8.

Schrille Schreie drangen an Sams Ohren und rissen ihn abrupt aus dem Tiefschlaf. Die Laute eines besinnungslosen Tieres, das unerträgliche Schmerzen hat. Ein erbärmliches Heulen. Flehen, unzusammenhängende Aufschreie. Er sprang auf und raste durch den langen Flur. Der kahle weiße Korridor war schmal und erstreckte sich anscheinend über Meilen vor ihm. Die Schreie wurden lauter und klangen noch gequälter, das Flehen wurde unverständlich, war aber immer noch eindeutig als ein Betteln zu erkennen, und die Stimme nahm die Tonlage eines Kindes an.

Sein Herz schlug heftig, als er an großen Fensterscheiben vorbeikam. Er schaute in die Räume hinein, während er an ihnen vorbeilief, und ihm wurde eiskalt. Ein Raum nach dem anderen war leer, aber die Folgen des Gemetzels waren überall zu sehen. Blut war an die Wände gespritzt, tropfte beständig von Stahltischen, und auf dem Boden bildeten sich dunkle Pfützen. Weiße Krankenhauskittel waren achtlos zur Seite geworfen worden, ebenso Tabletts mit chirurgischen Instrumenten, alle mit einem düsteren Weinrot beschmutzt.

Sein Mund war trocken, und er trieb sich zu größerer Geschwindigkeit an, rannte so schnell, dass er nur noch als verschwommener Umriss zu erkennen war, und trotzdem ging der Flur vor ihm immer weiter. Die Schreie begannen zu verklingen und in ein heiseres, keuchendes Flehen überzugehen, das ihm das Herz zu zerreißen drohte. Er fand den letzten Raum, in dem sich noch Männer in Kitteln voller Blutflecken und mit kleinen Gesichtsmasken drängten. Sie waren über einen kalten Operationstisch gebeugt. Dicke Blutstropfen quollen stetig aus einem Patienten, den er nicht sehen konnte. Das Kind wand sich und keuchte und flehte, seine Stimme von Entsetzen und Schmerz erfüllt.

Ein Wachposten, der an der Tür aufgestellt war, kam aus den Schatten und stürzte sich auf ihn. Die Klinge eines Messers funkelte hell, als Licht aus dem Operationssaal auf sie fiel. Er schlug die Hand mit dem Messer nach unten und packte das Handgelenk, während er dem Wächter seine andere Faust in die Kehle schmetterte. Der Mann fiel würgend nach hinten, und Sam blieb in Bewegung, stürmte voran und trat die Tür zum OP auf. Um ihn herum zersplitterte Glas, barst in den Raum hinein und überzog die blutfleckigen Kittel, die ihm an nächsten waren, mit langen Splittern und tödlichen Scherben.

Er warf den nächstbesten Mann an die Wand und ging zwischen ihnen hindurch, als seien sie nichts weiter als Ausschneidepuppen. Er stieß sie aus dem Weg und erreichte den Tisch aus rostfreiem Edelstahl und das Kind, das an dem kalten Metall festgeschnallt war. Blut rann aus dem Körper des kleinen Mädchens, denn ihr Brustkorb war aufgeschlitzt worden. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ihn an, voller Grauen, Entsetzen und Schmerz. Sie hatte asiatische Gesichtszüge, doch ihr Haar war so weiß wie Schnee.

»Jetzt kann dir nichts mehr passieren, Kleines«, flüsterte er mit zugeschnürter Kehle. So etwas hatte er noch nie gesehen, ein kleines Kind, das wie ein Insekt seziert wurde. »Ich bin da. Ich werde nicht zulassen, dass sie dir jemals wieder wehtun.« Tränen brannten in seinen Augen, als er die Arme nach ihr ausstreckte. »Ich bringe dich zu jemandem, der dir helfen kann.«

Er fand die Riemen, mit denen sie an den Tisch geschnallt war. Die Riemen schnitten so tief in ihre zarte Haut, dass auch ihre Handgelenke und ihre Knöchel bluteten. Vor Wut und Empörung fluchend drehte er sich zu den gesichtslosen Ungeheuern um, die so etwas getan hatten.

»Warum?«, fragte er und ging drohend einen Schritt auf sie zu. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er einen anderen Menschen töten.

»Für die Wissenschaft, was denn sonst.« Die körperlose Stimme klang normal und ließ keine Spur von Furcht vor ihm erkennen. Der Chirurg zog die blutigen Handschuhe aus und warf sie achtlos ins Spülbecken. »Sie ist Ausschussware, absolut unnütz. Ich habe ihrem Leben einen nützlichen Zweck gegeben. Sie versteht das.«

Sam ging einen Schritt auf den Chirurgen zu. Es juckte ihn in den Fingern, ihm die Hände um den Hals zu schlingen und zuzudrücken, bis kein Leben mehr in dem Körper war. Der Mann entfernte seinen Mundschutz mit derselben achtlosen Präzision, und Sam stellte fest, dass er Dr. Peter Whitney gegenüberstand. Mit einem Fluch ging er einen weiteren Schritt auf das Monster zu. Der Atem des Mädchens rasselte in ihrer Brust, und als Sam sich schleunigst zu ihr umwandte, sah er, dass ihre mandelförmigen Augen glasig wurden.

