sich, ob er die Natividad mit größter Erhöhung der Geschützmündungen bereits erreichen konnte, aber allein die Frage sagte ihm, daß es immer noch nicht der Fall war. Er kannte seine sanguinische Gemütsveranlagung und widerstand der Versuchung, seine Munition zu vergeuden.
Und dann, als er zum tausendstenmal durchs Fernrohr blickte, sah er plötzlich am hohen Heck der Natividad eine weiße Scheibe erscheinen. Schnell entwickelte sich die Scheibe zu einer dünnen Wolke, und sechs Sekunden nach ihrem Sichtbarwerden hallte der dumpfe Ton des Schusses an sein Ohr. Offenbar versuchte der Feind seinerseits die Entfernung zu ermitteln.
»Die Natividad trägt auf dem Achterdeck zwei lange Achtzehnpfünder«, sagte Gerard zu Bush, so daß Hornblower es hören mußte. »Schweres Kaliber für so'n Jagdgefecht.«
Hornblower wußte es. Möglicherweise mußte er die Lydia eine Stunde lang den Geschossen jener beiden schweren Geschütze aussetzen, ehe er seinen auf der Back aufgestellten Neunpfünder zum Tragen bringen konnte. Wieder quoll Rauch aus dem Heck der Natividad hervor, und diesmal gewahrte Hornblower eine Wassersäule, die ungefähr fünfhundert Meter vorwärts der Lydia aufspritzte. Angesichts der Entfernung und der hohen Dünung bedeutete das jedoch nicht, daß die englische Fregatte noch außer Schußweite des Feindes stand. Hornblower hörte die nächste Kugel brummen. Diesmal schlug sie gischtend nur fünfzig Meter und etwas rechts vom Vorsteven der Lydia ein.
»Mr. Gerard«, sagte Hornblower, »Mr. Marsh soll mal feststellen, was er mit dem langen Buggeschütz leisten kann.«
Es würde die Leute aufheitern, wenn sie, statt als wehrlose Scheibe zu dienen, hin und wieder das Krachen eines Kanonenschusses vernähmen. Marsh kam aus der Finsternis der unteren Schiffsräume hervor - er war in der Pulverkammer gewesen - und blinzelte im grellen Sonnenschein. Während er die Entfernung zur Natividad abschätzte, schüttelte er zweifelnd den Kopf. Dennoch lud er die Kanone liebevoll mit eigener Hand. Er gab ihr die größtmögliche Ladung, und es dauerte mehrere Sekunden, bevor er die rundeste und kalibermäßig beste Kugel ausgesucht hatte. Sorgfältig richtete er das Geschütz und trat dann, die Hand an der Abzugsleine, beiseite. Er beobachtete das Heben und Senken des Bugs, indessen ein Dutzend Teleskope auf die Natividad gerichtet wurden und alles gespannt auf den Schuß wartete. Plötzlich riß Marsh an der Leine; die Kanone brüllte auf. Flach hallte das Echo durch die heiße, regungslose Luft.
»Zwei Kabellängen zu kurz!« schrie Knyvett vom Vortopp herunter. Hornblower hatte den Einschlag nicht gesehen. Er empfand es als neuen Beweis seiner Unzulänglichkeit, verbarg das Gefühl aber unter seiner starren Maske.
»Noch mal, Mr. Marsh!«
Die Natividad feuerte jetzt gleichzeitig aus beiden Heckgeschützen. Noch während Hornblower sprach, krachte eine der beiden achtzehnpfündigen Kugeln dicht oberhalb der Wasserlinie in den Bug der Lydia. Er hörte, wie der die Barkaß kommandierende junge Savage mit schriller Stimme seine Leute anschrie, um sie zu größerer Leistung anzuspornen. Offenbar war jene Kugel dicht über seinen Kopf hinweggeflogen. Marsh strich sich den Bart und machte sich dann daran, den Neunpfünder wieder zu laden. Indessen erwog Hornblower für sich sehr eingehend die Möglichkeiten des Gefechts.
Ungeachtet des geringeren Kalibers besaß das lange Buggeschütz eine größere Schußweite als die kürzeren Rohre der Batterie. Die Karronaden aber, die ungefähr die Hälfte der Armierung ausmachten, kamen höchstens für den Nahkampf in Frage. Also mußte die Lydia sich dicht an den Gegner heranarbeiten, ehe sie ihn erfolgreich anzugreifen vermochte.
Zwischen dem Zeitpunkt, an dem die Natividad ihre gesamte Bewaffnung einsetzen konnte, und jenem, an dem die Lydia darauf antworten konnte, würde eine lange und gefahrbringende Spanne liegen. Ausfälle würde es geben, vielleicht demontierte Geschütze und schwere Verluste. Hornblower erwog das Für und Wider eines entscheidenden Gefechts, während Marsh über Kimme und Korn seines Neunpfünders visierte. Schließlich gab sich Hornblower innerlich einen Ruck. Er hörte auf, sein Kinn zu reiben, denn sein Entschluß stand fest. Er hatte das Gefecht begonnen, er wollte es unter allen Umständen bis zum Ende durchführen, koste es, was es wolle. Zuweilen konnte die Wendigkeit seines Geistes zu verbissenem Eigensinn erstarren.
Der Neunpfünder donnerte in die Stille, als wolle er solchen Entschluß bestätigen.
»Querab vom Ziel!« meldete Knyvett triumphierend. »Gut so, Mr. Marsh«, lobte der Kommandant, worauf sich Marsh selbstzufrieden den Bart strich.
