5.
Sam wartete nicht, um zu sehen, ob Azami ihm folgen würde. Der Jeep war sein Problem, nicht ihres. Sie war ein Gast, und zwar einer, der ein weiteres Mal sehr gründlich unter die Lupe genommen werden würde, bevor dieser Tag ein Ende fand, und das hatte sie ihm zu verdanken. Sie hatte eingehenden Überprüfungen durch die CIA, Homeland Security und die Schattengänger selbst standgehalten. Andere Länder auf der ganzen Welt, die ihre Produkte zu militärischen Zwecken erwarben, hatten ebenfalls Nachforschungen über sie angestellt, doch sie war über alle Zweifel erhaben. Dennoch bezweifelte Sam, dass sie war, wer zu sein sie behauptete. Vielleicht wurde er schlicht und einfach verrückt, und sämtliche Angestellten von Samurai Telecommunications wurden in Kriegsführung trainiert.
Er fluchte, als der Jeep die Kuppe der kleinen Anhöhe erreichte und plötzlich mit fünf dunkelhaarigen Männern, die schwerbewaffnet waren, wild dreinblickten und sehr zerzaust wirkten, in Sicht kam. Das waren keine Soldaten, aber mit Sicherheit Männer, die das Töten gewohnt waren. Sein Gehirn heftete diese Information ab, während er methodisch Schüsse auf sie abgab, die beiden auf seiner Seite umlegte und es vermied, den Fahrer zu erschießen. Er rechnete damit, dass sie das Feuer erwidern würden, doch die beiden anderen Soldaten sackten in dem Jeep in sich zusammen, und ihre Automatikwaffen fielen aus kraftlosen Händen auf den Boden, während der Fahrer mit vier Toten in seinem Fahrzeug über den Waldboden schlitterte und aus der Sicht verschwand.
Sam drehte sich in dem Moment um, als Azami ihre Waffe sinken ließ. Er runzelte die Stirn. Er hatte schon vorher Blasrohre gesehen, aber wie die meisten ihrer Waffen war auch diese hier abgewandelt worden. Die Pfeile waren winzig, nicht größer als eine Erdnuss ohne Schale, die Nadel so dünn, dass es unmöglich sein würde, den Eintrittspunkt zu entdecken, so viel war ihm klar. Und er hätte seinen letzten Dollar darauf gewettet, dass das schnell wirkende Gift, das verwendet wurde, was auch immer es sein mochte, nicht nachweisbar war. Die Ladungen waren winzig und steckten in kleinen individuellen Kammern, die harmlos aussahen. Sie konnte etliche Schüsse abgeben, bevor sie nachladen musste.
»Wie ich sehe, brauchst du kein Schwert.«
»Heutzutage ist es sehr schwierig, Schwerter durch Sicherheitskontrollen zu bekommen«, entgegenete sie mit unverändertem Gesichtsausdruck.
»Du zielst extrem akkurat mit dieser Waffe.«
»Mit allen Waffen. Mein Vater hat großen Wert auf Genauigkeit gelegt.«
»Du bist eine sehr gefährliche Frau, Azami Yoshiie.« Sam meinte es als ein bewunderndes Kompliment.
Sie hob eine Augenbraue. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem atemberaubenden Lächeln. »Du machst dir keine Vorstellung davon, wie gefährlich ich bin.« Sie antwortete ihm mit seinen eigenen Worten, und er glaubte ihr.
»Und ein Schwert kannst du genauso geschickt handhaben wie deine anderen Waffen?«, fragte er neugierig.
»Noch geschickter«, gestand sie ohne eine Spur von Angeberei – es war eine simple Darlegung des Sachverhalts. »Aber das sagte ich doch schon, oder nicht?«
Sam machte auf dem Absatz kehrt und kam zielstrebig auf sie zu. »Ich werde dich jetzt küssen, Ms. Yoshiie. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich damit gegen alle internationalen Anstandsregeln verstoße, und du könntest mir mit gutem Recht dein Messer in die Eingeweide rammen, aber das interessiert mich in diesem Augenblick nicht besonders.«
Ihre Augen wurden groß, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte gewusst, dass sie es nicht tun würde. Sie war keine Spur weniger mutig als irgendein Angehöriger seines Teams. Sie würde nicht von der Stelle weichen.
Thorn feuchtete ihre Lippen an. »Es könnte dein Herz erwischen«, warnte sie ihn wahrheitsgemäß.
»Ich habe in dem Punkt trotzdem keine andere Wahl. Wirklich nicht. Also zieh das verdammte Messer, und halte dich bereit.«
Sie fühlte, wie sich die Glut ihres Körpers verflüssigte, eine erschreckende Reaktion für eine Frau, die sich sonst vollständig unter Kontrolle hat. »Wenn du es tust, kann ich dir nur raten, deine Sache wirklich gut zu machen, weil es durchaus das Letzte sein könnte, was du jemals tust. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren werde. Ich habe noch nie jemanden wirklich geküsst.«
Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren und übertönte die Geräusche der Insekten, die um sie herum wieder zum Leben erwachten. In diesem Moment graute ihr mehr als während des Kampfes gegen die feindlichen Soldaten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Ihr Selbsterhaltungstrieb war ausgeprägt, und Sam stellte auf einer derart elementaren Ebene eine Bedrohung für sie dar, dass sie wirklich nicht wissen konnte, was sie eventuell tun würde, um sich zu verteidigen.
Mit jedem bedächtigen Schritt, den er machte, ragte Sam größer und immer größer vor ihr auf. Ihr war schon aufgefallen, dass er ein großer Mann war, stark und von Kämpfen abgehärtet, aber sie war an seiner Seite ins Gefecht gezogen und hatte sich daher nicht mit seinen körperlichen Attributen befasst. Jetzt konnte sie jedes Detail sehen. In seinen Augen standen finstere Absichten und ein wachsendes Verlangen, was dazu führte, dass sie sich atemlos und schwach fühlte. Sie durfte nicht schwach sein – nicht jetzt, nicht in ihrer wichtigsten Stunde.
Sie hätte vor ihm zurückweichen sollen. Ihre Finger schlangen sich tatsächlich um ihren Dolch, aber sie zog ihn nicht. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand da, ließ sich von diesen dunklen Augen gefangen nehmen und beobachtete, wie sein Verlangen wuchs – nach ihr, nach Thorn, der Kriegerin. Er wusste, dass sie weit mehr war als Azami, die Leibwächterin ihres Bruders, und er bewunderte sie dafür. Nein, es war mehr als Bewunderung. Er begehrte sie deshalb. Er begehrte die Kriegerin in ihr ebenso sehr, wenn nicht sogar noch mehr als die Frau.