»Nein, Kleines«, flüsterte er. »Bleib bei mir«, redete er ihr gut zu. »Bleib bei mir.«

Er starrte auf dieses Kindergesicht hinunter. Sie kam ihm so bekannt vor. Er konnte sich dieses seidige weiße Haar nicht erklären, denn die dunklen Augen wurden von dichten schwarzen Wimpern umrahmt, und ihre Haut war so zart. Er erkannte ihr Gesicht, kam aber trotzdem nicht auf ihren Namen.

»Bitte«, flehte er und hatte Angst davor, sie hochzuheben. Sie war wie eine kaputte Puppe, und er würde ihr mit jeder Berührung Schmerzen bereiten, ganz gleich, wo er sie anfasste. »Bleib bei mir«, wiederholte er.

»Mach die Augen auf«, antwortete sie leise. »Ich gehe nicht fort.«

Sam blinzelte. Über ihm nahm dasselbe verschwommene Gesicht allmählich Gestalt an, jetzt älter und nicht mehr schmerverzerrt, sondern heiter und gefasst. Er blinzelte noch einmal und versuchte zu verstehen, was hier geschah. Das Kind hatte weißes Haar, aber das Haar dieser Frau war mitternachtsschwarz.

»Sam, sieh mich an. Komm zu dir. Du hattest wieder einen Albtraum.«

»Azami.« Er hauchte ihren Namen. Sein Herz machte bei ihrem Anblick einen Freudensprung. »Du bist so verflucht schön.«

Sie strich ihm zart über das Haar, doch er fühlte die berührung bis in seine Knochen. »Du hattest einen Albtraum.«

Er packte ihre Hand. Ihre Finger ballten sich augenblicklich zur Faust, und sie trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er bog ihre Finger einen nach dem anderen auseinander und legte ihre Hand auf sein Herz. Sein Blick suchte ihren. Sie senkte die Lider nicht, sondern ließ ihn sehen, wer sie war. Der Atem stockte ihm in der Kehle, und er hob eine Hand zu ihrem seidigen schwarzen Haar, das dicht an ihrem Kopf anlag.

»Dein Haar war weiß«, flüsterte er. »Das Kind in meinen Albträumen warst du, aber du hattest weißes Haar.«

Azami presste ihre Lippen aufeinander und nickte langsam. »Es wäre mir lieber, dich in dem Glauben zu lassen, dass ich schön bin. Aber vermutlich wirst du früher oder später erfahren müssen, dass es gar nicht wahr ist.« In ihrem Lächeln schwang eine Spur von Wehmut mit. »Du hast mir das Gefühl gegeben, schön zu sein.«

Sam setzte sich auf und wartete dann einen Moment, bis der Raum um ihn herum nicht mehr wankte und der stechende Schmerz, der durch seinen Leib zuckte, nachließ. Er gab ihrer Hand einen Ruck, um sie nah an das Bett zu ziehen, bis sie sich entweder vorbeugen oder sich auf die Bettkante setzen musste. »Du bist wunderschön, Azami.«

Sie legte zaghaft eine Hand auf ihr Haar. Zum ersten Mal wirkte sie wahrhaft verletzlich. »Es ist nicht echt.«

Er grub seine Finger in die dichte Mähne, ballte sie zur Faust. »Das ist keine Perücke, Honey. Ich kann den Unterschied zwischen echtem Haar und einer Perücke erkennen.« Ihr Haar fühlte sich an wie reine Seide.

Ein schwaches Lächeln hob ihre Mundwinkel, doch gleichzeitig schluckte sie schwer. Sam ließ die Hand in ihrem Haar und presste mit der anderen ihre Handfläche auf seine Brust.

»Sag mir, was los ist.« Das wollte sie ganz offensichtlich nicht. Ihre Enthüllung musste für sie eine Frage des Stolzes sein. Es ging um den Stolz einer Frau, nicht um den Stolz eines Samuraikriegers. Das war ihm schon allein deshalb klar, weil ihr Blick für einen Sekundenbruchteil flackerte. Sie war Azami Yoshiie, ein gründlich ausgebildeter Samurai, und sie zauderte nicht lange, doch das winzige Zögern, kurz bevor sie ihr Kinn in die Luft reckte und ihm fest in die Augen sah, war ihm nicht entgangen.

»Die Farbe. Ich färbe es. Mein Haar ist schon grau oder, genauer gesagt, weiß. Mein Haar ist weiß geworden, als ich noch ein Kind war – etwa im Alter von drei Jahren.«

Glühende Wut durchzuckte ihn, ein Gefühl von der Heftigkeit eines Vulkanausbruchs. Er war so erschüttert wie noch nie zuvor. Im Alter von drei Jahren.