Die Natividad begann schneller zu feuern. Dreimal verkündete das Krachen splitternden Holzes, daß die Richtkanoniere ihre Sache gut gemacht hatten. Plötzlich taumelte Hornblower wie unter dem Zugriff einer unsichtbaren Faust, und ein kurzer zerreißender Laut gellte ihm in die Ohren.
Ein Abpraller hatte eine Furche in die Beplankung des Achterdecks gepflügt. Nahe der Heckreling kauerte ein Seesoldat und starrte einfältigen Blicks sein linkes Bein an, dem der Fuß fehlte. Ein anderer ließ klappernd das Gewehr fallen und schlug beide Hände vor das von einem Splitter zerfetzte Gesicht. Blut sprudelte zwischen seinen Fingern hervor.
»Sind Sie verwundet, Sir?« rief Bush, der zu seinem Kommandanten eilte. »Nein.«
Hornblower starrte bereits wieder durchs Glas zur Natividad hinüber, indessen die Verwundeten fortgeschafft wurden. An der Seite der Natividad erschien ein dunkler Punkt, der sich streckte, als wolle er auseinanderlaufen. Es war das Boot, das die Fregatte hatte schleppen sollen; vielleicht war der Versuch aufgegeben worden. Indessen wurde das Boot nicht aufgeheißt.
Hornblower begriff den Vorgang nicht gleich. Der stummelartige Fockmast der Natividad und der Großtopp wurden sichtbar. Unter größten Mühen versuchten die Leute dort drüben, das Schiff so weit herumzuholen, daß die Breitseite zum Tragen kam. Statt der bisherigen zwei würden alsbald fünfundzwanzig Kanonen auf die Lydia feuern.
Hornblowers Atem ging unwillkürlich ein wenig schneller, so daß er ein paarmal schlucken mußte, um ihn wieder zu regulieren. Auch sein Puls beschleunigte sich. Er behielt das Glas am Auge, bis er mit Sicherheit das Manöver des Feindes erkannt hatte, worauf er ganz gelassen zur Kühl schritt. Er bemühte sich, einen sorglosen und heiteren Eindruck zu machen, denn er wußte, daß die Leute sich freudiger für einen solchen Kommandanten einsetzen würden.
»Kerls, die da drüben warten jetzt auf uns«, sagte er. »Binnen kurzem werden uns wohl einige Brocken um die Ohren fliegen.
Wir wollen ihnen zeigen, daß sich Engländer aus so was nichts machen.«
Wie er erwartet und gehofft hatte, jubelten ihm die Männer zu. Wieder richtete er sein Glas auf die Natividad. Sie drehte noch immer, wenn auch sehr langsam, denn es war ein mühevolles Geschäft, den schweren Zweidecker in einer derartigen Flaute zu bewegen, aber die drei Masten waren jetzt ganz voneinander getrennt, und schon konnte Hornblower die weißen Pfortengänge aufleuchten sehen.
»Ha... hm...«
Von vorn tönte das Knirschen der Riemen herüber. Die Leute mühten sich ab, um die Lydia an den Feind zu bringen. An einer Stelle des Oberdecks stand eine kleine Gruppe von Offizieren - Bush und Crystal gehörten zu ihr -, die in sachlicher Weise den Prozentsatz der Treffer einer auf fast zweitausend Meter abgefeuerten spanischen Breitseite erörterten. Die Leute waren so kaltblütig, wie es Hornblower aufrichtig niemals sein konnte.
Mehr als den Tod fürchtete er die Niederlage und die mitleidvolle Geringschätzung seiner Kameraden. Die größte Angst aber hegte er vor einer etwaigen Verstümmelung. Ein auf zwei Holzbeinen einherstelzender ehemaliger Seeoffizier konnte wohl ein Gegenstand des Bedauerns sein, er mochte mit den Lippen als einer der heroischen Verteidiger Großbritanniens gefeiert werden, aber dessen ungeachtet machte er doch eigentlich eine komische Figur. Und Hornblower verabscheute den Gedanken, eine komische Figur zu sein. Er wurde womöglich so entstellt, daß man seinen Anblick nicht ertragen konnte. Er schauderte, obwohl er sich die Sache nicht einmal im einzelnen ausmalte und nicht an die Schrecken dachte, die er, auf Gnade und Ungnade dem Nichtskönner Laurie ausgeliefert, dort drunten im dunklen Verbandsplatz zu erdulden haben würde.
Plötzlich war die Natividad in Pulverqualm gehüllt, und wenige Sekunden später wurde die Luft und das Wasser um das britische Schiff herum von den Einschlägen der Breitseite zerrissen.
»Nur zwei Treffer!« rief Bush erfreut.
»Was ich gesagt habe«, nickte Crystal. »Ihr Kommandant sollte herumlaufen und jedes Geschütz persönlich richten.«
»Wer weiß, vielleicht tut er's«, meinte Bush.
In diesem Augenblick brüllte wieder der Neunpfünder seinen trotzigen Hohn über das Meer. Hornblower bildete sich ein, daß seine angestrengt beobachtenden Augen mittschiffs der Natividad Holztrümmer umherwirbeln sahen, wenn ihm auch angesichts der Entfernung ein solcher Treffer unwahrscheinlich vorkam.
»Gut, Mr. Marsh!« schrie er. »Sie haben ihn getroffen, den Burschen!«
Die Natividad feuerte eine zweite Breitseite, eine dritte.
Immer wieder fegten die Kugeln der Länge nach über die Decks der Lydia. Wie am gestrigen Tage lagen Tote umher, und stöhnende Verwundete wurden nach unten geschafft.