Sie stellte fest, dass sie sich in seinen Augen verloren hatte, als er ohne jedes Zögern weiterging, bis er dicht vor ihr stand. Seine Finger gruben sich in das Revers ihres perfekt sitzenden Jacketts, und er riss sie die wenigen Zentimeter, die noch zwischen ihnen waren, nach vorn. Oder war sie in diesem letzten Sekundenbruchteil auf ihn zugetreten? Sie wusste es ehrlich nicht – nur dass sie bei dem ersten Kontakt mit seinen aggressiven männlichen Energien, die ihre eigenen Energien überfluteten, heiße Ströme in ihrem ganzen Körper fühlte. Sowie sich seine Hände um die Aufschläge ihrer Jacke zu Fäusten ballten, verwandelte sich die Glut in geschmolzene Lava, und ihre Haut rötete sich, als es in ihrer Magengrube zu einem Vulkanausbruch kam. Ihre Brüste fühlten sich geschwollen an und schmerzten, und sie fühlte Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.
Sein Mund senkte sich auf ihre Lippen, und augenblicklich war die Welt wie ausgewechselt. Eine Sekunde lang schob sie die eigentümlichen Empfindungen, die sie durchströmten, auf Atemnot, doch dann konnte sie nicht mehr denken. Nur noch fühlen. Ihre Haut war plötzlich wie elektrisiert, ihre Knochen verwandelten sich in Wasser, ihr Blut in Feuer. Seine Lippen waren fest und kühl und ungeheuer fordernd. Sie öffnete ihren Mund und gestattete ihm, sie mitzureißen.
Thorn blieb gar nichts anderes übrig, als ihre Arme um ihn zu schlingen und sich an ihn zu klammern, als der Boden unter ihren Füßen schlingerte. Er ergoss sich in ihr Inneres, heiß und kräftig und entschlossen, sie für sich zu fordern. Sie spürte, wie sich das Heft des Dolches in ihre Handfläche grub, und sie sorgte dafür, dass sie es besser im Griff hatte, bis sie fühlte, dass er sich ihr hingab. Vollständig. Er gab ihr alles, öffnete sich ihr, ließ sie in sein Inneres ein. Er gab ihr genauso viel, wie er ihr nahm.
Die Welt, die er ihr öffnete, war eine Welt reiner Empfindungen. Lust brach in ihr aus wie eine heiße Feuersbrunst. Sie fühlte, wie ihr Körper mit seinem verschmolz, fühlte, wie sein Herz schlug, fühlte jeden seiner Atemzüge, als seien sie ein einziger Mensch und nicht zwei. Ihr Mund schien ihm und nicht länger ihr zu gehören, und sie erwiderte seinen Kuss mit einer Leidenschaft, die sie sich nie zugetraut hätte.
Sam wusste, dass er sich auf gefährlichem Boden befand, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Er musste sie kosten. Nein, wenn er ehrlich war, ging dieses entsetzliche Bedürfnis, sie zu küssen, weit darüber hinaus, sie einfach nur zu kosten. Er musste sie für sich fordern. Der Drang war von dem Moment an in ihm gewachsen, als sie ihm das erste Mal unter die Augen gekommen war. Je länger er mit ihr in dieser Extremsituation gewesen war, desto mehr hatte er sie bewundert. Er hatte festgestellt, dass er ihr Lächeln kaum erwarten konnte, das Leuchten ihrer Augen und wie die Sonnenstrahlen in ihrem glatten schwarzen Haar spielten.
Er verspürte das Bedürfnis, alles fallen zu lassen, sämtliche Schutzschilde abzulegen, um sie in sich einzulassen, ganz gleich, wie schlecht diese Idee war. Sowie sich sein Mund auf ihre Lippen senkte, wusste er, dass er zu aggressiv war, insbesondere angesichts dieses leisen, kleinen Eingeständnisses – »Ich habe noch nie jemanden wirklich geküsst« –, das sein Herz heftig schlagen ließ und sein Blut in Wallung brachte. Aber er konnte nicht aufhören. Sie schmeckte – himmlisch. Alles um ihn herum verschwand, versank, bis es nur noch Azami mit ihrer zarten Haut, ihrem seidigen Haar und diesem schwer definierbaren Duft gab, der ihn wahnsinnig machte.
Er rechnete voll und ganz damit, dass diese Frau mit ihrem Dolch sein Herz durchstoßen würde. Im letzten Moment, bevor sich seine Lippen auf ihre legten, hatte er die Furcht in ihren Augen sehen können, und es ging absolut nicht an, einer Frau wie Azami Yoshiie Angst einzujagen. Sie war eine Kriegerin, durch und durch. Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl waren ihre herausstechenden Charaktermerkmale. Beherrschung spielte für sie eine ebenso große Rolle wie für ihn, und er führte sie beide an einen Ort, an dem keiner von ihnen die Kontrolle über irgendetwas behalten konnte.
Es machte ihm nichts aus, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Für ihn zählte nur noch, sie zu küssen. Er verband sich auf eine undefinierbare Weise mit ihr, sodass beide von glühender Leidenschaft durchströmt wurden. Seine Hand glitt in ihr dichtes, seidiges Haar und packte zu, damit sie für ihn stillhielt, während seine andere Hand ihren schmalen Nacken fand, auf den sich seine Finger weit gespreizt legten, damit sie möglichst viel von ihrer zarten Haut berührten. Er ergoss sich in sie und füllte sie aus, und seine Zunge duellierte sich mit ihrer, während sie beide in sinnlichem Verlangen untergingen.
Azami erschauerte, ihre Lippen bebten, und dann verschlang sie ihn so aggressiv und so ehrlich, wie er sie verschlang. Er fühlte sie in seinem Inneren. Wie Lava floss sie durch seine Adern, schlang sich um sein Herz und füllte ihn bis in die Knochen aus.
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte sie mit den Lippen an seinem Mund, als sie beide auftauchten, um Luft zu schnappen. Ihre dunklen Augen sahen forschend in sein Gesicht.
Sam hatte keine Antworten. Er wusste, dass sie recht hatte. Sie könnten in einem tödlichen Krieg auf gegnerischen Seiten stehen, und doch konnte er sie nicht gehen lassen. Sie passte zu ihm. Die Welt um sie herum war nicht im Gleichklang, aber sie beide waren es.
