19.

Wie ein Häufchen Elend marschierten sie dreizehn Stunden lang durch den feindlichen Dschungel, während es unaufhörlich in Strömen goss. Die Tropfen, die vom Himmel fielen, bahnten sich einen Weg durch den dichten Baldachin aus Laub und trafen in einem endlosen, erbarmungslosen Strom wieder zusammen. Alles und jeder war gründlich durchnässt. Die Bäume schienen bei Nacht noch dichter zusammenzustehen, und die dicken, zähen, miteinander verflochtenen Lianen hingen über ihren Köpfen wie Schlingen, in die man allzu leicht geriet.

Das Team bewegte sich schweigend im Gänsemarsch voran, ständig auf der Hut vor Schlangen, Raubtieren, Insekten und menschlichen Gegnern. Sam war schon Hunderte von Malen in Regenwäldern gewesen, doch an einen erbärmlicheren Fußmarsch konnte er sich nicht erinnern. Das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, war ausgeprägt – weggeworfen von einer undankbaren Regierung, zum Sterben zurückgelassen in einem Land, dem sie zu helfen versucht hatten. Er wusste, wie Azami zumute war, die wie Abfall entsorgt worden war. Mit jedem Schritt, den sie machten, nahm der Zorn zu, aber auch die Beklommenheit.

Er war ein Mann, der für diesen Mist ausgebildet worden war. Er hatte sich für das Schattengängerprogramm entschieden, in dem Bewusstsein, dass er jederzeit reingelegt werden konnte. Azami war ein Kleinkind gewesen, als Whitney sie aus dem Waisenhaus geholt hatte. Sie war acht Jahre alt gewesen, als Whitney sie in Japan auf der Straße aussetzen ließ. Er hatte an ihr experimentiert, bis er sicher gewesen war, dass sie nur noch für eine Herztransplantation taugte, die sie – da war sich der Arzt sicher gewesen – töten würde. Krank und halbtot hatte er sie in einer Kiste nach Japan fliegen und von Fremden in eine Gasse bringen lassen, die für ihre Zuhälter und Menschenhändler berüchtigt war, damit sie sie dort aussetzten – sie wegwarfen, wie sie ihn gerade weggeworfen hatten.

Wut schwelte in seiner Magengrube – nicht seinetwegen, sondern Azamis wegen. Durch einen dunklen, feindseligen Dschungel zu laufen konnte nicht schlimmer sein, als es für ein Kind war, lädiert und übel zugerichtet in einem Land aufzuwachen, das es nicht kannte.

Es war ein viertägiger Fußmarsch nach Matadi, und sie wollten einen Wagen finden, aber sie brauchten eine Route, auf der ein Fahrzeug tatsächlich vorankommen konnte, und die meisten Straßen waren in die Luft gesprengt worden.

Kadens Stimme zischte eine leise Warnung in sein Ohr. Sam ging in die Knie, das Gewehr im Anschlag. Sie verhielten sich alle vollkommen still. Ihr Späher hatte sie lediglich auf Ärger hingewiesen.

Eine Rebellenpatrouille bewegte sich wenige Meter von ihnen schemenhaft durch die Bäume. Die Männer liefen an ihnen vorbei und setzten ihren Weg fort. Sam stieß den angehaltenen Atem aus, und seine Muskeln entspannten sich ein wenig. Plötzlich machten die Rebellen Halt, und ein Mann scherte aus und begab sich gleich neben dem Wildpfad, den sie als Weg benutzen, zwischen die Bäume. Er öffnete seinen Hosenschlitz und richtete seinen Blick plötzlich direkt auf Kaden.

Kaden war nicht mehr als dreißig Zentimeter von ihm entfernt und verschmolz mit den Schatten, wie er es häufig tat. Der Mann blinzelte und wandte den Blick ab. Kaden rührte sich nicht. Er hielt vollkommen still und gab keinen Laut von sich. Über seinem Kopf erwachte ein Ast zum Leben: Eine Schlange hob neugierig ihren Kopf, um den Soldaten anzustarren. Die Bewegung des Reptils lenkte die Aufmerksamkeit des Rebellen auf sich. Er trat einen kleinen Schritt näher und sah mit erhobener Machete die Schlange an. Und dann wurden seine Augen groß, und er stieß restlos schockiert einen schrillen Schrei aus, als er einen Mann so dicht vor sich sah.

»Feindkontakt auf ein Uhr!«, schrie Kaden, während er dem Soldaten eine Kugel in den Kopf schoss.

Die Rebellen eröffneten gleichzeitig mit dem Schattengängerteam das Feuer, nicht mehr als fünf Meter von ihnen entfernt. Die gesamte Aktion dauerte fünfundvierzig Sekunden, doch durch die Schüsse und die Schreie der Männer erschien sie ihnen wie eine Ewigkeit in der Hölle. Affen schrien vor Furcht und Zorn und trugen damit ihren Teil zu dem Chaos bei, und ebenso schnell verstummte der Urwald wieder.

Sieben Rebellen lagen tot am Boden, der Letzte starb gerade. Ryland signalisierte den Männern, die Toten schnell tiefer ins Unterholz zu ziehen, möglichst viele Informationen an sich zu bringen, auch Landkarten. Das Geräusch der Schüsse war meilenweit zu hören gewesen, und sie wollten nicht länger als nötig hierbleiben, nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Sie brachen rasch auf, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die toten Rebellen zu bringen, und kamen bis zum Anbruch der Nacht gut voran. Schließlich ließ Ryland sie haltmachen und bedeutete Kaden, einen guten Unterschlupf zu finden, wo sie ein paar Stunden schlafen konnten. Sie mussten sich ausruhen und etwas essen, ehe sie weiterzogen.

Sam widerstand dem Drang, das Funkgerät einfach nur deshalb zu benutzen, weil er Azamis Stimme hören wollte. Der Regen weigerte sich nachzulassen; er strömte herunter, als versuchte er, die Gegend zu überschwemmen. Überall um sie herum flossen Rinnsale und kleine Bäche. Sie mussten einander nach Blutegeln absuchen, die sie, stoisch schweigend, entfernten. Vier Stunden lang wechselten sie sich mit dem Schlafen und dem Wachehalten ab, bevor sie wieder aufbrachen. Der kurze Schlummer half gegen die schlimmste Müdigkeit.