»Jedem mathematisch denkenden Menschen muß es einleuchten, daß die Geschütze von verschiedenen Männern gerichtet werden«, sagte Crystal. »Die Streuung ist zu groß, als daß es anders sein könnte.«
»Unsinn!« widersprach Bush nachdrücklich. »Beachten Sie doch die lange Pause zwischen den Breitseiten. Da hat einer Zeit genug, jedes Geschütz einzeln zu richten. Wozu könnten sie die Spanne sonst benutzen?«
»Die Mannschaft eines Dago...«, begann Crystal wieder, aber das Heulen der über ihm vorbeifliegenden Kanonenkugeln ließ ihn schweigen.
»Mr. Galbraith!« schrie Bush. »Lassen Sie das Großstengestag sofort spleißen.« Triumphierend wandte er sich an Crystal. »Haben Sie gemerkt, wie die ganze Breitseite zu hoch abkam? Wie erklären Sie das mit Ihrem mathematischen Denken?«
»Sie feuerten, als die Natividad nach Feuerlee krängte, Mr. Bush. Wirklich, ich sollte doch meinen, daß nach den Erfahrungen von Trafalgar...«
Gar zu gern hätte Hornblower die Fortführung des Gesprächs untersagt, das an seinen Nerven fraß, aber er konnte nicht ein solcher Tyrann sein.
Infolge der Windstille hatte sich der Pulverqualm um die Natividad gelagert. Geisterhaft schimmerte sie durch den Dunst, und nur ihr einsamer Kreuzmast ragte darüber hinaus in die klare Luft.
»Mr. Bush«, fragte er. »Wie weit schätzen Sie die Entfernung?«
Bush überlegte erst genau, bevor er antwortete.
»Dreiviertel Meilen, sollte ich meinen, Sir.«
»Eher zweidrittel«, warf Crystal ein.
»Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt«, sagte Hornblower kurz.
Mochte nun der eine oder der andere der Offiziere recht haben, jedenfalls konnten die Karronaden auf solche Entfernung nicht in das Gefecht eingreifen. Noch immer also mußte die Artillerie der Lydia mit Ausnahme des Neunpfünders schweigen. Bush war offenbar der gleichen Meinung. Jedenfalls ließen seine nächsten Befehle darauf schließen.
»Zeit zur Ablösung der Bootsgäste«, sagte er und begab sich nach vorn, um das Nötige zu veranlassen. Hornblower hörte, wie er die Leute zur Eile trieb, damit die Mannschaft wieder anrudern konnte, ehe die Lydia das bißchen Fahrt verlor, das sie noch machte.
Obwohl der Nachmittag bereits fortgeschritten war, herrschte dennoch eine Gluthitze. Der Dunst des aufs Deck vergossenen Blutes mischte sich mit dem Teergeruch der erwärmten Decksnähte und dem Pulverqualm des Neunpfünders, denn nach wie vor beschoß Marsh den Feind. Hornblower fühlte sich elend; ja, ihm war so übel, daß er fürchtete, er werde sich schändlicherweise angesichts seiner Untergebenen erbrechen müssen. Wenn Müdigkeit und Sorgen ihn bis zu einem gewissen Grad zermürbt hatten, empfand er die stampfenden und schlingernden Bewegungen des Schiffes viel stärker als sonst.
Es fiel ihm auf, daß die Leute, die während längerer Zeit auf ihren Gefechtsstationen gelacht und Witze gemacht hatten, nunmehr still geworden waren, da sie sich gegen das feindliche Feuer nicht wehren konnten. Das war ein schlechtes Zeichen.
»Weitergeben: Sullivan soll mit seiner Fiedel an Oberdeck erscheinen«, befahl Hornblower.
Der verrückte rothaarige Ire kam nach achtern. Die Geige hielt er unter den Arm geklemmt, und mit den Fingerknöcheln rieb er sich die Stirn.
»Spiel uns auf, Sullivan«, rief Hornblower. »Holla, Kerls, wer von euch tanzt am besten Hornpipe?«
Offenbar herrschte hinsichtlich der Beantwortung der Frage eine Meinungsverschiedenheit.
»Benskin, Sir«, meinten einige.
»Hall, Sir«, ließen sich andere Stimmen vernehmen.
»Nein, MacEvoy, Sir.«
»Dann haben wir ja die Auswahl«, sagte Hornblower.
»Kommt mal her, ihr drei. Jeder von euch tanzt uns einen Hornpipe vor, und der Beste bekommt eine Guinee.«
In späteren Jahren wurde immer und immer wieder erzählt, wie die Lydia ins Gefecht geschleppt wurde, indessen man auf ihrem Oberdeck Hornpipe tanzte. Man betrachtete es als ein Beispiel für den kaltblütigen Schneid des Kommandanten, und nur Hornblower selbst wußte, wie wenig stichhaltig solche Behauptung war. Er gab den Befehl lediglich, um die Leute bei guter Stimmung zu halten.
Später an jenem schrecklichen Nachmittag ertönte vorn ein Krachen, dem von außenbords lautes Geschrei folgte. »Barkaß ist gesunken!« meldete Galbraith von der Back aus, aber Hornblower war bereits zu Stelle.
Eine Kanonenkugel hatte das Beiboot völlig zertrümmert. Die Leute strampelten in der Dünung; sie suchten das Wasserstag zu erwischen oder in den Kutter zu gelangen, denn alle Überlebenden hatten eine Höllenangst vor den Haifischen.
»Na, da haben uns die Dagos der Mühe enthoben, die Barkaß wieder aufzubeißen«, sagte Hornblower laut. »Jetzt sind wir nahe genug herangekommen, ihnen die Zähne zu zeigen.« Die Matrosen, die ihn hörten, riefen Hurra.
»Mr. Hooker!« rief er den Midshipman des Kutters an.