»Wie lange hatte dieses Monster dich in seiner Gewalt?« Er stellte die Frage mit gesenkter Stimme, denn nur so konnte er seine Stimme beherrschen.

Azami stritt das Offensichtliche nicht ab. Sie zuckte die Achseln. »Ich war acht, als mein Herz versagt hat und er mich rausgeworfen hat. Er hat mich in eine Kiste gepackt und mich nach Japan verfrachtet. Seine Männer haben mich in eine dunkle Gasse in einem Stadtteil gebracht, wo sich die Zuhälter und die Menschenhändler herumtrieben, und sie haben mich wie ein Stück Dreck, das auf den Abfall gehört, aus dem Wagen geworfen. Ich nehme an, genau das war ich in Whitneys Augen. Er hat mir immer gesagt, ich sei unbrauchbar, und schließlich hat sich mein Körper dann geweigert, seinen Experimenten standzuhalten.«

Er wollte sie in seine Arme ziehen und ihr Schutz bieten, so, wie er es bei dem kleinen Kind tun wollte, das sie gewesen war. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war.« Er meinte es ernst. »Hat dein Vater dich dort gefunden?«

Sie nickte. »Ich war spindeldürr, mein Körper eine einzige Ansammlung von hässlichen Narben, und mein Herz hat versucht zu entscheiden, ob es funktionieren oder aufgeben sollte.« Ein winziges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, eine liebevolle Erinnerung, die sie amüsant fand. »Mein Vater hat mir den Kopf geschoren, in der Hoffnung, mein Haar würde schwarz nachwachsen. Es ist gestreift nachgewachsen. Wenn ich es nicht färbe, sehe ich ein bisschen so aus wie ein Stinktier.«

Er fand diese Erinnerung eher herzzerreißend als unterhaltsam, doch er lächelte trotzdem, weil sie es offensichtlich brauchte, dass ihre Erinnerung an ihren Vater ihm ebenso viel Freude bereitete wie ihr. »Ich fand schon immer, Stinktiere seien eigentlich schön anzusehen«, gestand er, und die Aufrichtigkeit verlieh seiner Stimme einen feierlichen Tonfall. Er holte tief Luft. »Und du riechst erstaunlich anders als ein Stinktier.«

Echtes Gelächter ließ ihre Augen funkeln. »Ich weiß nicht recht, Sam. Ich glaube, der Geruch eines Stinktiers könnte ganz interessant sein.«

Er ließ einen Finger über ihr Gesicht gleiten und auf ihren zarten Lippen verweilen. »Warum hast du mir nichts von Whitney erzählt?«

»Lilys wegen. Ich war nicht sicher, ob sie mit ihrem Vater zusammenarbeitet.«

»Bist du hergekommen, um sie zu töten?«

Sie wich zurück und sah ihn finster an.

»Ich könnte es verstehen, wenn das deine Absicht gewesen wäre, Azami«, gestand er. Sie hatte nicht versucht, ihn zu belügen, sondern zugegeben, dass sie dieses Kind war, und er war ziemlich sicher, dass sie ihn auch in dem Punkt nicht belügen würde.

»Nein, sie wollte einen unserer Satelliten kaufen. Ihrem Vater habe ich eine Absage erteilt. Ich musste sie persönlich treffen, um zu entscheiden, auf wessen Seite sie steht.«

Sam glaubte ihr. »Hat Whitney Kontakt zu dir aufgenommen, seit er …« Er ließ seinen Satz unbeendet in der Luft hängen, da er die Worte nicht aussprechen wollte. Es musste verletzend sein, ausrangiert zu werden, obwohl Whitney ein Monster war. Für die verwaisten Mädchen war er der einzige Elternteil gewesen, den sie jemals gekannt hatten. Er hatte sie aus Waisenhäusern geholt, als sie noch Kleinkinder waren.

»… sich meiner entledigt hat?«, beendete sie seinen Satz. Ihre Stimme war frei von Bitterkeit. »Das war das Beste, was mir hätte passieren können. Mein Vater hat mich geliebt und mir beigebracht, an mich selbst zu glauben – und wieder an die Welt zu glauben. Er hat mir einen Ehrenkodex gegeben und mir einen Weg gewiesen, etwas zu bewirken. Ich hatte fast fünfzehn Jahre mit einem Mann, der das Leben respektiert und das Böse bekämpft hat. Er hat mir jede erdenkliche Chance gegeben und mir gezeigt, dass es, obwohl mir viele Türen verschlossen sein mochten, andere ehrenwerte Wege gab, die ich einschlagen konnte.«

Sam zog die Stirn in Falten. Er hatte ihren schmerzlichen, wehmütigen Tonfall gehört, als sie gesagt hatte, viele Türen könnten ihr verschlossen sein. Wonach sehnte sie sich?