Nachts kamen sie nur langsam voran, aber tagsüber war die Gefahr für sie größer. Sie hatten einen zu langen Weg vor sich, um sich allzu viele Auseinandersetzungen mit den Rebellen zu liefern. Kaden blieb abrupt stehen, als die Sonne aufging, und gab das Signal zum Anhalten. Die Schattengänger ließen sich auf ein Knie sinken und warteten.

Wir haben eine ziemlich gut befahrene Straße vor uns, Rye, meldete Kaden. Wenn wir uns in ihrer Nähe halten, könnten wir vielleicht ein Fahrzeug an uns bringen.

Ryland wägte die Risiken ab, ehe er seine Zustimmung gab. Wenn sie kein Transportmittel organisierten, würde der Fußmarsch nach Matadi zu viele Tage erfordern, und sie würden nur Glück bei der Beschaffung eines Fahrzeugs haben, wenn sie in Straßennähe blieben.

Wir bleiben in Straßennähe.

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sie das schwache Tuckern eines Motors hörten, der auf sie zukam. Sie legten sich rasch auf die Lauer. Als der rostige alte Pick-up in Sicht kam, wankte Gator auf die Straße, lallte und brabbelte mit seinem Cajun-Akzent vor sich hin, wobei er den Wagen gar nicht wahrzunehmen schien. Der Pick-up kam schlingernd zum Stehen, vier Rebellen sprangen heraus, schrien Gator an und fuchtelten mit ihren Waffen herum. Als er weiterhin drauflosredete, sahen sie einander an, und dann ging einer auf ihn zu und versetzte ihm einen Hieb in den Bauch. Die anderen spuckten ihn an. Einer boxte ihn, und ein anderer trat ihn, als er zu Boden ging. Da sie vollständig davon in Anspruch genommen waren, den eindeutig verrückten Idioten zusammenzuschlagen, merkte keiner von ihnen, dass sich die Schattengänger von hinten an sie heranschlichen.

Gators Augen wurden klar. Vom Boden aus grinste er sie gehässig an und winkte ihnen zu. »Tschüs, Jungs«, sagte er. »War nett, euch kennenzulernen.«

Vier Messer schlitzten ihnen die Kehle auf, und Sam beugte sich hinunter, um Gator auf die Füße zu helfen, während die Leichen von der Straße entfernt wurden. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Nächstes Mal kannst du der Irre sein.«

Sam grinste ihn an. »Findest du etwa, dass ich verrückt aussehe? Du bist in der Rolle so überzeugend.«

»Steigt ein«, rief Ryland.

Auch draußen auf offener Straße lauerten Gefahren, aber sie kamen viel schneller voran als zu Fuß durch den Urwald. Als Kyle das Gaspedal durchtrat und mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, um Meilen zu fressen, stieß Sam einen Seufzer der Erleichterung aus. Jede Meile, die sie zurücklegten, brachte ihn eine Meile näher zu Azami. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er tatsächlich einen Grund, nach Hause zurückzukehren.

Sie blieben so wachsam, wie es angesichts der Schlaglöcher in der Straße, die sie im Abstand von wenigen Minuten durchrüttelten, möglich war. Es goss immer noch in endlosen grauen Strömen, die die Sicht behinderten. Zeitweilig schlitterten die abgefahrenen Reifen im Schlamm, und sie wurden ordentlich durcheinandergewürfelt. Sie waren auf der Ladefläche eingezwängt wie Ölsardinen, aber wenigstens brauchten sie nicht zu laufen.

Als sie drei Stunden später die Kuppe eines Hügels erreichten, begann der Kühler zu dampfen, und der Motor fraß sich abrupt fest.

»Okay, Jungs«, sagte Ryland. »Zeit, uns wieder auf die Socken zu machen.«

Die Männer schnallten ihr Marschgepäck auf den Rücken und stöhnten beim Aussteigen. Ryland lachte sie aus. »Zu viel des Wohllebens. Ihr werdet mir alle zu Weicheiern. Der Pick-up hat uns mehr als hundert Meilen Fußmarsch erspart und obendrein noch ein paar Tage, also hört auf zu motzen. Es sind noch dreiundzwanzig Meilen bis nach Matadi. Lasst uns diesen erbärmlichen Pick-up den Hang runterschieben, damit er so aussieht wie das verlassene Wrack, das er ist. Wir müssen von der Straße verschwinden und uns vergewissern, dass uns hier niemand hat ankommen sehen.«

Nachdem sie sich abgesichert hatten, dass sie nicht entdeckt worden waren, marschierten sie zwölf Meilen weit, stellten Wachen auf und ließen sich nieder, um auf den Anbruch der Nacht zu warten.

Duncan Forbes ließ sich in seiner Lieblingsbar in seinen Lieblingssessel sinken. »Whiskey.« Den brauchte er jetzt. Und er hatte einen verdammt guten Grund zum Feiern. Im Kongo war alles teuflisch danebengegangen, aber er war lebendig davongekommen und hatte sich an den Scheißtypen gerächt. Für wen hielten die sich überhaupt? Sie hatten ihn wie den letzten Dreck behandelt. »Elitesoldaten, meine Fresse«, sagte er laut. Ja, sie waren so verdammt elitär, dass sie in diesem Dschungel sterben würden, aber hoffentlich erst, nachdem sie von diesen gleichermaßen idiotischen Rebellen gefoltert worden waren.

»Machen Sie zwei draus«, sagte General Fielding und schob sein Hinterteil auf den Sessel gegenüber von Forbes. Er lächelte die Frau an, die am Tresen saß. Ein hübsches kleines Dingelchen. Zart gebaut. Asiatin. Das pechschwarze dichte Haar nahm sich um ihr zartes Gesicht herum reizvoll aus. Sie hatte die längsten Wimpern, die er jemals gesehen hatte. Ihre Lippen waren …

»Passen Sie auf, dass Ihnen die Augen nicht aus dem Kopf fallen«, sagte Forbes mit einem gepressten Lachen. »Die rechnet wahrscheinlich im Minutentakt ab.«

»Das werde ich herausfinden, sobald wir etwas miteinander getrunken haben. Es war ein langer Flug nach Washington.« Er sah die Frau wieder an und fing ihren Blick auf. Diesmal lächelte sie. »Ich wünschte, ich wäre in Uniform, aber das erregt immer ungebührliche Aufmerksamkeit. Die Frauen stürzen sich allerdings auf mich, wenn ich sie trage.« Er wandte Forbes den Kopf zu, schlug plötzlich einen ganz anderen Ton an und sah aus wie der Befehlshaber, der er war. »Was zum Teufel ist dort draußen schiefgegangen? Es passt mir nicht, meine Soldaten so zurückzulassen.«