»Wenn Sie die Leute aufgefischt haben, legen Sie bitte Ihr Ruder nach Steuerbord. Wir wollen das Feuer eröffnen.« Er kehrte zur Hütte zurück.
»Hart Steuerbord!« befahl er dem Rudergänger. »Mr. Gerard, Sie können feuern, sobald Ihre Geschütze ein Ziel haben.«
Sehr langsam kam die Lydia herum. Noch ehe sie die Wendung vollendet hatte, wurde sie von einer neuen Breitseite der Natividad getroffen, aber Hornblower merkte es gar nicht.
Die Zeit der Untätigkeit war endlich vorüber. Er hatte sein Schiff bis auf vierhundert Meter an den Gegner herangeführt.
Nun bestand seine ganze Pflicht darin, daß er auf Deck hin und her gehend seinen Leuten ein gutes Beispiel gab.
»Sachte, Mr. Hooker!« brüllte er. »Es genügt!« Zollweise drehte die Fregatte. Gerard visierte über eine Kanone hinweg, um den Augenblick abzupassen, da sie das Ziel fand.
»Achtung!« schrie er zurücktretend, wobei er genau die Schlingerbewegung des Schiffes abschätzte. »Feuer...!« Unter dem Donner der Salve quoll dichter Qualm aus den Stückpforten, und der Rückstoß ließ die Lydia nach Feuerlee überholen.
»Feste, Kerls!« schrie Hornblower durch den Lärm. Nun da es endlich hart auf hart ging, empfand er eine freudige Erregung; vergessen war die entsetzliche Angst vor Verstümmelung.
Innerhalb von dreißig Sekunden waren die Geschütze wieder geladen, ausgerannt und abgefeuert. Das wiederholte sich unaufhörlich. Gerard beobachtete und kommandierte.
Hornblower hatte den Eindruck, daß auf fünf Breitseiten der Lydia nur zwei des Gegners geantwortet hatten. Solche überlegene Feuergeschwindigkeit glich die schwere Bestückung der Natividad vollkommen aus. Bei der sechsten Salve ging eine Kanone eine Sekunde vor Gerards Kommando los. Hornblower sprang vor, um die betreffende Geschützbedienung festzustellen, die sich gleich durch verlegene Blicke und betonte Geschäftigkeit verriet. Er zeigte auf sie.
»Ruhe! Den nächsten, der vormuckt, lasse ich auspeitschen.«
Solche Strenge war nötig, um die Mannschaft bei dieser noch immer erheblichen Schußentfernung in der Hand zu behalten, denn in der Hitze des Gefechts konnte man sich nicht darauf verlassen, daß die Geschützführer immer den richtigen Augenblick zum Feuern abschätzten, zumal sie mit Laden und Richten alle Hände voll zu tun hatten.
»Old Horny soll leben!« quiekte eine unbekannte Stimme.
Das schallende Gelächter und die Hochrufe wurden durch Gerards nächstes Kommando zum Schweigen gebracht.
Das Schiff war bereits in einen dichten Qualm gehüllt, der es mit einem Londoner Nebel aufnehmen konnte. Vom Achterdeck konnte man die auf der Back stehenden Menschen nicht mehr erkennen, und durch die künstliche Dämmerung zuckte lang flammendes, gelbrotes Mündungsfeuer, das ungeachtet des draußen herrschenden grellen Sonnenscheins deutlich zu sehen war. Von der Natividad allerdings war nichts als eine hohe Rauchwolke und die daraus hervorragende einsame Maststange sichtbar. Der in grauen Schwaden über Deck ziehende beißende Dunst ließ die Augen tränen und reizte die Lungen. Die Haut begann in unangenehmer Weise zu prickeln.
Plötzlich stand Bush neben seinem Kommandanten.
»Die Natividad spürt die Beschießung, Sir!« schrie er durch den Spektakel. »Sie feuert sehr wild. Sehen Sie nur, Sir!« Von der nächsten feindlichen Breitseite trafen nur zwei Kugeln. Ein halbes Dutzend schlug zusammen hinter dem Heck der Lydia ein, so daß der aufsprühende Gischt das Achterdeck näßte.
Hornblower nickte zufrieden. Dies war die Rechtfertigung der von ihm angewandten Taktik und des Wagnisses, das zunächst damit verbunden gewesen war. Um inmitten des Lärms, des Rauches, der eintretenden Verluste und dem Durcheinander eines Seegefechts ein schnelles und doch sorgfältig geleitetes Feuer zu unterhalten, dazu gehörte eine Manneszucht und ein Ausbildungsgrad, die zu besitzen sich die Besatzung der Natividad nicht rühmen konnte.
Durch den Dunst sah Hornblower zum Oberdeck der Lydia hinab. Der Laie, der das geschäftige Hin und Her der Kartuschbeutel herbeischleppenden Schiffsjungen, die fieberhaften Anstrengungen der Geschützbedienungen, die Toten und Verwundeten, das Halbdunkel und den Lärm beobachtet hätte, würde das Ganze vielleicht für ein heilloses Durcheinander gehalten haben, aber Hornblower wußte es besser. Er sah Gerard beim Großtopp stehen, und Gerard glich fast einem ekstatischen Heiligen, denn außer den Frauen hatte er nur eine einzige Leidenschaft, und das war die Artillerie.
Hornblower bemerkte, wie die Midshipmen und die anderen Batterie-Offiziere gespannt auf Gerards Befehle warteten, während die Bedienung der Geschütze rhythmisch fortgeführt wurde. Ladungen wurden eingerammt, mit Wischern, an denen nasse Schwämme befestigt waren, die Rohre gereinigt, und die Geschützführer beugten sich visierend und die rechte Hand erhebend über das Bodenstück ihrer Kanonen.