Die Kuppe seines Daumens glitt über ihre Lippen. »Wie kann dir eine Tür verschlossen sein, Azami?«

Das warf sie aus der Bahn. Für einen kurzen Moment sah er diese plötzliche Unsicherheit, die ihn schockierte. Azami war eine Frau mit großem Selbstvertrauen. Sie war intelligent, und sie war eine erfahrene Kriegerin. Was könnte es sein, wonach sie sich sehnte, was aber unerreichbar für sie war? Seine Beschützerinstinkte wallten auf. Seine Hand packte ihr Haar fester. Weißes Haar? Wie musste das wohl für ein Kind von asiatischer Herkunft sein? So traumatisiert zu sein, dass sogar die Haare auf ihrem Kopf sie verraten hatten?

»Azami, ich will es wissen. Zeig mir das Schlimmste in dir.« Er konnte nur hoffen, dass sein Gesichtsausdruck und die Aufrichtigkeit seiner Stimme für ihn sprachen. Er beugte sich vor, um seine Stirn an ihre zu pressen. »Ich kenne deine Welt und eure Sitten nicht. Ich weiß, dass alles zu schnell geht und dass du dem nicht traust, aber wir passen zusammen. Du und ich. Wir passen perfekt zusammen. Wenn du in meinem Inneren bist, empfinde ich keine Einsamkeit mehr, ich fühle nur Wärme und Geborgenheit. Wir haben diese eine Chance, und alles um uns herum zählt nicht. Gemeinsam können wir alles bewerkstelligen. Wir können alles erreichen. Ich weiß es. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Zeig es mir. Lass mich der sein, der dir zeigt, dass du mit ihm alles haben kannst, was du willst.«

»Du kennst mich nicht, Sam. Ich bin nicht die Frau, für die du mich hältst.«

Er hob ihren Kopf mit seinen Fingern unter ihrem Kinn und sah ihr in die Augen. »Ich habe heute an einer Besprechung meines Teams teilgenommen. Es ging um drei Personen, die wesentliche Bestandteile von Whitneys Draht zum Weißen Haus waren und angeblich bei Unfällen ums Leben gekommen sind. Ich glaube nicht, dass es Unfälle waren. Du hast, ebenso wie wir, jeden erdenklichen Grund, Whitney Einhalt zu gebieten. Du kannst dich mittels Teleportation bewegen, du bist äußerst geschickt im Umgang mit Waffen, auch mit dem Blasrohr, und wenn mich jemand auffordern würde, ins Blaue hinein zu raten, wer für diese Tode verantwortlich sein könnte … Tja, Honey, dann würde ich mein Geld auf dich setzen.«

Sie zeigte keine Reaktion, und er bewunderte sie für die Gelassenheit, mit der sie es mit widrigen Umständen aufnahm, ohne eine Miene zu verziehen. Sie streckte beide Hände aus, legte sie um sein Gesicht und sah ihm fest in die Augen. »Willst du die Wahrheit deinetwegen wissen, oder willst du sie für dein Team rauskriegen?«

»Mein Team wird ohne meine Hilfe dahinterkommen. Sie stehen bereits dicht davor. Du musst die Entscheidung treffen, ob wir deine Feinde sind oder nicht. Wir sind nicht deine Feinde, und wir sind es auch nie gewesen, aber das musst du selbst in Erfahrung bringen. Du musst wissen, dass ich voll und ganz hinter dir stehe, Azami. Ich gebe mein Wort nicht leichtfertig, und ich weiß, dass du die Richtige für mich bist. Die Einzige für mich.«

»Ist es möglich, dass Whitney mich irgendwie als Partnerin für dich bestimmt hat?«, fragte sie.

Er konnte den unterschwelligen Horror und die Furcht in ihrer Stimme hören. Er schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, wie er das getan haben könnte. Aber vielleicht besteht seine Gabe ja in dem Wissen, welche Paare zusammengehören. Ich gehöre zu dir, und das hat wenig mit Sex zu tun. Ich fühle mich zu dir hingezogen, das schon, die Anziehungskraft ist da, und ich glaube, das siehst du ganz deutlich. Aber es ist so viel mehr als das. Ich denke an dich, Azami, und schon lächele ich. Du bist alles, was ich mir jemals von einer Frau gewünscht habe, und ich habe teuflisch lange nach der Richtigen gesucht. Gib mir diese Chance.«

Sie betrachtete ihn anscheinend eine Ewigkeit lang und verbarg ihre Gedanken hinter ihrer heiteren Gelassenheit, doch er konnte die Anspannung in ihrem Inneren fühlen. Sie feuchtete ihre Lippen an, und sein Herzschlag stockte. Sie war zu einer Entscheidung gelangt, und im ersten Moment wollte er sie zurückhalten. Wenn sie jede Chance zunichtemachte, würde er sich ihrer Entscheidung beugen müssen, aber er war nicht sicher, ob er das konnte. Er wusste mit absoluter Gewissheit, dass sie gemeinsam durchs Leben gehen sollten, und wenn er sie nicht haben konnte, würde keine andere Frau seinen Ansprüchen genügen.