»Es müssen Opfer gebracht werden, General. Wenn wir ein starkes Militär haben wollen, brauchen wir die richtigen Leute in Führungspositionen«, sagte Forbes. »Diese Männer haben nicht nur ein Millionenprojekt vermasselt, sondern, was noch schlimmer ist, sie haben erreicht, dass monatelange Verhandlungen umsonst waren. Wenn der Präsident diese Minen wieder an sich bringt, haben wir keinen Zugang zu dem, was wir für die Waffe brauchen. Mit ihm wird sich nicht so leicht verhandeln lassen wie mit einer Horde von hitzköpfigen Rebellen ohne konkrete Ziele.«

Fielding seufzte. »Trotzdem. Sie waren Soldaten. Gute Soldaten.«

Forbes sah ihn scharf an. »Was ist Ihnen über sie bekannt?«

»Nicht viel.« Der General zuckte die Achseln, und sein Blick wanderte wieder zu der Frau am Tresen. Sie hatte sich über den Tresen gebeugt, sprach mit dem Barkeeper und flirtete ein wenig mit ihm, als der Mann die gefüllten Whiskeygläser abstellte, damit die Kellnerin sie servieren konnte.

Die Asiatin hatte ihre Handtasche genommen und schien sich zum Aufbruch bereitzumachen. Er wollte nicht, dass sie fortging. Sie war die einzige Chance, die er sah, die Nacht zu retten.

Die Kellnerin schnappte sich die Gläser und brachte sie an den Tisch.

Forbes griff nach seinem Geld, aber sie schüttelte den Kopf und zeigte über ihre Schulter. »Sie hat die beiden Whiskeys bezahlt.«

Forbes nahm seinen Drink mit einem Seufzer der Erleichterung und leerte das Glas zur Hälfte, ehe er anerkennend lächelte. »Ich glaube nicht, dass die Uniform bei Ihnen eine Rolle spielt, General. Diese kleine Nutte möchte ihren Spaß mit Ihnen haben.«

Der General nahm seinen Drink und wartete, bis die kleine Asiatin von dem Barhocker geglitten war und sich zu ihm umgedreht hatte. Er hob sein Glas, um ihr zuzuprosten, und trank einen großen Schluck. Sie lächelte ihn an und kam an den Tisch; dabei ließ sie sich Zeit und hielt seine Aufmerksamkeit mit ihren großen, exotischen Augen gefangen.

Sie blieb am Tisch stehen, während Forbes sein Glas leerte und der Kellnerin bedeutete, zwei weitere Drinks zu bringen. Der General nahm einen zweiten kräftigen Schluck, während er sie über den Rand seines Glases von oben bis unten musterte.

»Guten Abend, meine Herren«, sagte sie leise, so leise, dass der Klang ihrer Stimme kaum zu hören war.

»Danke für die Drinks«, sagte Fielding. Er wollte seine Hand auf ihre Hüfte legen, doch sie glitt ein paar Schritte zurück, und er griff ins Leere.

Sie lächelte. »Sie brauchen sich nicht bei mir zu bedanken. Diese Drinks haben Sie den Schattengängern zu verdanken, von denen Sie glaubten, Sie hätten sie hilflos im Dschungel zurückgelassen. Genießen Sie sie, meine Herren, es werden Ihre letzten sein.« Sie sprach so leise, und es klang so reizend, dass es einen Moment dauerte, bis die Männer begriffen, was sie damit meinte.

Forbes machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch kein Laut kam heraus. Sorge machte sich auf seinem Gesicht breit. Er presste sich eine Hand auf die Brust.

Der General sah sie finster an. »Was zum Teufel sagen Sie da?«

Doch sie war bereits weg, verließ gemessenen Schrittes die Bar, und die Tür fiel hinter ihr zu.

Die Kellnerin brachte die zweite Runde Getränke an den Tisch. Forbes hatte sich halb aufgerichtet und presste immer noch eine Hand auf sein Herz. Plötzlich fiel er, sank auf die Knie, und sein Sessel kippte um. »O mein Gott«, sagte die Kellnerin. »Bill, ich glaube, er hat einen Herzinfarkt. Ruf einen Krankenwagen.«

Während die Worte aus ihrem Mund herauskamen, versuchte Fielding aufzustehen und ging zu Boden, schlug mit seinem Kopf auf dem Tisch auf und umklammerte mit den Händen so fest die Tischkante, dass der Tisch umstürzte. Mehrere Menschen kamen herbei, um zu helfen. Niemand bemerkte den Mann, der die beiden ersten Gläser vom Boden aufhob, sie in die Tasche steckte und die gerade ausgeschütteten Whiskeygläser neben dem umgekippten Tisch liegen ließ. Er verließ die Bar, als die Sanitäter eintrafen.

Eijis Schritte waren ebenso gemessen wie die seiner Schwester, als er die Bar verließ und den Bürgersteig überquerte. Er bog in die Gasse ein, in der sie ihn erwartete, wieder in Jeans, ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Als er durch die Gasse auf sie zuging, drehte er seinen hellen Wendemantel auf die dunkelblaue Seite, strich sein schwarzes Haar glatt und wartete, während Azami geschickt die unauffälligen Schnürsenkel in seinen Schuhen gegen andere austauschte, die leuchtend pink waren. Beide setzten Rucksäcke auf, die sie in der Gasse versteckt hatten. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und als sie eine Straße weiter aus der Gasse herauskamen, hielt Eiji ein Taxi an.

Das Tageslicht wich der Dunkelheit, obwohl das bei dem ständigen Regen im Dschungel keinen großen Unterschied machte. Manchmal ließ der Regen für kurze Zeit nach, und dann begann es erneut, ernsthaft zu regnen. Sie schlugen den Weg zum Hafen ein, wo sie hofften, sich ein Boot beschaffen zu können.

Bei Sonnenaufgang waren sie vier Meilen von der Stadt entfernt, wo sie anhielten, um dort den Tag zu verbringen. In der dichter bevölkerten Region war es viel zu riskant, sich bei Tageslicht voranzubewegen. In der Sonne schwächte sich der Regen zu Dunst ab und verschwand dann allmählich ganz und gar.