Die Backbordbatterie hatte bereits große Ausfälle. An jedem Geschütz standen nur noch zwei Mann. Sie hatten Feuerpause, blieben aber in Alarmbereitschaft, um sofort wieder in Tätigkeit treten zu können, wenn die Gefechtslage es forderte. Der Rest der Besatzung war überall verteilt. An den Steuerbordgeschützen mußten Ausfälle ersetzt werden, andere arbeiteten an den Pumpen, deren klägliches Klanken gleichmäßig durch den fürchterlichen Lärm tönte. Droben in der Takelage wurden Schäden ausgebessert, und nur die Kuttergäste drunten im Boot konnten ein wenig ruhen. Heimlich dankte Hornblower dem Himmel, daß es ihm ermöglicht worden war, sieben Monate lang die Mannschaft einzuexerzieren, bis sie diesen hohen Grad der Ausbildung und der Disziplin erreicht hatte.
Irgend etwas - war es der Rückstoß der Kanonen, ein schwacher Luftzug, oder die rollende Dünung? - trieb die Lydia um ein geringes von ihrem Gegner fort. Hornblower erkannte, daß die Geschütze immer weiter herumgeworfen werden mußten, um dem auswandernden Ziel folgen zu können, wodurch die Feuergeschwindigkeit litt. Er rannte nach vorn und kletterte auf das Bugspriet hinaus, bis er sich über Hooker und seinen im Kutter sitzenden Leuten befand, die in höchster Spannung dem Kampf zusahen.
»Mr. Hooker, bringen Sie den Bug zwei Strich nach Steuerbord herum.«
»Aye, aye, Sir.«
Die Mannschaft legte sich in die Riemen und pullte auf die Natividad zu. Die Schlepptrossen kamen steif, indessen ringsum sie das Wasser abermals von einer schlecht liegenden Breitseite zu Schaum aufgewirbelt wurde. Den gewaltigen Anstrengungen der Kuttergäste war es zu danken, daß die Fregatte rechtzeitig herumkam. Sobald Hornblower sich davon überzeugt hatte, eilte er wieder zu seinem Standpunkt auf der Hütte zurück. Dort suchte bereits ein bleicher Schiffsjunge nach ihm.
»Mr. Howell schickt mich, Sir, Steuerbord vordere Pumpe ist kurz und klein geschossen.«
»So?« Hornblower wußte, daß ihm der Schiffszimmermann nicht bloß solche Hiobspost schicken würde.
»Er richtet 'ne andere her, Sir, aber es wird 'ne Stunde vergehen, vor daß sie arbeiten tut. Ich soll Ihnen melden, Sir, daß das Wasser langsam steigt.«
Hornblower räusperte sich. Der ihn anredende Bengel bekam runde Augen und wurde ganz zutraulich, nun die erste Befangenheit, zum Kommandanten zu sprechen, überwunden war.
»Vierzehn Mann sind bei der Pumpe zermalmt worden, Sir...
Es war fürchterlich, Sir.«
»Sehr schön. Lauf nur wieder zu Mr. Howell und sage ihm, der Kommandant ist davon überzeugt, daß er sein Bestes tun wird, die neue Pumpe bald in Gang zu bringen.«
»Aye, aye, Sir.«
Hornblower sah dem über das Oberdeck laufenden Jungen nach, der sich geschickt durch das dort herrschende Gedränge bewegte. Nun mußte er sich gegenüber dem Seesoldaten ausweisen, der beim vorderen Niedergang Posten stand, denn niemand durfte sich unter Deck begeben, wenn er nicht beweisen konnte, daß er dort dienstlich etwas zu tun hatte.
Hornblower hatte das Gefühl, daß die Meldung des Zimmermanns belanglos war, weil sie von seiner Seite keine Entscheidung erforderte. Es galt, den Kampf fortzuführen, mochte ihnen das Schiff unter den Füßen wegsacken oder nicht.
In dieser Hinsicht jeder Verantwortung enthoben zu sein, bot ihm eine gewisse Befriedigung.
»Anderthalb Stunden schon, Sir«, sagte Bush, der händereibend auf ihn zutrat. »Großartig, Sir; einfach großartig!«
Hornblower hätte ebensogut glauben können, das Gefecht habe nur zehn Minuten gedauert, aber Bush hatte pflichtgemäß die neben dem Kompaß angebrachte Sanduhr beobachtet.
»Noch nie im Leben habe ich Dagos so tapfer bei ihren Kanonen ausharren sehen«, setzte der Erste Offizier hinzu.
»Richten tun sie miserabel, aber die Feuergeschwindigkeit läßt nicht nach. Dabei bin ich überzeugt, daß wir ihnen ganz gehörig zugesetzt haben, Sir.«
Er versuchte durch den wirbelnden Rauch zu spähen und wedelte sogar lächerlicherweise mit der Hand, ihn fortzutreiben.
Diese Geste, die verriet, daß Bush doch nicht ganz so ruhig war, wie er sich den Anschein gab, bereitete dem Kommandanten ein eigentümliches Vergnügen. Noch während er sprach, näherte sich Crystal.
»Der Qualm wird etwas dünner, Sir. Ich möchte annehmen, daß eine leichte Brise aufkommt.«
Gleichzeitig hielt er einen angefeuchteten Zeigefinger empor.