»Ich war unnütz für ihn, oder hast du das vergessen?« Diesmal ließ sie zu, dass ihre Stimme verletzt klang. Das Kind war noch da. »Ich war es nicht wert, ordentlich zusammengeflickt zu werden. Es gab keine Möglichkeit, den Schaden zu beheben, den er meinem Körper zugefügt hatte.« Oder meinem Geist.

Sie ergoss sich in sein Inneres und füllte ihn mit ihrer Wärme und mit ihren Gefühlen aus. Sie fürchtete sich genauso sehr wie er davor, das zu beenden, was zwischen ihnen war.

Sam wusste, dass er eine Verzögerungstaktik einsetzte, aber es war trotzdem wichtig. »Wenn du so viele erstaunliche Gaben hast, warum hat Whitney dir dann nicht mehr Wert beigemessen?«

Bedauern und Schuldbewusstsein blitzten in ihren Augen auf. »Ich habe alles vor ihm verborgen. Vermutlich war mir nicht wirklich klar, dass er mich nicht für Experimente benutzen würde, wenn ich ihm meine übersinnlichen Gaben bewies. Ich konnte die anderen Mädchen manchmal schreien hören, und er wusste, wozu sie fähig waren. Er kam mir einfach abartig vor, und dieses Gefühl hat sich jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe war, verstärkt. Ich glaube, ich habe instinktiv jedes Talent vor ihm verborgen, und er konnte keines entdecken. Das muss ihn wahnsinnig gemacht haben, weil er sich stolz zugute gehalten hat, dass er weiß, wer übersinnliche Gaben besitzt und wer nicht.«

»Und dabei warst du noch ein kleines Kind.« Er streckte seine Arme aus und richtete sich auf, um sie auf seinen Schoß zu ziehen, und ein brennender Schmerz raubte ihm den Atem und erinnerte ihn daran, dass er nicht hundertprozentig in Ordnung war. Er atmete gegen den Schmerz an und schmiegte Azami an sich, weil er ebenso sehr das Kind wie die Frau trösten wollte.

»Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, wenn er mich berührt hat. Ich wusste, dass er keine von uns lieb hatte und uns auch nie lieben würde. Ich habe meine Gaben instinktiv verborgen, und später, als er meinen Körper für Experimente benutzt hat, dachte ich, das sei es, was er von mir wollte. Wahrscheinlich war ich ständig fast verrückt vor Angst. Ein Kind denkt nicht so, wie Erwachsene denken.«

»Du gibst dir doch gewiss nicht die Schuld an den Dingen, die Whitney dir angetan hat«, sagte er mit seinen Lippen auf ihrem Haar. Er konnte keine weißen Haare entdecken, aber wahrscheinlich hatte sie ihr Haar direkt vor dem Besuch des Geländes gefärbt, und daher würde niemand weiße Haaransätze sehen können.

Azami drehte ihren Kopf und sah ihn an. »Ich war ein Kind. Natürlich habe ich mir die Schuld daran gegeben. Er war so kalt mir gegenüber. Ich konnte ihm nicht ein einziges Mal ein Lächeln entlocken wie manche der anderen Mädchen. Ich habe mich immer unnütz gefühlt. Es war beinah eine Erleichterung, für Experimente benutzt zu werden, weil er mir dann wenigstens gesagt hat, ich machte mich nützlich. Das war ein Teil seiner Brillanz – uns Liebe und Anerkennung vorzuenthalten, damit wir alles getan hätten, um uns bei ihm einzuschmeicheln. Ein Teil von mir wusste, dass er vollständig verrückt war, aber das Kind wollte einfach nur seine Liebe und seine Anerkennung.«

Wieder loderte diese gewaltige Wut in Sam auf. Sie brauste glühend heiß und strahlend hell durch sein Inneres und erschütterte ihn mit ihrer barbarischen Intensität. Er war ein denkender Mensch, kein urzeitlicher Krieger, aber wie Letzterer kam er sich in dem Moment vor. Er musste Whitney töten, ihn vom Angesicht der Erde tilgen und ihn aus Azamis Erinnerungen löschen. Wie konnte ein erwachsener Mann ein Kleinkind derart traumatisieren, dass dessen Haar weiß wurde, obwohl es von Natur aus schwarz war?

In seiner Hilflosigkeit hauchte er einen zarten Kuss auf ihr Haar, denn er konnte nur versuchen, ihr stummen Trost zu spenden. Er konnte sich kaum ausmalen, was ihr Vater in dieser dunklen Gasse gefunden hatte. Ein abgerissenes, schwaches Kind mit weißem Schopf, das ansonsten nur noch aus Haut und Knochen bestand.