»Ich weiß«, gab er zu, als er seine Stirn an ihre lehnte und ihr in die Augen sah.
»Was tun wir jetzt?«
Ein bedächtiges Lächeln spielte um seinen Mund. »Ich habe wirklich erwartet, dass du mich erstichst, damit ich mir darüber keine Gedanken machen muss.«
Sie blinzelte, und der schwarze Fächer ihrer dichten, seidigen Wimpern flatterte so wild wie ihr Herz. Sie feuchtete ihre Lippen an. »So leicht kommst du mir nicht davon.«
Sam beobachtete restlos fasziniert das Lächeln, das ihre weichen Lippen verzog, und die Wärme, die sich bis in ihre dunklen Augen ausbreitete.
»Tja. So ein Mist.« Er sah sich um und kam sich vor, als kehrte er aus weiter Ferne zurück. »Wir haben einen Wald voller Leichen und einen Entsorgungstrupp, der auf dem Weg ist, und du hast mir noch keine einzige Frage gestellt, Azami. Passiert das oft, wenn ihr Bestellungen für eure Satelliten annehmt?«
»Es ist das erste Mal. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet.« In ihre Stimme hatte sich ein neckender, schelmischer Tonfall eingeschlichen, der seine Abwehr mühelos durchbrach und direkt auf sein Herz zielte.
Er wusste, dass er sie loslassen musste, aber er war unsicher, ob er jemals wieder eine Gelegenheit bekommen würde, die Verbindung zu ihr erneut herzustellen, wenn er erst einmal zuließ, dass der Körperkontakt abbrach. Instinktiv wusste er, dass Azami schwer fassbar war und ihm wie Sand durch die Finger rinnen würde. Er brauchte eine Möglichkeit, sie an sich zu schweißen.
»Wie wirbt man in Japan um eine Frau? Brauche ich die Erlaubnis deines Bruders?«
Sie blinzelte wieder. Schockiert. Ein Anflug von Unsicherheit schlich sich in ihre Augen. Sie runzelte die Stirn, und er senkte den Kopf, um ihren Protest zu schlucken, bevor sie ihn äußern konnte. Ihr Mund bebte unter seinem, und dann öffnete sie sich ihm wie eine Blume und lockte ihn tiefer hinein. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, und ihr Körper presste sich eng an ihn. Seine Finger in ihrem Haar packten fester zu.
Er war lodernd entflammt und brannte im Innern. Er hatte nicht gewusst, dass er einsam war oder auch nur nach etwas suchte. Er war mit sich selbst im Reinen gewesen, und ihm hatte nichts gefehlt. Er liebte sein Leben. Er war ein Mann mit Teamkameraden, denen er bedingungslos vertraute. Er lebte an einem Ort von einer wilden Schönheit, die er genoss. Er war nie auf den Gedanken gekommen, es könnte jemals eine Frau geben, die zu ihm passte und die ihn innerlich weich und äußerlich hart machen würde.
Fühle dasselbe, Azami. Er nahm seinen Mund nicht von ihren Lippen, sondern küsste sie immer wieder, denn seit er den Fehler gemacht hatte, war er süchtig, und wozu sollte es gut sein, dagegen anzukämpfen? Das würde er ganz bestimmt nicht tun, denn es kam ihm alles so verflucht richtig vor.
Irgendwann ging sein Kuss von blanker Aggression und Herrschaftsansprüchen in grenzenlose Zärtlichkeit über. Seine Gefühle für sie brachen aus wie ein Vulkan und überwältigten ihn. Gefühle, von deren Existenz er nie etwas gewusst hatte. Sein Mund war sanft, und dasselbe galt auch für seine Hände, obwohl sie besitzergreifend auf ihr lagen. Er steckte erneut Ansprüche ab, doch diesmal kamen sie aus diesem tiefen, unbekannten Brunnen.
Fühle dasselbe, Azami, flüsterte er in ihrem Inneren. Es war eine Verlockung. Ein tiefes Bedürfnis. Er wartete, und etwas in ihm erstarrte und erwartete ihre Antwort.
Sag mir, was du fühlst.
Sie war nicht zurückgewichen. Wenn überhaupt, dann hatten sich ihre Arme noch enger um seinen Hals geschlungen. Er teilte jeden einzelnen Atemzug mit ihr, fühlte das leichte Heben und Senken ihres Brustkorbs und ihrer Brüste an seiner Brust und die warme Luft, die sie miteinander austauschten.
Als stünde ich bei lebendigem Leibe in Flammen. Als sei ich dabei zu ertrinken. Als wollte ich, dass dieser Augenblick niemals endet. Er war kein Mann, der blumige Dinge zu einer Frau gesagt hätte, und er dachte noch nicht einmal in blumigen Redewendungen, sondern er sagte ihr aufrichtig die Wahrheit. Als gehörten wir zusammen.
Wenn er sie erst einmal losließ, würde die Welt wieder im Lot sein. Er wollte, dass sie bei ihm blieb und ihm eine Chance gab.
Sie zögerte nicht, und auch das begeisterte ihn an ihr. Sie gab sich ihm wahrhaftig hin, wie er es auch umgekehrt getan hatte. Ich fühle dasselbe, aber einer von uns muss vernünftig sein.
Sie ergriff die Initiative zu einem weiteren Kuss, als er sich ein klein wenig zurückzog. Sie machte Jagd auf ihn mit ihren weichen Lippen und mit Fingern, die sich tief in die kräftige Muskulatur seines Nackens gruben, und sie seufzte, als sich sein Mund wieder auf ihre Lippen legte. Er ließ sich Zeit und küsste sie immer wieder ausgiebig, wobei er ständig tiefer in ihren Bann geriet und nur hoffen konnte, ihr ginge es mit ihm genauso.
Ist das deine Vorstellung von Vernunft? Er würde diese Vorstellung zu seiner Realität machen. Er taumelte noch tiefer in den Kaninchenbau hinein, und falls sie mit ihm fiel, würde er sie zu seiner Vernunft machen.
Ihr leises Lachen schlich sich in sein Herz ein und wand sich dort, bis er sie mit keinem Mittel mehr abschütteln konnte. Nicht wirklich, aber du musst der Stärkere von uns beiden sein.
Er küsste sie noch einmal. Und gleich noch einmal. Woran liegt das?
Du hast damit angefangen.
Okay, da war etwas dran. Er seufzte, als er seinen Kopf hob. Sie machte es ihm nicht gerade leicht, ein Gentleman zu sein, und er hatte sich ohnehin ganz und gar nicht wie einer benommen, und daher legte er seine breiten Hände fest um ihre Taille, um ihr Halt zu geben, während er in ihre dunklen Augen sah.