»Wir werden hier Rast machen«, entschied Ryland. »Versucht, etwas Essbares zu ergattern, findet Wasser und macht euch ein bisschen frisch.«

Sie alle hatten Feuchttücher und die notwendigsten Hygieneartikel im Gepäck, und es tat gut, einen Teil des Schmutzes von den Kämpfen und dem Fußmarsch abzuwaschen. Das Wasser kam aus einem Bach, der in den nahen Kongo floss. Kyle, Jonas und Gator machten sich auf die Suche nach etwas Essbarem für alle. Kyle gelang es, mit zwei Dutzend Bananen zurückzukommen, und Jonas hatte wilde Yamswurzeln gesammelt. Gator baute ein Fischwehr im Bach und fing ein paar Tilapien.

Sam und Nico gruben ein längliches Loch und machten darin ein Feuer. Unter Verwendung von grünen Zweigen bauten sie einen Rost über dem Feuer und brieten die Fische und die Yamswurzeln. Anschließend lehnten sie sich alle zufrieden zurück und hatten das Gefühl, ein regelrechtes Festmahl genossen zu haben. Die Nahrung war auch sehr nötig gewesen, da es einige Zeit her war, seit sie eine ihrer Rationen verspeist hatten.

»Wir werden unseren Plan ein wenig revidieren und diese Nacht eine neue Strategie einsetzen«, sagte Ryland. Es war offensichtlich, dass Ryland und Kaden einen neuen Plan ausgearbeitet hatten, während die anderen Nahrung organisiert und zubereitet hatten. »Wir werden uns in zwei Teams aufteilen. Die Teams werden unabhängig voneinander zwei verschiedene Routen zum Hafen auskundschaften. Wir fänden gern ein kleines Boot, das uns den Kongo hinunter zum Atlantik bringt. Nach abgeschlossener Aufklärung treffen wir uns an einem festgesetzten Sammelpunkt wieder und entscheiden über unser weiteres Vorgehen. Noch irgendwelche Fragen?« Auch diesmal kam es zu keiner Unterbrechung. »Gut. Dann bringen wir es hinter uns, meine Herren.«

Sam, Nico, Kaden und Jonas brachen auf und bewegten sich rasch voran, sowie sie einen Treffpunkt bestimmt hatten. Sam glitt in Hafennähe in dichtes Gestrüpp. Der Hafen stand unter schwerer Bewachung, vermutlich, um die Rebellen fernzuhalten. Bewaffnete Männer in Uniformen liefen rastlos auf und ab. Einige standen zusammen und redeten leise miteinander, und Rauch und Gelächter wehten zu Sam hinüber. Er arbeitete sich auf der Suche nach einem Transportmittel am Fluss entlang vor, doch die Gegend war gründlich von Wachen abgeriegelt. Er fluchte tonlos vor sich hin und machte sich auf den Rückweg zu den anderen drei Mitgliedern seines Teams. Alle schüttelten stumm den Kopf.

Kaden gab das Signal zum Rückzug zu dem vereinbarten Sammelpunkt. Sie konnten nur hoffen, dass es Rylands Team besser ergangen war. Sie kauerten sich hin, um auf Rylands Team zu warten, als das Funkgerät ein leises Knistern von sich gab.

»Aufgeschmissener … Aufgeschmissener … Hier spricht Glühwürmchen, kommen.«

Er schloss einen Moment lang die Augen. Er saß im Dschungel in der Falle, von der Armee des Präsidenten umzingelt und ohne einen Ausweg. Die Soldaten hatten todsicher keinen Schimmer, dass sie die Guten waren, und wenn sie gefangen genommen wurden, würde niemand ihre Herausgabe fordern, noch nicht einmal der Mann, der die USA um ihre Hilfe gebeten hatte.

Er schluckte schwer. Sie hatte recht, was die Klarheit des Empfangs anging. Es klang, als flüsterte sie ihm ins Ohr. Er hoffte, dass sie auch mit der Abhörsicherheit recht hatte. Allein schon der Klang ihrer Stimme weckte in ihm den Wunsch, sie eng an sich zu ziehen.

»Hier Aufgeschmissener, kommen.«

»Euer Transport erwartet euch.«

»Verstanden, Glühwürmchen, Transport erwartet uns, kommen.«

»Sag dem Anführer, das Problem ist beseitigt. In der Zentrale ebenfalls. Glühwürmchen Ende.«

Sein Herz pochte heftig. Es schien viel einfacher zu sein, von Feinden umgeben in Urwäldern herumzulaufen, wenn man nichts zu verlieren hatte. Das Frachtschiff lag vor Anker und erwartete sie. Sie mussten es nur noch bis dahin schaffen.

Rylands Team kehrte zurück und wirkte so niedergeschlagen, wie er sich fühlte. Kaden erstattete seinen Bericht. Rylands Bericht war beinah gleichlautend. Der Hafen stand unter zu schwerer Bewachung, um es zu riskieren. Sie würden weiterziehen müssen.

Glühwürmchen hat unseren Abtransport organisiert. Sam war froh, auch gute Nachrichten für ihn zu haben. Rye, das Problem im Büro des Generals und auch das, das du gelöst haben wolltest, sind beseitigt.

Ryland nickte kaum merklich, doch er schien erfreut zu sein.

Es dauerte lange, die Stadt zu umgehen, und sie kamen nur langsam voran. Mehrfach stießen sie auf Hunde, die Gator jedoch beruhigte, ehe sie bellen und damit das Team verraten konnten. Auf der anderen Seite der Stadt teilten sie sich wieder in zwei Erkundungsteams auf, und Sam entdeckte einen Lieferwagen. Das Fahrzeug sah nicht so aus, als sei es in einer viel besseren Verfassung, als es der Pick-up gewesen war, doch es war immerhin ein Transportmittel, auch wenn es alt und rostig war und die Farbe abblätterte, und es würde ihnen Sichtschutz bieten. Nach allem, was Sam gesehen hatte, waren die meisten Fahrzeuge – und es gab nicht gerade viele – in derselben Verfassung.

Gator und Sam schlichen langsam auf die Stelle zu, an der das Fahrzeug stand. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund, und Gator drehte seinen Kopf zu ihm um. Der Hund gab ein leises Winseln von sich und hörte auf zu bellen. Sam ließ sich auf ein Knie nieder und gab Gator Rückendeckung, während der Cajun den Lieferwagen kurzschloss. Gator sah Sam mit einem triumphierenden Grinsen an, als der Lieferwagen ansprang. Sam stieg auf der anderen Seite ein, und sie verschwanden schleunigst. Eine Viertelmeile weiter hielten sie lange genug am Straßenrand an, dass die anderen durch die offene Seitentür hineinspringen konnten.