»Ich habe Lily und Ryland mit ihrem Sohn beobachtet, und wie die beiden ihn behandeln, ist so anders, das genaue Gegenteil«, sagte Azami. »Er ist ein glücklicher Junge. Ich kann die Liebe fühlen, die sie ihm entgegenbringen, und wie er darauf reagiert.«

Natürlich würde ihr das wichtig sein. Er hätte wissen müssen, dass sie die Verfassung eines Kleinkinds, das Whitneys Tochter in ihrer Obhut hatte, genauestens überprüfen würde.

»Wir sichern das Anwesen so gründlich, damit keine Gefahr besteht, dass Whitney eines der Kinder in seine Finger kriegt. Er hat es schon versucht, und wir wissen, dass er es wieder versuchen wird.«

»Er wird nicht aufgeben«, sagte Azami. Sie wandte sich von ihm ab. »Sam, du weißt, dass es mit uns nicht klappen kann. Ich denke ständig darüber nach, und es gibt viel zu viele Komplikationen. Ich habe eine Firma und meine Brüder, und du hast dein Team und deine Familie.«

»Das lässt sich mit Logistik lösen, Azami, und das weißt du selbst«, sagte er. »Wenn wir es wollen, werden wir eine Möglichkeit finden. Es gibt immer eine Möglichkeit. Du hast Angst, und dabei geht es nicht um mein Team oder darum, was ich tue. Es geht noch nicht einmal um mich.«

Sie glitt von seinem Schoß auf den Boden, so anmutig wie Wasser, das über Steine fließt. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das leiseste Rascheln, und das erinnerte ihn wieder daran, was sich hinter diesem schönen Äußeren verbarg: eine tödliche Waffe. Sie brauchte keine Schusswaffen und auch nicht Pfeil und Bogen; ihr Vater hatte sie gelehrt, eine Frau zu sein, die man nicht unterschätzen durfte, und er hatte ihr einen Ehrenkodex gegeben und sie auf den Weg des Samurai geführt. Auf diese Weise hatte er dafür gesorgt, dass Whitney sie nie mehr würde foltern können.

Und doch lebte Whitney in ihrem Kopf weiter. Sam konnte den Mann so deutlich fühlen, als hielte er sich gemeinsam mit ihnen in diesem Raum auf. Er wirkte sich unterschwellig auf alles in ihrem Leben aus, ob sie es wusste oder nicht. Sie stand mit erhobenem Kopf da, die Frau, die zu sein ihr Vater sie gelehrt hatte, und sie sah ihn an, mit festem Blick, die Schultern zurückgezogen und ohne einen Gedanken daran, sich für das zu rechtfertigen, was sie war, und doch widerstrebte es ihr, ihn ganz in ihr Leben einzulassen. Und das lag alles nur an Whitney.

Sam wartete und hörte seinen Puls in seinen Ohren hämmern. Er nahm Azamis Nähe übermächtig wahr, und doch war sie so weit weg von ihm.

»Azami Yoshiie ist eine Illusion«, flüsterte sie, und ihre Stimme war von Kummer und Verzweiflung erfüllt. »Von meinem gefärbten Haar bis hin zu meinem anscheinend vollkommenen Körper. Azami gibt es in Wirklichkeit gar nicht.«

Sie teilte ihm etwas so Schwieriges mit, dass sie innerlich bebte, doch trotzdem hielt sie an dieser unbeirrbaren, aufrechten Haltung fest, und ihr Gesicht behielt seinen Ausdruck von heiterer Gelassenheit bei, obwohl ihre Augen voller Schmerz waren. Sie schluckte schwer, und er konnte deutlich erkennen, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war, aber sie geriet nicht ins Wanken. Beinah hätte er sie zurückgehalten. Azami besaß großen Mut, und doch verlangte es ihr schrecklich viel ab, ihm dieses dunkle Geheimnis zu erzählen. Er konnte nichts anderes tun, als stumm auf dem Bett zu sitzen und darauf zu warten, dass sie ihm enthüllte, wovon sie wusste, dass es ihnen von Anfang an im Weg stehen würde.

Ganz langsam legte sich ihre Hand auf den Saum ihrer Bluse. Der Atem stockte ihm in der Kehle, als sie die Bluse hochzog und ihren flachen, durchtrainierten Bauch und die zarte Haut dort freilegte. Er wusste Bescheid, sowie er die Tätowierung in Form eines Spinnennetzes sah: ein Versuch, die Narben zu verbergen, die in alle Richtungen über ihre Taille verfliefen, ihren schmalen Brustkorb überzogen und bis unter ihre Brüste und zwischen ihnen hinaufführten, ihre linke Brust vollständig bedeckten und die rechte teilweise. Die Narben gingen noch weiter, lugten unter dem kunstvollen Tattoo hervor und gliederten ihr Fleisch von vorn bis hinten auf.