»Sag mir, wie ich angemessen um dich werben kann, Azami. Ich meine es ernst. Ich habe noch nie um eine Frau geworben, aber du bist die Richtige für mich.«
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ein Schatten schlich sich in ihre Augen ein. »Warum denkst du das nach so kurzer Zeit? Wir sind uns doch gerade erst begegnet.«
Sein Gehirn zog schleunigst die Bremse, denn ihm entging ihre Wachsamkeit nicht, die zu stark war, um als die natürliche Reaktion einer Frau durchzugehen, die sich fragte, warum ein Mann sie so schnell derart attraktiv fand. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, doch sie – fürchtete diese Chemie. Sie misstraute ihr. Seine Gedanken überschlugen sich und kamen auf Antworten, die ihm nicht besonders zusagten.
»Bist du Dr. Whitney persönlich begegnet? Kennst du ihn?«
Azami schluckte und trat einen Schritt zurück. Ihre langen Wimpern verbargen ihre Augen. »Ja, ich bin ihm begegnet. Er ist ein Monster. Mit hohem IQ, aber keineswegs so wie mein Bruder.« Sie sah ihm in die Augen. »Oder wie du.«
Er begriff, dass sie ihm damit sagen wollte, sie hätte gründliche Nachforschungen über ihn angestellt. Aber warum ausgerechnet über ihn? Lily erwarb den Satelliten. Überprüfte ihre Firma etwa routinemäßig andere Personen im Umkreis von jemandem, der etwas bei ihnen kaufte? Das war nicht einleuchtend.
»Weshalb solltest du etwas über mich wissen?« Er war ein Angehöriger einer militärischen Elite-Einheit, die vollkommen unbemerkt vorging. Ihnen wurde für keinen ihrer Einsätze Anerkennung gezollt. Wenige Menschen wussten von ihrer Existenz. Nur solche mit einer Unbedenklichkeitsbescheinigung erster Güte sollten auch nur das Geringste über ihn wissen. Azami Yoshiie sollten keine näheren Einzelheiten über ihn als Soldaten bekannt sein. Er rechnete damit, dass sie von den Schattengängern wusste, weil sie keinen ihrer Satelliten an irgendeine ihr unbekannte Firma oder Gruppierung verkaufte, und sie hatte mehrfach mit dem Militär zu tun gehabt – sie hatte ihnen einige Satelliten verkauft. Aber es gab keinerlei Gründe dafür, dass sie etwas über ein individuelles Mitglied dieser Elite-Einheit wissen sollte.
Thorn zuckte die Achseln, und ihr stockte der Atem. Sie fischte jetzt im Trüben. Wenn sie sich in Sam geirrt hatte, konnte sie alles verpatzen. Er war wahrhaftig ein Mann, der innerhalb eines Sekundenbruchteils von total entspannt zum Frontalangriff übergehen konnte, und sie bezweifelte nicht, dass er ungeheuer loyal war. Bestürzt stellte sie fest, dass sie sich seine Loyalität wünschte. Sie wollte nicht, dass er ihr gegenüber argwöhnisch war, und doch freute es sie gewaltig, dass er ihr misstraute.
Thorn hatte noch nie so widersprüchliche Gefühle gehabt. Wenn er nicht so intelligent gewesen wäre, wie er war, und nicht so geschickt als Krieger, hätte sie ihn niemals respektieren können oder sich derart zu ihm hingezogen gefühlt. Er musste argwöhnisch sein, da sie ihn andernfalls nicht ernstgenommen hätte, wie sie so viele andere nicht ernstnahm.
Sie sagte die Wahrheit und wusste, dass sie ihn damit vorsätzlich in die Irre führte: »Dr. Whitney hat vor etwa zwei Jahren versucht, einen Satelliten von unserer Firma zu erwerben. Wir machen selbstverständlich keine Geschäfte mit jemandem, den wir nicht persönlich kennen.« Das entsprach der Wahrheit – aber Whitney hatte eine Begegnung abgelehnt. Er war sogar so weit gegangen, mehr Geld anzubieten, und er hatte gesagt, die Installation der Software und das Training der Techniker, die mit der Software arbeiten sollten, könnte er selbst bewerkstelligen – woraufhin ihre Brüder angesichts seines enormen Egos die Köpfe geschüttelt hatten.
»Er hat einen von euren Satelliten?«, fragte Sam.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben den Verkauf abgelehnt. Mein Bruder war nicht beeindruckt von ihm. Sein Benehmen ist respektlos.« Auch das entsprach strikt der Wahrheit, und jeder, der Dr. Whitney kannte, würde wissen, dass sein Ego die Größe Europas hatte und dass er jedem gegenüber, den er als unterlegen ansah, also im Grunde genommen allen anderen Menschen gegenüber, grob unhöflich war.
Sam sah sie finster an. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, und sie nahm sich vor, bloß niemals Poker mit ihm zu spielen. Sie konnte den ganzen Tag lang heitere Ruhe bewahren, und die wenigsten Menschen erkannten jemals, was in ihrem Inneren vorging, aber sie würde nicht ihr Leben darauf wetten – und auch nicht das ihrer Brüder –, dass Sam sie nicht durchschaute. Er war von dem Moment an argwöhnisch gewesen, als sein Blick das erste Mal auf sie gefallen war.
»Warst du jemals allein mit ihm?«
Ihr Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Eine Flut von Erinnerungen brach über sie herein, die stummen Schreie eines kleinen Kindes, der Schmerz, der ihren Körper quälte, ein Messer, das ihren Brustkorb aufschnitt. Ihr Herz hörte auf zu schlagen und kam dann mit einem Ruck wieder zu sich, genauso wie jetzt. Sie schlug die Tür in ihrem Kopf fest zu. Das führte in den Wahnsinn. Sie blickte niemals auf diese Erinnerungen zurück, es sei denn, sie dienten einem wertvollen Zweck, und jetzt bestand dazu kein Anlass.
»Wir sind in vieler Hinsicht eine traditionelle Familie«, erwiderte sie rätselhaft, um eine Lüge zu umgehen. Sie war nicht über Lügen erhaben, wenn sie ihren Zielen dienten, aber sie wollte Sam nicht belügen, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ.