»Ein prachtvolles Gefährt«, spöttelte Kyle.

»Gute Arbeit«, bemerkte Ryland.

Der Lieferwagen quietschte und knatterte, aber er fuhr, und das war alles, was zählte. Nach Angaben des GPS brauchten sie nur noch weitere zweiundneunzig Meilen zurückzulegen. Dass sie ein Fahrzeug hatten – auch wenn der Boden an drei Stellen durchgerostet war und sie die Straße unter sich vorbeiflitzen sehen konnten – hieß, dass sie ihr Ziel bei Tagesanbruch erreichen würden.

Es war eine lange Fahrt, da sie die Straße gelegentlich mit ein paar anderen Fahrzeugen teilen mussten. Einmal holperte eine Lkw-Ladung Soldaten an ihnen vorbei, und sie hielten alle den Atem an und waren dankbar dafür, dass es ein geschlossener Lieferwagen war, in den man im Dunkeln fast gar nicht hineinschauen konnte. Gator fuhr ganz einfach langsamer und wich zur Seite aus, damit der Lkw Platz hatte, sie zu überholen.

»Hör auf, diese Waffe zu streicheln, Kyle«, sagte Gator. »Du machst mich nervös. Ich habe den Eindruck, du wirst dich jeden Moment mit dem verdammten Ding vergessen.«

»Sie ist aber auch verflucht hübsch«, sagte Kyle und streichelte die Waffe ein letztes Mal, wobei er den Lkw vor ihnen im Auge behielt. »Fahr etwas langsamer, und lass sie Vorsprung gewinnen.«

»Was ist, wenn sie eine Straßensperre errichten?«, fragte Jonas.

Ryland öffnete ein Auge. »Brütet keine ungelegten Eier aus. Und jetzt hört auf zu quatschen, und lasst mich schlafen. Wir werden schwimmen müssen, und ich werde zu alt für diesen Mist.«

»Gibt es vor dieser Küste Haie?«, fragte Jonas.

Sam wieherte vor Lachen. »Du und deine Haie, Jonas.«

»Ich habe Albträume, Mann«, protestierte Jonas.

»Ich werfe dich einem verdammten Hai zum Fraß vor, wenn du mich nicht schlafen lässt«, sagte Ryland schleppend.

Kaden und Nico tauschten belustigte Blicke miteinander.

Ryland machte beide Augen auf. »Passt bloß auf! So alt bin ich nun auch wieder nicht.«

Sie lachten alle, und die Spannung ließ nach, da die Lkw-Ladung Soldaten jetzt weit vor ihnen war. Sie fuhren durch die Nacht und schafften es kurz vor dem Morgengrauen, die Küste zu erreichen. Sie beeilten sich, als sie die wasserdichten Innenfutter ihrer Rucksäcke mit Luft füllten. Die Kombination von aufgeblasenen Rucksäcken und leeren Feldflaschen würde es ihnen nach Entfernen all dessen, was überflüssig war, erlauben, ihre Waffen und ihre verbliebene Ausrüstung in trockenem Zustand zu dem Schiff zu transportieren.

Für das, was sie nicht tragen konnten, gruben sie ein Loch, türmten hinein, was sie zurückließen, und benutzten den verbliebenen Sprengstoff, den sie für eine solche Gelegenheit aufgehoben hatten. Sie zerstörten immer alles, was später gegen sie – oder gegen ein anderes Team – verwendet werden konnte, sowie alles, was auf ihre Identität hinweisen könnte. Sie zündeten die Sprengsätze, als sie ins Meer hinauswateten.

Gator drehte sich um und winkte mit einem breiten Grinsen. »Schön, euch alle kennengelernt zu haben.«

»Ist Mari schon im Tunnel?«, fragte Lily.

Azami schüttelte den Kopf. »Sie weigert sich reinzugehen, und ich kann nicht behaupten, dass ich es ihr vorwerfe. Sie will Waffen und Munition. Briony hat ihre Zwillinge runtergebracht, und sie hat Daniel bei sich. Ich habe Eiji bei ihnen postiert, und am ihm wird niemand vorbeikommen. Er weiß, dass sie das Hauptangriffsziel sind, und er wird sie um jeden Preis bewachen. Wir brauchen alle verfügbaren ausgebildeten Soldaten hier oben. Daiki habe ich gesagt, dass er bei Mari bleiben soll.«

»Mari wird diese Babys verlieren, wenn sie an sie herankommen und versuchen, sie zum Gehen zu bewegen.«

»Sie würde sie auch verlieren, wenn sie sich in den Tunnel begibt. Es ist ja schließlich nicht so, als könnte sie reingetragen werden. Vielleicht würde sie das ihrem Mann gestatten, aber sie rührt sich nicht vom Fleck, und wir haben keine Zeit für eine Auseinandersetzung. Wir müssen alles für einen Angriff auf die Ländereien vorbereiten«, hob Azami hervor. »Immerhin sind wir ziemlich sicher, dass Whitney nichts von ihrer Schwangerschaft weiß. Ihr habt eure Sache gut gemacht, es vor der Außenwelt geheim zu halten.«

»Ich kann nicht glauben, dass er das tut«, sagte Lily, und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Er ist mein Vater, und doch bringt er Daniel und mich bereitwillig in Gefahr, um zu bekommen, was er will.«

Azami legte ihre Hand auf Lilys Schulter. »Du weißt, dass er nicht mehr der Mann ist, den du geliebt hast, Lily. Das musst du akzeptieren. Er hat sich verändert, er ist ein bisschen übergeschnappt …«

»Oder vielleicht vollständig.«

Azami nickte. »Die Sache ist die: Wenn du erst einmal akzeptieren kannst, dass er nicht der Mann ist, den du liebst, dann kannst du dich darüber hinwegsetzen. Dann wird er der Feind, und du musst ihn als solchen ansehen. Was ist, wenn er sich zwischen dich und dein Kind stellt?«

Lily presste ihre Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er Daniel etwas antäte. Wozu wäre das gut?«

»Um ihn zu sezieren und zu sehen, wie Daniel reagiert.« Azami wappnete sich innerlich. Lily musste die wahre Gefahr verstehen. Die Männer in ihrer Umgebung schirmten sie gegen die Dinge ab, die ihr Vater tat. »Gerade erst sind dein Mann und Sam auf Whitneys Befehl hin auf feindlichem Gebiet zurückgelassen worden.« Sie sah sich um und knöpfte ihre Bluse auf. »Das hat er mir angetan, als ich klein war. Diese Narben habe ich mir zugezogen, bevor ich acht Jahre alt war.«