»Wahrhaftig, Sir; ein schwacher Luftzug von Backbord achtern kommend. Ah!«
Ein etwas stärkerer Stoß setzte ein. Wie eine zusammenhängende Masse wurde die Rauchschicht über den Steuerbord-Bug davongetrieben, und nun war es, als hebe sich der Bühnenvorhang vor einer Szene. Dort drüben lag die Natividad, und sie glich einem Wrack. Der behelfsmäßig aufgebrachte Fockmast war den Weg seines Vorgängers gegangen, und der Großtopp war ihm gefolgt. Jetzt stand lediglich noch der Kreuzmast, der hinterste von den dreien. Die Natividad, die in Feuerlee ein riesiges Gewirr von Takelage mit sich schleppte, rollte heftig in der Dünung. Vorn waren drei Stückpforten derartig zerschmettert, daß sie nur noch eine einzige darstellten. Es sah aus, als sei ihr ein Zahn ausgeschlagen worden.
»Liegt tief im Wasser, Sir«, meinte Bush, aber im gleichen Moment spie der Gegner eine neue Qualmwolke aus der zerfetzten Seite aus, und zufällig war diesmal jeder Schuß ein Treffer, wie das von drunten herauftönende Krachen zweifelsfrei verriet. Als sich der den Feind umgebende Rauch verzog, konnte man beobachten, wie die Natividad hilflos in den Wind drehte. Die Lydia hatte die Brise bereits gespürt.
Hornblower fühlte, daß sie ausreichte, sein Schiff steuerfähig zu machen. Der am Ruder stehende Steuermann griff die Speichen des Rades, um ein Abweichen zu verhindern. Sofort erkannte Hornblower die Gunst des Augenblicks.
»Einen Strich Steuerbord«, befahl er. »Vorschiff, Achtung!
Kutter loswerfen!«
Die Lydia legte sich quer vor den Bug des Gegners und bedachte ihn mit Donner und Flamme.
»Back das Großmarssegel!« rief Hornblower.
Durch das Krachen der Batteriegeschütze tönte vom Oberdeck wieder das Hurrageschrei der Leute herauf. Weit hinter dem Heck berührte die von rotgoldenem Glanz umgebene Sonnenscheibe den Horizont. Bald würde es Nacht werden.
»Sie muß doch endlich die Flagge streichen. Herrgott im Himmel! Weshalb streicht sie die Flagge nicht?« Bush sprach die Worte, denn abermals fegte eine auf nahe Entfernung abgefeuerte Breitseite der Länge nach durch den hilflosen Feind.
Hornblower wunderte sich nicht über dessen Verhalten. Kein von Crespo geführtes und die Flagge el Supremos führendes Schiff würde die Flagge streichen. Durch Qualm und Dunst hindurch sah er den goldenen Stern auf blauem Grund flattern.
»Drauf, Kerls!... Drauf!« brüllte Gerard.
Bei der kurzen Entfernung durfte er den zuverlässigen Geschützführern das Feuer freigeben. Jede Geschützbedienung arbeitete so schnell wie möglich. Die Rohre waren so heiß geworden, daß die tropfnassen Wischer jedesmal beim Berühren des fast glühenden Metall zischten und dampften. Es wurde dunkler. Wieder konnte man das lang flammende, gelbrote Mündungsfeuer züngeln sehen. Hoch droben über dem schnell verblassenden Abendrot erschien der erste hell funkelnde Stern.
Zerfetzt und zersplittert hing das Vorgeschirr der Natividad von ihrem Bug herunter. Nun sah man im schwindenden Tageslicht auch den Kreuzmast über Bord gehen, der von den von vorn nach achtern über die Länge des Decks fegenden Kugeln zerschmettert worden war.
»Bei Gott, sie muß jetzt die Flagge streichen«, sagte Bush nochmals.
Bei Trafalgar war er als Prisenoffizier zu einem eroberten spanischen Schiff geschickt worden. In seinem Kopf drängten sich die Erinnerungen an den Anblick, der sich ihm geboten hatte. Er sah die demontierten Geschütze, die an Deck aufgehäuften Toten und Verwundeten, die auf dem entmasteten und hilflos in der Dünung schlingernden Spanier hin und her rollten, das ganze Elend der Besiegten. Wie zur Antwort auf seine Gedanken blitzte es plötzlich am Bug der Natividad auf.
Ein paar todesmutige Kerle hatten es mit Takeln und Handspaken fertiggebracht, ein Batteriegeschütz nach vorn zu schaffen, und nun beschossen sie den düster emporragenden Rumpf der Lydia. »Schnellfeuer... zum Donnerwetter noch mal, Schnellfeuer!« tobte Gerard.
Die Lydia trieb nun nach Lee auf die umhertaumelnde Hulk zu. Von Minute zu Minute verringerte sich der Abstand. Sofern ihre Augen nicht vom Mündungsfeuer der Kanonen geblendet wurden, konnten Hornblower und Bush Bewegung auf dem Oberdeck der Natividad wahrnehmen. Gewehrfeuer knatterte auf. Dicht neben dem britischen Kommandanten klatschte eine Musketenkugel in die Reling. Er achtete nicht darauf. Seine überwältigende Müdigkeit kam ihm zum Bewußtsein.
Der Wind kam stoßweise aus nicht gleichbleibender Richtung, und die Dunkelheit erschwerte es noch mehr, den Winkel zu bestimmen, in dem sich die beiden Schiffe einander näherten.
»Je dichter wir herankommen, je schneller werden wir mit ihr fertig«, sagte Bush.