Seine Augen wurden wärmer. »Dann kommst du jetzt also zu deinen Anweisungen, wie ich angemessen um dich werben kann. Hole ich die Erlaubnis deines Bruders ein?«
Er stahl ihr das Herz mit seiner Aufrichtigkeit. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Frau, die in deinem Leben zweckmäßig wäre, Sam. Du brauchst ein Zuhause und eine Familie …«
Er lachte und unterbrach damit ihre sorgsam gewählten Worte. Es war ein Laut reiner männlicher Belustigung, der züngelnde Glut durch sie sandte und sie alles vergessen ließ, was sie hatte sagen wollen.
»Ich bin Soldat, Azami. Das ist es, was mich im Wesentlichen ausmacht. Meine Frau wird mein Zuhause sein, meine Familie. Darüber hinaus – wer weiß? Ich denke, dass du diese Frau bist.«
Thorn schluckte schwer. Jetzt ging ihr Atem zu schnell, und ihre Lunge brannte. Mit seinen unverhohlenen Eingeständnissen erschütterte er sie, wie sie noch nie zuvor jemand erschüttert hatte. Mit seiner Ehrlichkeit. Wer auf Erden war so wie er? »Du bist ein Intellektueller wie mein Bruder. Was treibt dich dazu, dein Leben und dein kolossales Gehirn in Gefahr zu bringen?« Es gelang ihr nicht, eine Spur von Schärfe aus ihrer Stimme herauszuhalten. Er war für große Dinge geschaffen, und doch wählte er den Kampf.
»Sag du es mir«, schoss er zurück.
»Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, die mir heilig ist. Vielleicht ist die Anziehungskraft zwischen uns deshalb so stark, weil unsere Wertvorstellungen einander sehr ähnlich sind.«
Sie wollte, dass dies der Grund war – oder dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Mann begegnet war, dem sie wahrhaftig nicht widerstehen konnte. Dass sie sich zu Sam Johnson hingezogen fühlte, hatte nichts mit Dr. Whitney zu tun. Die Vorstellung war einfach undenkbar. Schon lange bevor sich Sam für das Schattengängerprogramm beworben hatte, war sie von Whitney ausrangiert worden. Selbst wenn Whitney Sam auf sie fixiert hatte, konnte er sie nicht auf Sam fixiert haben. Der wüste Aufruhr in ihrem Magen legte sich ein wenig. Die Anziehungskraft, die Sam auf sie ausübte, musste echt sein, sie konnte nicht von einem Monster für seine eigenen Zwecke künstlich erzeugt worden sein.
»Pflichtbewusstsein verstehe ich«, sagte Sam. Er sah sich um. Ein abgeschossener Hubschrauber. Zwei Jeeps und viele tote Soldaten. Den Aufräumkommandos würde es hoffentlich gelingen, Hinweise darauf zu finden, woher die Bedrohung gekommen war. »Glaubst du, diese Soldaten hatten es auf deinen Bruder abgesehen?«
Thorns Blick folgte seinem, als er sorgfältig das Schlachtfeld betrachtete. Glaubte sie tatsächlich, dass die Soldaten versucht hatten, ihren Bruder zu entführen? Nichts anderes war einleuchtend. Die Soldaten hatten keinen Angriff auf das Anwesen unternommen, in dem Lily und ihr Kind wohnten, und sie hatten in dem Moment, als Hilfe gekommen war, den Rückzug angetreten. Es war wirklich ein sehr gut koordinierter Angriff gewesen. Sie konnten nicht wissen, dass Sams Schattengängerteam verborgene Bunker im Wald hatte oder dass sie und Sam in der Lage waren, sich so geschickt per Teleportation fortzubewegen.
»Ja. Ich glaube, jemand mit sehr viel Geld hat diesen Angriff inszeniert, um Daiki zu kidnappen. Das ist die einzig mögliche Erklärung, die passt.« Sie wartete einen Moment und hauchte dann seinen Namen in die Stille hinein: »Sam.« Es war ungehörig, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen, wie er es bei ihr tat, aber die Umstände waren außergewöhnlich. Sie musste in seine Seele blicken, wenn er ihr antwortete.
»Arbeitest du für Dr. Peter Whitney? Steht ihr ihm in irgendeiner Weise nahe?«
Seine Miene wurde finsterer. »Dr. Peter Whitney hat mit seinen Experimenten unbeschreibliche Verbrechen an der Menschheit begangen. Er bewegt sich außerhalb des Gesetzes. Der Mann ist ein Verbrecher, und ihm muss Einhalt geboten werden. Er ist unser größter Feind.«
»Warum arbeitet ihr dann mit seiner Tochter zusammen?«, fragte Thorn und senkte ihre anklagende Stimme.
Sam fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er sah müde aus, eine mächtige Eiche, die im Wind wankte. Sie hatte seine Wunde und seinen Blutverlust beinah vergessen. Das Zenith hatte geholfen. Es hatte die Blutung gestillt und ihn mit dem Adrenalin versorgt, das notwendig war, um durchzuhalten, doch jetzt ließ die Wirkung des Mittels nach, und Sam brauchte ärztliche Versorgung.
»Das denkst du also? Du liegst vollkommen falsch. Du bist in dem Glauben hergekommen, sie würde sein wie ihr Vater. Lily ist ebenso sehr eines von Peter Whitneys Opfern wie alle anderen, mit denen er jemals in Berührung gekommen ist. Sie arbeitet härter als jeder andere daran, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, aber er hat einflussreiche Freunde, die ihm dabei helfen, sich vor aller Welt zu verstecken.«
Sie konnte sehen, dass sich zu diesem Thema keine weiteren Informationen aus ihm herausholen ließen. Er brachte Lily glühende Loyalität entgegen, und er verabscheute Peter Whitney. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Ekel in seiner Stimme zu verbergen.
»Vielleicht solltest du dich besser setzen, Sam«, riet sie ihm sanft. »Die Wirkung des Zeniths klingt ab, und dir steht ein gewaltiger Absturz bevor.«
Thorn konnte es nicht lassen, vorzutreten und ihm einen Arm um die Taille zu schlingen. »Wenn wir es bis zum Waldrand schaffen, können deine Leute uns leichter finden, und wir werden immer noch im Schutz der Bäume sein. Meinst du, du hast noch genug Kraft, um es bis zum Straßenrand zu schaffen?«
Sein Arm legte sich um ihre Schultern, und er zog sie näher zu sich, doch sie bezweifelte, dass diese Geste etwas mit Schwäche zu tun hatte. Er fühlte sich überhaupt nicht schwach an. Sein Körper mit den Muskeln, die unter seiner Haut geschmeidig spielten, war unnachgiebig, fast so, als sei er aus Stahl. Er stützte sich nicht auf sie, aber sie konnte ihn nicht loslassen. Schweigend liefen sie durch den Wald und mieden die Bereiche, wo Leichen herumlagen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass das Aufräumkommando nichts Nützliches finden würde, um die Männer zu identifizieren. Wenn die Männer in dem Jeep zurückgekommen waren, um die beiden mexikanischen Soldaten zu töten, die vergiftet am Boden lagen, würden Fingerabdrücke nutzlos sein.