Sie ließ Lily Zeit, genau hinzusehen. Lilys Gesichtszüge waren vor Entsetzen verzerrt, ihre Augen schockiert aufgerissen. »Das hat er dir angetan, als du ein Kind warst?«

»Mein Haar ist weiß nachgewachsen«, sagte Azami. Nicht ohne gewisse Hemmungen berührte sie ihr Haar. »Das ist noch lange nicht alles, aber es geht darum, dass du eine Waffe zur Hand nimmst und den Mistkerl erschießt, wenn er in die Nähe deines Sohnes kommt.«

Lily schluckte schwer und nickte. »Ich werde tun, was ich tun muss, Azami. Sie werden nicht in mein Haus kommen und versuchen, meinen Sohn zu entführen. Oder Brionys Söhne. Ich werde dieses Anwesen verteidigen.«

Azami knöpfte ihre Bluse zu. »Dann mal los. Wer übernimmt die Koordination?«

»Ian ist jetzt in der Einsatzzentrale. Ich habe eine starke telepathische Veranlagung und werde daher eine Verbindung für alle herstellen, die keine ausgeprägten Telepathen sind«, sagte Lily.

»Eiji und Daiki wirst du Funkgeräte geben müssen. Ich habe sehr kleine Geräte für sie mitgebracht. Funksprüche von weniger als fünfzehn Sekunden Länge wird niemand aufschnappen. Falls jemand in die Nähe der Tunnel kommt, was ich bezweifle, oder in die Nähe von Mari, werden sie sich darum kümmern«, sagte Azami mit uneingeschränkter Zuversicht.

Sie eilte in die Einsatzzentrale und fand dort Ian vor, der seine kleine Armee zur Verteidigung beider Gelände koordinierte.

»Sie werden uns in kleinen Gruppen angreifen«, sagte Ian. »Whitney will nicht, dass den Babys etwas zustößt, und daher vermute ich, dass sie versuchen werden, mit List hier einzudringen. Sie haben keine Ahnung, dass wir vorgewarnt sind und wissen, dass sie kommen. Sie glauben, sie fänden hier eine reizende Schar von Damen vor, die ganz auf sich allein gestellt sind.«

»Dann werden sie ihr blaues Wunder erleben«, sagte Flame, Gators Frau, mit einem entrüsteten Kopfschütteln. »Whitney unterschätzt Frauen grundsätzlich.« Sie hatte dichtes tiefrotes Haar und leuchtend grüne Augen, in denen etwas funkelte, was zwischen Verschmitztheit und Entschlossenheit angesiedelt war.

»Er hält euch alle für labil, weil die meisten von euch Probleme mit der Reizüberflutung haben«, hob Lily hervor. »Er hat keine Ahnung, dass wir daran gearbeitet haben. Ich werde bei dir sein, Dahlia. Für dich wird es am schwierigsten werden. Briony wird sich in den Tunneln aufhalten. Sie hat ein schreckliches Problem mit Gewalttätigkeit, aber sie wird die Babys verteidigen, wenn sie keine andere Wahl hat.« Sie sah Azami an. »Ebenso, wie du es tun wirst.«

»Ich bin draußen von größerem Nutzen«, sagte Azami.

»Ich auch«, sagte Saber Calhoun, Jesse Calhouns Ehefrau. Sie war eine kleine Frau, extrem schmächtig, und sie sah eher nach einem Kind aus als nach einer erwachsenen Frau. Sie hatte dunkles Haar, das in üppigen Locken um ihren Kopf fiel, und große veilchenblaue Augen. Sie biss sich auf die Lippe und sah Azami dann direkt in die Augen. »Erinnerst du dich an mich?« Sie schluckte schwer, weigerte sich aber, den Blick abzuwenden. »Ich habe an dir geübt, den Herzstillstand herbeizuführen, als du noch ein kleines Kind warst. Als Kind hattest du weiße Haare, aber deine Augen würde ich überall wiedererkennen.«

Azami nickte ernst. »Ich erinnere mich. Jede von uns war gezwungen, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollten. Es freut mich zu sehen, dass du es geschafft hast, dort rauszukommen. Du warst immer nett zu mir.«

»Ich kam mir überhaupt nicht nett vor«, gestand Saber. »Ich habe diese Tage gehasst, an denen er mich gezwungen hat, an dir zu üben. Ich habe mich angestrengt, ihn zum Aufhören zu bewegen, aber je mehr ich protestiert habe, desto schlimmer wurde er. Wir dachten alle, er hätte dich getötet.«

»Anscheinend bin ich nicht so leicht umzubringen. Aber er hält mich für tot, und es wäre mir lieb, wenn es dabei bliebe«, sagte Azami.

»Meine Damen.« Ian schnippte mit den Fingern. »Glaubt ihr, wir könnten das Schwelgen in Kindheitserinnerungen noch ein wenig vertagen? Wir haben es hier gerade mit diesem kleinen akuten Problem zu tun.«

»Mach dir bloß nicht ins Hemd, Ian«, sagte Flame. »Diese Typen werden nicht wissen, wie ihnen geschieht.«

Er sah sie finster an. »Habt ihr vor, sie totzuquatschen? Verdammt noch mal, Frau. Deinetwegen werden mir noch graue Haare wachsen.«

Sie musterte ihn bedächtig. »Du könntest da durchaus ein bisschen Grau gebrauchen, Ire. Damit du nicht mehr ganz so Ton in Ton leuchtest.«

Ians Gesicht wurde so rot wie sein Haar. Sämtliche Frauen brachen in Gelächter aus. Er stöhnte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Die Disziplin in diesem Raum lässt eindeutig zu wünschen übrig.«

Die Frauen brachen wieder in Gelächter aus.

»Wenn man Frauen erst einmal Waffen gibt, Ian«, hob Jesse Calhoun hervor, »ist nichts mehr undenkbar. Nehmt euch dort draußen in Acht. Und bewaffnet euch gut.«

Saber beugte sich vor und küsste ihn. »Pass du auch auf dich auf. Sei kein Held.«

»Bleibt auf der Nordseite«, warnte Ian. »Falls ihr aus irgendeinem Grund auf eine der anderen Seiten wechselt, dann gebt uns Bescheid, damit niemand versehentlich auf euch schießt.« Er warf einen Blick auf Flame.