Sie drehte sich langsam um. Die Tätowierung auf ihrem Rücken war sogar noch detaillierter, nicht die Fäden eines Spinnennetzes, sondern ein triumphierender Vogel. Ein Phönix, der sich aus der Asche erhob und vor dem Hintergrund ihrer Schultern aufflog. Flügel, die sich auf ihrem zarten Rücken spreizten, so raffiniert gearbeitet wie feine Spitze, und in ihrem Kreuz langsam in hauchzarte geschwungene Schwanzfedern übergingen, die auf ihrer rechten Pobacke endeten. Die Narben waren starrer, erhaben und zerklüftet, und daher enthielt das geschmeidig dahingleitende Tattoo Hunderte von Bildern und Schnörkeln. Sowohl der Vogel als auch die Spinne waren farbig, vorwiegend in dunklen Farbtönen, doch der Phönix hatte rote und goldene Umrisse, die nur dazu dienten, die dramatische Wirkung noch zu verstärken. Sam fand die Tattoos keineswegs abstoßend, sondern ausgesprochen faszinierend. Sie hatte all diese Narben, diese Tapferkeitsmedaillen, in ein reines Kunstwerk verwandelt, und dafür bewunderte er sie umso mehr.

Sam schlüpfte aus seinem Bett, und im ersten Moment verschwamm wieder alles vor seinen Augen, aber diesmal war es schneller vorbei. Er tappte zu Azami und ragte über ihrer wesentlich kleineren Gestalt auf. Sie zuckte nicht zusammen und wich auch nicht zurück, als seine Finger über die Wülste auf ihrem Rücken glitten, die zahllosen Bilder nachfuhren und das dicke Narbengewebe abtasteten. Mit großer Behutsamkeit drehte er sie zu sich um, damit er das Spinnennetz betrachten konnte, das sich über ihrem Körper spannte und sich bei jeder kleinsten Bewegung ihrer durchtrainierten Muskeln kräuselte.

Er konnte verstehen, warum sich eine Frau, die solche Narben auf ihrem Körper sah, für zerstört hielt. Sie hatte offensichtlich zahllose chirurgische Eingriffe und mindestens eine Herzoperation hinter sich. Auf ihrer makellosen, zarten Haut nahmen sich die Narben beinah obszön aus. Eine Brust war größer als die andere und ein wenig schief, als wäre ein Teil davon achtlos abgeschnitten worden. Auf die schimmernde Narbe gleich neben ihrer Brustwarze war eine weibliche Rote Witwe tätowiert. Sam beugte sich vor, ehe er sich zurückhalten konnte, und hauchte einen Kuss auf diese Spinne. Seine Lippen streiften flüchtig ihre Brustwarze, und für einen atemberaubenden Moment legte sich seine Zunge seitlich um die dunkle Spitze, bevor er den Kopf hob und ihr in die Augen sah.

Azami stand ganz still da und hielt ihre Bluse über ihren Brüsten hoch. Ihre Augen waren schockiert aufgerissen. »Du kannst mich unmöglich wollen.«

Ihre Stimme war so leise, so schockiert und so ungläubig, dass Sam unwillkürlich lächelte. Er senkte seinen Kopf, bis ihre Lippen nur noch wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt waren, und schlang seine Hand um ihren Nacken. »Honey, ich bin splitternackt, falls du es noch nicht bemerkt hast. Ich glaube, dass ich dich will, kann unmöglich in Frage gestellt werden.«

Ihr Blick löste sich von seinen Augen, senkte sich tiefer, und sie schnappte hörbar nach Luft. Seine Erektion war lang und dick und entschuldigte sich in keiner Weise dafür, dass er sie begehrte. Das Bild, das sie von sich als Frau hatte, ging davon aus, wie sie selbst ihren Körper sah. Ihr war nicht klar, dass jeder Quadratzentimeter ihres vernarbten Körpers, der jetzt von einem Kunstwerk bedeckt wurde, Zeugnis für ihre Kraft und ihren Mut ablegte.

Sam legte seinen Daumen unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich auch ihr Blick nach oben richtete. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihre langen Wimpern, die ein wenig flatterten, erinnerten ihn an fiedrige Fächer. »Ich werde dich jetzt küssen, Azami, und falls du deinen Dolch zur Hand hast, wäre das ein guter Zeitpunkt, um ihn zu benutzen, falls es das ist, was du willst«, flüsterte er, und seine Lippen streiften ihre, um sie an ihren ersten Kuss zu erinnern.

Er fing ihr Lächeln und ihren warmen Atem ein, als sich sein Mund auf ihre Lippen legte. Die Welt schwankte vor seinen Augen. Er zog sie enger an sich. Sein Körper war nackt und verlangte schamlos nach ihr. Sie hatte vergessen, den Saum ihrer Bluse sinken zu lassen, und hielt ihn immer noch über ihren Brüsten fest, während sie mit ihm verschmolz.

Sein Brustkorb drückte sich gegen ihre weichen Brüste, als er sie an sich presste, und seine Erektion hatte sich direkt über ihrem Nabel zwischen ihnen eingenistet. Sie fühlte sich zerbrechlich an, und doch waren unter ihrer Haut nur Muskeln zu spüren. Die Narben schabten an seinem Schwanz und erzeugten eine Reibung, die er nicht erwartet hatte. Die Luft strömte schlagartig aus seiner Lunge, und er hielt sie noch fester, weil er befürchtete, sie würde versuchen ihm zu entkommen, während die Erde unter seinen Füßen bebte.