»Du weißt, dass sie diese Soldaten erschossen haben, um uns daran zu hindern, sie zu verhören«, sagte Thorn.
Sam nickte und konzentrierte sich auf jeden Schritt. Er wollte in ihren Augen nicht schwach wirken; schließlich hatte er einen gewissen Stolz.
»Der Feind wollte niemanden zurücklassen, der uns dabei helfen könnte, die Verschwörung aufzudecken.« Die ersten Kugeln waren darauf verwendet worden, die sterbenden Soldaten zu töten, und genau das hatte Azami und Sam ein paar Sekunden für ihre Flucht gelassen. Sie hatten Glück gehabt. »Wir haben Gebissabdrücke und Fotos, selbst wenn wir keine Fingerabdrücke haben. Wir werden etwas herausfinden. Und niemand wird unsere Leute abhängen. Wir haben einen Schattengänger auf den Jeep und einen auf den Hubschrauber angesetzt«, beteuerte ihr Sam. »Wir machen unsere Sache ziemlich gut.«
Thorn blickte in sein Gesicht auf, und es verschlug ihm den Atem. Die Sonne glitt durch das dichte Laub und küsste ihre makellose Haut. Ihre dichten Wimpern waren gesenkt, zwei Mondsicheln, und ihr Körper rieb sich in einem Rhythmus an seinem, der die mittlerweile vertraute Glut durch seine Adern rauschen ließ.
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte sie.
Bei einer anderen Frau hätte er vielleicht in Betracht gezogen, dass sie es anzüglich meinte, aber Azami flirtete nicht. Was sie ihm von sich gegeben hatte, war ihm freigebig zuteil geworden. Sie war extrem gefasst und sehr zurückhaltend. Er konnte sich sehr glücklich schätzen, dass sie überhaupt auf ihn reagiert hatte.
»Daiki ist …«, sagte sie zögernd, »wichtig für die Welt. Seine Arbeit ist bislang von niemandem übertroffen worden, und viele Länder bekämen sie liebend gern in die Hände. Es ist praktisch unmöglich, unsere Firma zu infiltrieren. Unsere Belegschaft wird klein gehalten und nach Bedarf von Land zu Land verschoben.«
»Wie kann eure Sicherheit so undurchlässig sein? Ihr müsst doch Leute engagieren …«
Sie schüttelte bereits den Kopf. »Sam, wir sind unser eigenes Sicherheitspersonal. Jeder, der für Samurai Telecommunications arbeitet, ist uns seit unserer Kindheit bekannt. Die Mehrheit der Mitarbeiter ist von meinem Vater zu einer Zeit ausgebildet worden, als sie noch Kinder waren, und nach seinem Tod von einem seiner Kinder. Wir stellen Familienangehörige und Angehörige von Angehörigen ein – falls du verstehst, was ich meine.«
Sam wusste, dass es in Japan üblich war, dass Angestellte über viele Jahre für dieselbe Firma arbeiteten und ihre Kinder und die Kinder ihrer Kinder ihre Nachfolge antraten. Er warf einen verstohlenen Blick auf die Entfernung zur Straße. Er würde es mit Mühe und Not bis zur Straße schaffen, wenn er sich konzentrierte und einen Fuß vor den anderen setzte. Eine Zeit lang war es ihm gelungen, den Schmerz abzublocken, doch jetzt setzte er ihm heftig zu und verlangte, zur Kenntnis genommen zu werden. Er wollte nicht, dass in der letzten Stunde oder so, die er allein mit Azami hatte, etwas dazwischenkam. Sowie sie wieder mit den anderen zusammentrafen, konnte es sehr gut sein, dass sie Feinde wurden. Jedenfalls würde er mit Sicherheit sein Team schützen müssen, bis sie zufriedenstellende Antworten hatten.
»Ich verstehe es. Und es ist klug. Wenn Daiki für das verantwortlich zeichnet, was meines Wissens bahnbrechende Software ist, wer hat dann die optische Linse entwickelt? Soweit ich verstanden habe, gibt es nichts auf dem Markt, was auch nur halbwegs an diese Linse heranreicht?«
Azami blickte in sein Gesicht auf. »Meines Wissens hat Lily diese Information.«
»Ich habe nicht daran gedacht, sie zu fragen. Ich weiß nur, dass sie sehr aufgeregt über den Satelliten und auch darüber geredet haben, was er für uns leisten könnte.«
Azami zuckte die Achseln. »Sämtliche Zeitschriften berichten über ihn. Es ist kein Geheimnis, dass Eiji die Linse entwickelt hat. Es gibt nicht viel, was die beiden gemeinsam nicht bewerkstelligen können.«
»Dann ist Eiji also bei der Herstellung des neuesten Satellitensystems ganz genauso wertvoll wie Daiki. Wenn er in die falschen Hände fiele, würde eure Firma sehr viel bezahlen müssen, um ihn zurückzukriegen. Oder er könnte gezwungen werden, die Linse und den Satelliten für andere Interessenten herzustellen.«
Die Bäume, die die Straße säumten, schienen nicht etwa näher zu kommen, sondern in weitere Ferne zu rücken, was absolut nicht einleuchtend war. Bei jedem Schritt kam es ihm vor, als watete er durch Treibsand, doch wenn er sich recht erinnerte, war er im Wald, nicht in einem Sumpf.
Sein Verstand schien noch scharf genug zu sein, und er konzentrierte sich weiterhin auf Azami. Auf jeden ihrer Atemzüge, auf ihren Geruch, der ihn einhüllte, und auch darauf, wie ihr weiches Haar seinen Arm und seinen Brustkorb streifte. Er fühlte, wie sich ihr Arm fester um seine Taille schlang. Sie war erstaunlich stark für eine so kleine Frau. Er schüttelte den Kopf. Nein, etwas Wichtiges entzog sich ihm; es schoss ihm so schnell durch den Kopf, dass er es nicht lange genug festhalten konnte, um herauszufinden, was es war.