Sie schüttelte wieder ihre Locken. »Ich weiß nicht, warum du mich ansiehst. Ich bin erfahren im Umgang mit Waffen. Willst du es sehen?«

»Verdammt noch mal, Frau, du lebst schon zu lange mit diesem Cajun zusammen«, sagte Ian.

Sie beugte sich zu ihm vor. »Es wird nie lange genug sein, Ian.«

Seine Röte vertiefte sich. »Verschwinde. Und lass dich um Himmels willen nicht erschießen oder sonst was Blödes. Gator würde mich in winzige Stücke schneiden und mich den Alligatoren zum Fraß vorwerfen.«

»Vielleicht tut er das gar nicht, sondern verpetzt dich bei seiner Großmutter, und dann bekommst du dort nicht mehr freie Kost und Logis. Sie schwärmt ziemlich für mich«, neckte ihn Flame.

»Tja, nun«, sagte Ian mürrisch, »haltet euch alle an den Plan, und wir stehen es durch.«

Azami lächelte den Mann an. Er war von Frauen umgeben und restlos überfordert. Manche Männer verspürten das tiefe Bedürfnis, ihre Frauen zu beschützen; Ian war eindeutig ein Mann von der Sorte. Manchen dieser Frauen brachte er Zuneigung, wenn nicht gar Liebe entgegen, insbesondere Flame, wahrscheinlich deshalb, weil er so eng mit Gator befreundet war, und die Situation gefiel ihm überhaupt nicht. Er konnte keine Einwände erheben; die Frauen waren definitiv dazu fähig und mehr als entschlossen, ihre Häuser ungeachtet des Umstands zu verteidigen, dass Whitneys Experimente dazu geführt hatten, dass eine gewisse Reizüberflutung bei ihnen deutlich negative Auswirkungen hervorrief.

»Wir kriegen das schon hin«, sagte Lily.

Azami und Saber verließen den Raum gemeinsam und schalteten fast ohne jede bewusste Überlegung auf Tarnkappenmanöver um. Sie bewegten sich lautlos, sogar in den Fluren, und Azami blieb einen Moment stehen, um die Waffen wieder an sich zu nehmen, die sie verborgen hatte, als Lily gekommen war, um mit ihr zu reden.

»Ich bin froh, dass du hier bist, Thorn … Azami«, verbesserte sich Saber. »Ich habe fast täglich an dich gedacht. Ich habe gebetet, du mögest irgendwo am Leben und glücklich sein. Früher habe ich mir Geschichten ausgedacht, um mich zu trösten. Ich habe jede Menge Albträume gehabt«, gestand sie.

Azami warf einen Blick auf sie, als sie zur Tür hinausschlichen und in den Wald eilten. »Ich hatte ein großartiges Leben. Ich wurde von einem wunderbaren Mann adoptiert. Er hat mir zwei ältere Brüder, ein Zuhause und einen Daseinszweck gegeben. Er hat mich ausgebildet und unterrichtet, und er hat mich mit Liebe und Güte behandelt. Ich vermute, ich hatte es wesentlich besser als die meisten der anderen Mädchen.«

»Ich wünschte, ich wäre etwas älter gewesen und hätte mich gegen ihn durchsetzen können«, sagte Saber.

»Mein Vater hat einmal zu mir gesagt, es sei zwecklos, sich seine Vergangenheit wegzuwünschen. Erfahrungen formen uns und machen uns zu dem Menschen, der wir sind. Er hat mir immer wieder gesagt, meine Vergangenheit sei das, was mich stark macht. Er hat zu mir gesagt, es sei immer das Beste, im Augenblick zu leben.«

»Das klingt so, als sei dein Vater ein sehr weiser Mann«, sagte Saber.

»Das war er. Ich wünschte, Sam hätte ihn kennengelernt.«

»Sam Johnson?« Saber blieb stehen und kauerte sich tief ins Gestrüpp. »Du und Sam?«

Azami nickte.

Sie kommen von Norden, ein vierköpfiges Team, berichtete Lily.

Azami hörte das Flüstern in ihrem Geist, als Lily jeder Gruppe von Verteidigern mitteilte, wo die kleinen vierköpfigen Teams auf die beiden Gelände vordrangen. Sie verdrängte das Geräusch, um ganz »im Augenblick« aufgehen zu können. Sie bedeutete Saber, sich weiter nach links zu bewegen, und Saber verschwand nahezu im Gebüsch.

Azami lauschte den Geräuschen der Männer, die auf sie zukamen und damit rechneten, alle auf dem Gelände schlafend vorzufinden. Sie gehörten zu Whitneys Privatarmee, die nach Angaben ihres Informanten bei jedem Zusammentreffen mit Schattengängern schrumpfte. Sie war entschlossen, keinen dieser vier Männer, die gekommen waren, um die Säuglinge zu kidnappen, entwischen zu lassen. Mit der Zeit würde Whitney ohne allzu viele Freunde dastehen, und dann würde er zum ersten Mal wirklich angreifbar sein.

Ein Funkgerät erklang, und sie hörte den Befehl: »Bringt das Thermit an.«

Lily, sag allen, dass sie vorhaben, zur Ablenkung einige der Häuser in die Luft zu sprengen, meldete Azami. Der Angriff würde nicht auf die beiden gemeinschaftlich genutzten Haupthäuser erfolgen, sondern auf einige der abgelegeneren Gebäude, was wahrscheinlich dazu dienen sollte, alle, die auf den beiden Geländen zurückgeblieben waren, fortzulocken.

Die Nacht war dunkel, der Mond restlos hinter Wolken verborgen. Kühler Wind wehte ihr ins Gesicht und erinnerte sie daran, dass der Herbst sich dem Winter zuneigte und es hoch oben in den Bergen kalt wurde. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Saber sich flach auf den Bauch legte und sich unter den Sträuchern auf einen schmalen Wildpfad wand. Eine Berührung von Sabers Hand genügte, um den Herzschlag eines Mannes zu unterbrechen oder ganz zu stoppen, was zum Tod führte. Azami wusste ganz genau, was für ein Gefühl das war. Bei der Erinnerung daran verkrampfte sich ihr Herz, und dabei war es nicht einmal dasselbe Herz wie damals.