»Stimmt«, nickte Hornblower, »aber bald werden wir sie rammen, wenn's so weitergeht.«
Er raffte sich zu einer neuen Anstrengung auf. »Mr. Bush, bereiten Sie die Leute darauf vor, daß sie möglicherweise einen Enterversuch abweisen müssen«, sagte er, worauf er sich dorthin begab, wo die beiden Steuerbordkarronaden des Achterdecks donnerten. Die Bedienungen waren derartig in die eintönige Arbeit des Ladens, Richtens und Feuerns vertieft, daß mehrere Sekunden vergingen, ehe sie ihn beachteten. Dann standen sie schwitzend still, indessen Hornblower seine Befehle gab. Die beiden Geschütze wurden mit Kartätschen geladen. Nun kauerten die Leute bei ihren Karronaden. Während die Batterie der Lydia unaufhörlich feuerte, trieben die Gegner immer näher aufeinander zu. Herausforderndes Gebrüll tönte von der Natividad herüber, und das am Bug aufblitzende Mündungsfeuer der Musketen beleuchtete eine dunkle Masse.
Es waren die Männer, die auf den Moment des Zusammenprallens warteten. Dennoch trat dieser Augenblick unerwartet schnell ein, als ein Zusammenwirken von Wind und Seegang die bisherige Lücke plötzlich schloß. Der Bug der Natividad krachte unmittelbar vor dem Kreuzmast gegen die Seite der englischen Fregatte. Ein wahrer Höllenlärm erhob sich drüben, als die Menge vorwärts drängte, die Lydia zu entern.
Die Geschützführer der Karronaden packten die Abzugsleine.
»Warten!« schrie Hornblower.
Sein Hirn arbeitete wie eine Rechenmaschine, während er Wind und See, Zeit und Entfernung in ihren Wechselwirkungen abzuschätzen suchte. Mit Hilfe von Handspaken und der Körperkräfte der Bedienungsmannschaften ließ er die eine der Karronaden herumwerfen, und die andere folgte dem Beispiel, derweil die auf der Back der Natividad versammelte Menge am Schanzkleid entlanglief, um den zum Entern günstigen Augenblick abzupassen. Die Mündungen der beiden Karronaden waren auf sie gerichtet.
»Feuer!«
Tausend Gewehrkugeln schmetterten auf einmal in das Gedränge. Sekundenlang herrschte Stille, aber dann erscholl an Stelle des tobenden Gebrülls ein schwacher Chor verzweifelten Wehgeschreis. Der Kartätschenhagel hatte die Back des Gegners reingefegt.
Für eine kleine Weile verharrten die Schiffe in ihrer Stellung.
Die Lydia konnte auch jetzt noch ein Dutzend ihrer Geschütze zum Tragen bringen, und die schossen heraus, was das Zeug halten wollte, wobei die Rohrmündungen fast die Bordwand der Natividad berührten. Dann wurden die beiden Kämpfenden durch Wind und Seegang wieder auseinandergetrieben. Die Lydia glitt nach Lee zu davon und ließ den zerschossenen Rumpf des anderen hinter sich. Sämtliche Geschütze ihrer einen Seite feuerten, während es an Bord der Natividad merkwürdig still blieb. Nicht einmal ein Gewehrschuß antwortete.
Abermals schüttelte Hornblower seine Müdigkeit ab.
»Feuer einstellen!« rief er dem auf dem Oberdeck stehenden Gerard zu. Die Geschütze schwiegen.
Durch die Dunkelheit starrte Hornblower zu der düsteren Masse der von der See umhergeworfenen Natividad hinüber.
»Ergebt euch!« rief er.
»Niemals!« tönte es zurück. Unzweifelhaft war es Crespos hohe Stimme. Es folgten ein paar unflätige Beschimpfungen.
Der englische Kapitän durfte es sich leisten, ungeachtet seiner Müdigkeit zu lächeln. Er hatte das Gefecht durchgekämpft, und er hatte gesiegt.
»Sie haben getan, was ein tapferer Mann tun kann!« schrie er hinüber.
»Nicht alles«, klang es klagend aus der Finsternis.
Da wurde Hornblowers Aufmerksamkeit plötzlich auf etwas anderes gelenkt. Am Bug der Natividad leuchtete rote Glut auf.
»Crespo, Sie Narr!« brüllte er. »Ihr Schiff brennt! Ergeben Sie sich, solange es Ihnen noch möglich ist.«
»Niemals!«
Als die Lydia aus nächster Entfernung den Feind beschossen hatte, waren ihre flammenden Ladepfropfen zwischen das splitternde, zundertrockene Holz der alten spanischen Fregatte geflogen und hatten gezündet. Schnell breitete sich das Feuer aus. Schon in den wenigen Augenblicken, die verstrichen waren, seitdem Hornblower es zuerst bemerkt hatte, war es heller geworden; bald würde die Natividad lichterloh in Flammen stehen. Hornblowers Pflicht erheischte es, daß er zuerst für sein eigenes Schiff sorgte. Wenn die Feuersbrunst da drüben die an Deck aufgestapelte Bereitschaftsmunition erreichte, oder gar bis zur Pulverkammer vordrang, so würde die Fregatte Crespos zu einem flammende Trümmer speienden Vulkan werden, durch den die Lydia aufs höchste gefährdet wurde. »Wir müssen abhalten, Mr. Bush«, sagte Hornblower, wobei er sich bemühte, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen.
Dicht beim Wind liegend, steuerte die Lydia nach Luv zu hinweg von dem lodernden Wrack. Bush und Hornblower blickten starr dorthin zurück. Aus dem zerschmetterten Bug züngelten bereits helle Flammen empor, und die rote Glut spiegelte sich in der hochgehenden See. Und dann, während die beiden Männer noch hinsahen, verschwand der Feuerschein so plötzlich, als sei er wie eine Kerze ausgelöscht worden. Nichts war mehr zu sehen; nur das fahle Weiß der schäumenden See schimmerte durch die Dunkelheit. Das Meer hatte die Natividad verschlungen, bevor die Flammen sie vollends zerstören konnten.
»Bei Gott, sie ist gesunken!« stöhnte Bush, der sich über die Reling beugte.