Er feuchtete seine Lippen an und blickte auf ihr seidiges Haar hinunter. »Du bist wirklich wunderschön, Azami.«
Thorn blickte in Sams Gesicht auf. Er kollabierte rasch. Er hatte zu viel Blut verloren, und das Zenith hatte ihn durchhalten lassen, aber jetzt würde er schnell medizinische Versorgung brauchen. »Sam, ruf deine Leute jetzt zu uns. Sag ihnen, dass du einen Sanitäter und Blut brauchst.« Sie sprach jedes Wort klar und deutlich aus. »Sag ihnen, dass du zwei Pflaster mit Zenith der zweiten Generation trägst.«
»Das ist die wichtige Information.« Er blickte lächelnd auf sie hinunter, als sei er froh darüber, dass sie seiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen hatte.
Thorn hätte beinah laut gestöhnt. Er war schon reichlich hinüber. »Sam. Ruf deine Leute auf der Stelle zu uns. Sag ihnen, sie sollen sofort kommen.«
Er kam taumelnd zum Stehen, stand wankend da und rieb mit seiner Fingerspitze die Sorgenfalten zwischen ihren Augen, als sei das weitaus wichtiger als seine Wunden. »Woher könntest du etwas über die Existenz von Zenith der zweiten Generation wissen? Nur wir wissen davon. Und wie konntest du dir Zugang dazu verschaffen?«
»Sam.« Sie sprach in ihrem strengsten Tonfall mit ihm. »Wir brauchen dein Team jetzt sofort. Gib ihnen Bescheid.«
Er ging zu Boden, eine gigantische Eiche, deren Stamm abgesägt worden war. Seine Beine gaben vollständig unter ihm nach, und er fiel um und blickte mit weit offenen Augen durch den dichten Baldachin aus Laub zu dem klaren blauen Himmel auf. Thorn ging gemeinsam mit ihm zu Boden und versuchte, seinen Sturz abzufangen. Ihre Ruhe war mit einem Faden Verzweiflung durchwirkt. Er musste mehr Blut verloren haben, als sie anfangs geglaubt hatte. Sie hätte ihn schon eher drängen sollen, sein Team hinzuzurufen und ihnen Bescheid zu geben, dass er verletzt war. Sie hatte es nicht getan, weil … nun ja … Sie hatte wohl nicht allzu umsichtig gehandelt.
»Sam, öffne dein Inneres für mich! Mach es weit auf, lass mich hinein.« Sie benutzte schamlos ihre Stimme, einen warmen, honigsüßen Tonfall, um sich Zugang zu seinem Hirn zu verschaffen. Er musste sie reinlassen. Sie suchte nach Gedankengängen, nach allem, was sie zu seinem Team führen könnte. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass er sich telepathisch mit ihnen verständigt hatte. Sie hatte nie versucht, tief genug in ein anderes Bewusstsein vorzudringen, um einen Pfad zu einer anderen Person zu finden. Wenn sie es jetzt nicht tat, könnte jede Hilfe zu spät kommen.
Ihr war klar, dass es die oberste Pflicht seines Teams sein würde, Daiki und Eiji zu retten und sie schnell in Sicherheit zu bringen. Das Aufräumkommando konnte sich Zeit lassen. Und wer auch immer kam, um Sam zu holen, würde glauben, er sei fahrtauglich. Dabei brauchte er schleunigst einen Hubschrauber und einen Sanitäter. Zenith der zweiten Generation zersetzte den Körper nicht, wie Zenith der ersten Generation es getan hatte, und es führte auch nicht dazu, dass er verblutete. Sam würde kein Gegenmittel brauchen, aber das hieß noch lange nicht, dass der Blutverlust ihn mit der Zeit nicht doch töten würde. Das Mittel hatte seine Körperfunktionen zu einer Beschleunigung gezwungen und sie nicht etwa verlangsamt, und jede innere Verletzung – und er wies die Löcher von einem Durchschuss auf – könnte weiterhin innere Blutungen auslösen.
»Sam.« Sie packte ihn an den Schultern und brachte ihren Mund dicht an seinen, damit sie jeden seiner warmen Atemzüge fühlen konnte. Seine Haut fühlte sich kalt an, und all diese wunderbare Glut verbrauchte sich langsam.
Sein Blick richtete sich auf sie. »Küss mich.«
Das Flüstern war so leise, dass sie es vielleicht gar nicht gehört hätte, doch sie fühlte, wie seine Lippen die Worte bildeten. Sie brauchte ihre Lippen nicht weit zu bewegen, um sie auf seinen Mund zu legen, ihm ihr Inneres zu öffnen und ihm zu gestatten, in sie hineinzuschlüpfen. Sie war nicht bereit, sich in diesem Kuss zu verlieren, sondern sie drängte ihn, sein Inneres weiter zu öffnen. Sowie die Barriere zur Seite glitt, drang ihr Geist schnell in ihn ein, da sie befürchtete, sogar noch während ihm das Bewusstsein entglitt, würde er sich vor ihr wieder verschließen. Er war sehr diszipliniert und bestens ausgebildet, und sie bezweifelte, dass er ein Mann war, der sich durch Folter brechen ließ, doch wenn er sie küsste, öffnete er ihr schutzlos sein Innerstes.
Sie entdeckte diesen schwer auffindbaren Pfad zu seinem Anführer. Captain Ryland Miller – Lily Whitneys Ehemann. Sie schämte sich für ihr Zögern. Würde sie zulassen, dass Sam starb, damit sie ihre Mission ausführen konnte? Es musste eine Grenze geben, die man nicht überschritt. Wenn sie von ihren Fähigkeiten erfuhren, würde das die Lage komplizierter gestalten, aber Sam hatte bereits zu viele Vermutungen über sie angestellt. Sie konnte kein ehrenwertes Leben führen, wenn sie ihn sterben ließ, um ihre Geheimnisse zu wahren.
Ich bin Azami Yoshiie. Ich bin bei Sam Johnson. Er ist verwundet und braucht augenblicklich einen Sanitäter. Er hat eine gewaltige Menge Blut verloren. Ihr werdet mehrere Beutel brauchen. Um die Blutung zu stillen und ihn auf den Beinen zu halten, habe ich ihm zwei Pflaster mit Zenith der zweiten Generation verpasst. Der Energieschub ist abgeklungen, und der Blutverlust hat ihn kollabieren lassen. Sein Puls ist schwach, und seine Haut wird schnell kühler. Er hat das Bewusstsein noch nicht vollständig verloren.