Sie schüttelte den Gedanken an ihre Vergangenheit ab. Ihr Vater hatte recht. Sie musste in der Gegenwart leben, und es tat ihr nicht gut, an etwas zu denken, worauf sie keinen Einfluss hatte. Ein Feind nach dem anderen, alles zu seiner Zeit. Sie hörte ein leises Rascheln und dann ein Murmeln, als der Mann, der sich von rechts näherte, mit leiser Stimme in sein Funkgerät sprach, um seinem Anführer mitzuteilen, dass er seinen Posten bezogen hatte und bereit war, in das Haus einzudringen. Er war noch ein gutes Stück vom Haus entfernt, rechnete aber offenbar damit, dass er mühelos durch den Wald vorankommen und über die offene, ungeschützte Fläche in Deckung rennen würde, sowie die Explosionen begannen. Sie rechnete damit, dass die Fetzen fliegen würden, aber nicht in Form der Explosion, die Whitneys Männer erwarteten.

Sie wartete, geduldig und regungslos. Zu ihrer Linken, aus der Richtung, die Saber eingeschlagen hatte, hörte sie einen dumpfen Aufprall. Äste knickten ab. Ihr Zielobjekt drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ehe er in sein Funkgerät sprechen konnte, schoss sie ihm einen Pfeil durchs Herz. Er hielt seine Waffe immer noch umklammert, als er zu Boden ging und in sich zusammensackte.

In der Ferne hörte sie Schüsse, die aus der Richtung kamen, in der das Gelände von Team zwei lag. Irgendwo vor dem Haupthaus, das sie beschützte, tanzten leuchtend orangerote Flammen, und ein Feuerball sauste durch die Luft wie ein strahlend heller Komet: Dahlia, Nicos Frau, verteidigte ihr Haus.

Azami bewegte sich nach rechts und ließ sich ein wenig zurückfallen, um vor dem Soldaten zu bleiben, der sich seinen Weg zum Hubschrauberunterstand bahnte, entschlossen, das Anwesen der Schattengänger zu zerstören. Ihr Zuhause. Hier würde sie leben, mit diesen Menschen, die wie sie waren und akzeptieren konnten, dass sie anders war. Niemand würde Hand an ihr künftiges Zuhause legen.

Sie hörte ihn kommen, als sie noch nicht ganz fertig war. Ihr blieb keine Zeit, ihm aus dem Weg zu gehen. Er war von mittlerer Statur und bewegte sich mühelos und beinah geräuschlos durch den Wald. Er kam aus einem Strauch heraus und stand ihr gegenüber. Sie schoss auf ihn zu und stieß seine Waffe nach oben, während sie ihr Messer tief in seinen Brustkorb rammte. Sein Finger am Abzug krümmte sich, und der Schuss dröhnte in ihrem Ohr, doch der Mann ging bereits zu Boden. Er hatte einen Arm um sie geschlungen und zog sie mit sich.

Saber kam mit Laub und kleinen Zweigen in ihrem Haar aus den Sträuchern heraus. Sie hielt eine Waffe in der Hand, und ihre Augen sprühten Feuer. Sie entspannte sich sichtlich, als sie Azami half und an Whitneys Mann zerrte, den Azami von sich zu stoßen versuchte. Aus allen Richtungen hörten sie die Gefechte.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Saber.

Azami nickte. »Und mit dir?«

Saber holte Atem. »Ja. Vermutlich. Ich hatte mir wirklich gelobt, es nie wieder zu tun, aber niemand nimmt uns die Babys weg. Sie werden nicht das Leben führen, das wir geführt haben. Ich habe zwei erwischt.«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, stimmte Azami ihr zu. »Und mir ist es auch gelungen, zwei aus dem Weg zu räumen. Somit sollte das vierköpfige Team ausgeschaltet sein.«

Sie kundschafteten schnell die nähere Umgebung aus.

Alles sicher, wir kommen jetzt nach Westen rüber, meldete Azami.

Nicht nötig, sagte Lily. Die Jungs durchkämmen das Gelände, aber wir glauben, die Luft ist rein. Sie haben es bei keinem der beiden Häuser geschafft, auch nur in die Nähe zu kommen. Die arme Mari hatte wirklich gehofft, jemand würde durch ihre Tür hereinspazieren. Kommt rein.

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, wobei sie ihre Umgebung scharf im Auge behielten, nur für den Fall, dass ihnen jemand entgangen war.

»Ist es dir schwergefallen, Lily zu vertrauen?«, fragte Azami Saber.

Saber warf einen kurzen Seitenblick auf sie. »Anfangs ja«, antwortete sie aufrichtig. »Aber sie hat ihr gesamtes Geld mit uns geteilt, um diese beiden Gelände zu sichern und jedem Schattengänger zu unabhängigem Vermögen zu verhelfen. Sie hat unermüdlich daran gearbeitet, denen unter uns, die keine Anker sind, zu helfen und uns in die Lage zu versetzen, eine Straße hinunterzugehen, ohne auszurasten. Sie steht solidarisch hinter uns, Azami. Ich glaube, wir alle lieben sie nicht nur, sondern wir haben auch enorme Beschützerinstinkte entwickelt, was sie angeht.«

Azami lächelte sie an. Die subtile Warnung war nicht zu überhören gewesen. »Ich höre, was du sagst, Saber, und ich kann es verstehen«, stimmte sie ihr sanft zu. »Ich habe vor, mich hier häuslich niederzulassen. Sie wird also noch einen weiteren Menschen haben, der auf sie aufpasst.«

Saber lächelte erleichtert. »Es freut mich, das zu hören. Du hast mir gefehlt. Du warst mir vertrauter als alle anderen. Jetzt habe ich Jesse, die Schattengänger und Jesses Familie. Manchmal kneife ich mich, damit ich mit Sicherheit weiß, dass ich nicht träume. Er hat ein Haus für seine Schwester Patsy direkt neben unserem Haus gebaut.«

»Ich freue mich schon so sehr auf Sams Heimkehr«, gestand Azami. »Ich versuche zwar, mir keine Sorgen um ihn zu machen, aber es gelingt mir nicht. Ich habe mich bereits dabei ertappt, dass ich über einen der Satelliten Kontakt zu ihm aufnehmen wollte, nur um sicherzugehen, dass er gesund und munter ist.«

Saber lachte. »Lass uns jetzt reingehen und den Jungs den Rest überlassen. Wir können Tee trinken und uns ausgiebig miteinander unterhalten. Ich möchte, dass du Jesse kennenlernst.«