In den Sekunden der Stille, die diesen Worten folgten, glaubte Hornblower noch immer jenes letzte klagende »Niemals!« zu hören. Dennoch war er von der gesamten Besatzung vielleicht der erste, der die Fassung wiederfand. Er ließ wenden und segelte dorthin, wo der feindliche Zweidecker untergegangen war. Hooker mußte mit dem Kutter nach etwaigen Überlebenden suchen. Der Kutter war das einzige noch verwendbare Beiboot, denn Gig und Jolle hatten die Kanonenkugeln der Natividad zerschmettert. Wirklich wurden einige Leute gerettet. Ein paar Matrosen, die in der Fockrüst der Lydia standen, fischten ihrer zwei auf, und der Kutter fand ein halbes Dutzend Schwimmer.
Das war alles. Nun standen sie im Laternenschein an Deck der Lydia, indessen das Wasser aus ihren zerfetzten Kleidern und dem schwarzen Haar strömte. Die Engländer versuchten kameradschaftlich zu ihnen zu sein, aber sie blieben feindselig verschlossen. Einer der Geretteten schien sogar drauf und dran zu sein, den Verzweiflungskampf der Natividad auf eigene Faust weiterzuführen.
Hornblowers Müdigkeit hatte nun einen solchen Grad erreicht, daß er sich wie im Traum vorkam, als wäre alles, was ihn umgab - das Schiff selbst, die Kanonen, Masten und Segel, Bushs untersetzte Gestalt -, unwirklich und gespenstisch, als wäre nur diese entsetzliche Erschöpfung und die Schmerzen, die er innerhalb seines Schädels empfand, etwas tatsächlich Vorhandenes. Seine eigene Stimme klang ihm, als töne sie aus meterweiter Entfernung. »Was für ein Kurs soll gesteuert werden, Sir?« fragte Bush. »Kurs?« wiederholte Hornblower abwesend. »Kurs...?« Furchtbar schwer fiel es ihm, sich darüber klarzuwerden, daß das Gefecht vorüber, daß die Natividad gesunken war, daß es im Umkreis von Tausenden von Seemeilen keinen schwimmenden Feind mehr gab. Auch drang die Erkenntnis, daß sich die Lydia selbst in großer Gefahr befand, kaum zu seinem Bewußtsein durch. Eintönig klapperten die Pumpen, die doch nicht die vielen Schußlöcher unschädlich machen konnten. Noch immer wurde dem Einbruch des Wassers vor allem durch das untergezogene Segel begegnet, und die Lydia bedurfte dringendst einer gründlichen Überholung.
Nach und nach begriff Hornblower, daß nun ein neues Kapitel in der Geschichte seiner Fregatte begann, daß er neue Pläne ausarbeiten mußte. Und - richtig - eine ganze Reihe von Menschen wartete auf sofortige Befehle. Bush war da, der Bootsmann und der Zimmermann und der Waffenmeister und dieser Idiot Laurie. Er mußte sein müdes Hirn wieder zum Denken zwingen. Er schätzte die Stärke und die Richtung des Windes, als handele es sich nur um eine akademische Angelegenheit und nicht um einen Denkprozeß, der ihm seit zwanzig Jahren zur zweiten Natur geworden war. Müde schleppte er sich in die Kajüte hinunter, müde kramte er inmitten des wüsten Durcheinanders in der zerschmetterten Kartenkiste herum, und dann beugte er sich angestrengt nachdenkend über die zerrissene Seekarte.
So bald wie möglich mußte er seinen Sieg in Panama melden; das stand einmal fest. Vielleicht konnte er dort bereits seine Schäden ausbessern, obwohl er in Erinnerung an jene ungastliche Reede wenig Aussicht dafür sah, zumal das gelbe Fieber in der Stadt herrschte. Nun, jedenfalls galt es also, die schwer beschädigte Lydia nach Panama zu bringen. Er setzte einen Kurs fest, der ihn zunächst nach Kap Mala führen sollte, und durch eine besondere Willensanstrengung vermochte er sogar zu beurteilen, daß der Wind dafür sehr günstig war. Als er dann zum Erteilen der notwendigen Befehle wieder zur Hütte emporstieg, war die Masse der Menschen, die sich hilfesuchend herzugedrängt hatten, wie durch Zauberei verschwunden.
Hornblower erfuhr nie, daß Bush sie samt und sonders davongejagt hatte. Er gab seinem Ersten Offizier den Kurs an, als plötzlich Polwheal mit Mantel und Liegestuhl neben ihm auftauchte. Hornblower vermochte keinen Einspruch mehr zu erheben. Widerstandslos ließ er sich in den Mantel hüllen, und dann sank er halb ohnmächtig in den Stuhl. Vor einundzwanzig Stunden hatte er sich zum letztenmal hinsetzen können. Wohl hatte Polwheal auch für einen Imbiß gesorgt, aber den übersah er. Er wollte nichts essen. Er brauchte nur Ruhe.
Und doch wurde er sekundenlang nochmals ganz munter, als ihm Lady Barbara einfiel, die drunten im stickigen und dunklen Raum mit den Verwundeten zusammengesperrt war. Doch seine Spannung ließ sofort wieder nach. Das verdammte Frauenzimmer mochte für sich selbst sorgen, denn dazu war sie durchaus befähigt. Was kümmerte ihn das alles? Das Haupt sank ihm auf die Brust. Das nächste, was ihn störte, war sein eigenes Schnarchen, und sehr lange störte es ihn nicht. Ungeachtet des Lärms, den die Leute dadurch verursachten, daß sie das Schiff wieder instand setzen wollten, schlief und schnarchte er weiter.