Das Herz hämmerte in ihrer Brust. Das kurze Schweigen erschien ihr endlos, obwohl es nicht mehr als ein paar Sekunden dauerte, bis eine tiefe Stimme ihren Geist erfüllte.
In drei Minuten werden wir einen Hubschrauber in der Luft haben. Geschätzte Ankunftszeit bei euch in zehn Minuten. Sanitäter und Blut an Bord.
Es hätte sie beunruhigen sollen, dass er ihr keine Fragen dazu stellte, wie es ihr gelungen war, sein Inneres anzuzapfen – das bedeutete, dass er ein absoluter Profi war. Er fragte sie nicht einmal nach dem Zenith, und dabei mussten sie sowohl entrüstet als auch schockiert darüber sein, dass sie nicht nur davon wusste, sondern dieses Mittel tatsächlich besaß.
Der Sanitäter will wissen, ob eine arterielle Blutung vorliegt.
Soweit ich sehen kann, ist das nicht der Fall. Ich glaube allerdings, es könnte zu inneren Blutungen gekommen sein.
Verstanden.
Wieder entstand eine kurze Stille. Ihr wurde klar, dass er sich mit einer anderen Person verständigte.
Sorgen Sie dafür, dass er spricht; tun Sie, was Sie können, damit er bei Bewusstsein bleibt. Hat er Ihnen verbal geantwortet?
Nein. Thorn geriet in Panik. Sie konnte fühlen, dass er ihr immer mehr entglitt. Sie kannte jetzt den Pfad zu Ryland Miller und brauchte Sam daher nicht einzubeziehen, aber solange sie sich in seinem Kopf aufhielt, konnte sie seine Gehirnfunktionen überwachen. Er kommt immer wieder kurz zu sich und verliert gleich darauf von Neuem das Bewusstsein.
Er ist stark. Die Stimme klang unglaublich ruhig. Er ist Soldat. Er wird auf Befehle reagieren. Reden Sie mit ihm. Zwingen Sie ihn, bei Ihnen zu bleiben.
Thorn nahm Sams Gesicht in beide Hände und presste ihre Stirn an seine. »Sam, hör mir zu. Sie kommen, um uns zu holen, und uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich werde in der Öffentlichkeit keine Zuneigung zu dir bekunden, wie die Leute im Westen es tun. In meiner Familie hat das Werben um eine Frau nicht das Geringste zu bedeuten.«
Seine Wimpern flatterten, und sie stellte fest, dass sie in seine dunklen Augen blickte. Sie war ziemlich sicher, dass Ryland gemeint hatte, sie sollte Sam im Befehlston anschnauzen, damit er munter blieb, doch die Verbindung zwischen ihnen war wesentlich elementarer, wesentlich ursprünglicher, und er reagierte instinktiv auf sie – oder das wollte sie zumindest glauben. Auf jeden Fall hatte sie seine Aufmerksamkeit.
»Nur ein Heiratsantrag wird mit größtem Respekt behandelt. Wenn mein Bruder dir nicht den Kopf abreißt, sondern einen derart ungeheuerlichen Vorschlag akzeptiert, wirst du als Familienmitglied angesehen werden und musst meine Brüder auch so behandeln. Eine solche Abmachung wird in meiner Familie nicht auf die leichte Schulter genommen. Von einem Werben darf auf keinen Fall die Rede sein, wenn wir wieder bei den anderen sind.«
Sie presste ihren Mund auf seinen. »Und mit dem Küssen ist es dann auch vorbei.«
Einen Moment lang setzte ihr Herzschlag fast aus, denn sie hätte schwören können, dass sich seine Mundwinkel unter ihren Lippen hoben, wenn auch kaum merklich, doch dann tauchte er wieder ab. Panik wogte in ihr auf. »Wage es bloß nicht, mir einfach wegzusterben, Soldat«, fauchte sie und zwang sich zu einem schroffen Befehlston. »Mach die Augen auf, und sieh mich an, Sam.«
Seine Lider öffneten sich flatternd, und er gab ein pfeifendes Keuchen von sich. Sie verlor ihn. Der Hubschrauber und der Sanitäter würden zu spät kommen. Thorn fluchte tonlos und schmiegte sich wieder eng an ihn.
»Verlass mich nicht. Ich brauche dich.« Sie brachte die Worte erstickt heraus, und ihr graute bei der Vorstellung, dass sie wahr sein könnten. Sie kannte diesen Mann kaum, und doch kannte sie ihn weitaus intimer als irgendjemanden sonst auf der Welt. Sie war in seinem Inneren gewesen. Sie passten zusammen wie zwei Teile eines Puzzles. Er akzeptierte, wer sie war, diese schwer fassbare Frau, die still im Inneren der Kriegerin stand. Er behandelte sie mit Respekt – als eine ebenbürtige Partnerin. Er hatte nicht gezögert, mit ihr in den Kampf zu ziehen, und er hatte sie nicht im Auge behalten, um zu überprüfen, ob sie ihren Teil tat. Die Welt durfte diesen Mann nicht verlieren. Er war etwas ganz Besonderes.
Er kollabiert. Er kollabiert in diesem Moment. Sie hielt den Anflug von Panik aus ihrer Stimme heraus und sandte die Nachricht mit äußerster Ruhe, während sie innerlich das Gefühl hatte zu zerbrechen.
Wieder folgte dieses kurze Schweigen, und dann ertönte die Stimme – genauso fest und ruhig wie ihre. Benutzen Sie ein weiteres Zenith-Pflaster, falls Sie noch welche haben. Nur eines.
Zum ersten Mal zögerte sie. Das könnte ihn schneller verbluten lassen, falls er innere Blutungen hat.
Es wird das Blut gewaltsam zu seinem Gehirn pumpen, ihn vor Gehirnschäden bewahren und etwas Zeit für uns herausschinden. Lily wird ihn operieren, sowie sie bei Ihnen ankommt. Tun Sie es einfach.
Lily Whitney – Peter Whitneys Tochter. Wagte sie es, ihr zu vertrauen, wie Sam es tat? Lily war diejenige gewesen, die das Zenith der zweiten Generation entwickelt hatte. Stellte sie Experimente mit ihrem neuen Präparat an und benutzte Sam als Versuchskaninchen? War sie wie ihr Vater? Sah sie Sam als entbehrlich an, oder versuchte sie wirklich, ihm das Leben zu retten?
Sie ließ einen Finger zärtlich über sein Gesicht gleiten, holte tief Atem und traf ihre Entscheidung.