Sie schmeckte wie eine Kombination aus Flammen und Sex, eine tödliche Mischung, ein explosiver Cocktail, der durch seine Adern rauschte und sein Gehirn schmelzen ließ. Er wusste, dass er sich zu schnell und zu tief hatte fallen lassen und dass zwischen ihnen noch so vieles ungeklärt war. Sie kannten einander kaum, aber er war sich seiner Sache ganz sicher, was die Frau anging, die so mutig mit ihm in den Kampf gezogen war. Sein Körper war steinhart und sein Verlangen so heftig, dass er kaum noch denken konnte. Er küsste sie immer wieder und gestattete es sich, sich gemeinsam mit ihr einfach fallen zu lassen.

Azami zog sich keuchend von ihm zurück, und ihre Hände ließen endlich den Saum ihrer Bluse los und schlangen sich auf der Suche nach Halt um seinen Nacken. »Ich bekomme keine Luft mehr. Du hast mich so schwach gemacht, dass ich nicht mehr auf meinen Füßen stehen kann«, vertraute sie ihm mit schüchterner Stimme an.

Sam holte tief Atem. Er wusste, dass sein Bauch protestieren würde, aber er musste sie beschwichtigen. Er hob sie hoch und schmiegte sie an seine Brust. Es überraschte ihn, wie leicht sie war, obwohl sie aus kräftiger Muskelmasse bestand. »Du kannst dich an mir festhalten, Honey. Bei mir bist du sicher.« Er wollte, dass sie sich bei ihm in Sicherheit fühlte. Es war erforderlich, langsam vorzugehen, und daher würde er sich beherrschen müssen. »Du warst nie mit einem Mann zusammen, stimmt’s?« Er wusste bereits, dass sie ahnungslos war, was das Geschlechtsleben zwischen Mann und Frau anging. Ihre Küsse hatten ihm ihre Unschuld deutlich gezeigt, und das hieß, dass er sich Zeit lassen und sehr behutsam mit ihr umgehen musste. Sie nahm ihren eigenen Körper als minderwertig wahr und zweifelte an ihrer Fähigkeit, eine Frau zu sein.

Ihr Vater war wunderbar mit ihr umgegangen, liebevoll und gütig, und er hatte dafür gesorgt, dass sie die Fähigkeiten erlernte, die sie in einer feindlichen Welt zum Überleben brauchte. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, eine Familie zu haben, aber er hatte versehentlich den Glauben in ihr genährt, kein Mann würde ihren vernarbten Körper und ihr eigentümlich weißes Haar wollen, indem er ihr gesagt hatte, sie würde ohne einen Ehemann ein ehrenwertes Leben als Krieger führen, und Azami hatte geglaubt, das hieße wieder einmal, sie sei nicht gut genug.

Jetzt flatterten ihre langen Wimpern wieder. »Habe ich etwas falsch gemacht?« Ihre Stimme klang beklommen, aber sie sah ihm trotzdem fest in die Augen.

Er gestattete sich ein Lächeln. »Nein, Honey, du hast alles richtig gemacht. Ich muss nur selbst dringend Atem holen und das Richtige tun.«

»Und das wäre?«, hakte sie nach.

»Mich allein ins Bett legen oder mich anziehen. Ich muss mit deinen Brüdern reden, ehe wir uns Schwierigkeiten einhandeln.«

Ein bedächtiges Lächeln hob ihre Mundwinkel und gab ihren Augen einen warmen Schimmer. »Durch ein Gespräch mit meinen Brüdern könntest du dir erst richtige Schwierigkeiten einhandeln.«

»Das kann schon sein, aber mein Leben zu riskieren, indem ich bei ihnen um deine Hand anhalte, ist in meinen Augen ein lohnendes Unterfangen.« Er setzte sie aufs Bett und sah sich nach seiner Jeans um. Er war immer noch etwas wirr im Kopf, und sein Körper wollte nicht mit seinem Verstand kooperieren. Er brauchte ein Weilchen, um seine Jeans hochzuziehen und ein paar der Knöpfe zu schließen. Der Stoff spannte und war ihm unangenehm, doch zumindest war Azami in Sicherheit – für den Moment.

»Stört es dich, dass ich keinen Schimmer habe, was ich tue?«, fragte Azami mit ihrer gewohnten Offenheit.

»Männer neigen dazu, sehr eifersüchtig über ihre Frauen zu wachen, Azami. Ich bin mit Vergnügen der einzige Mann, den du jemals intim kennst. Außerdem weiß ich genug für uns beide. Vertrau mir, Honey, in der Hinsicht haben wir keinen Grund zur Sorge.«

Sie lächelte schief. »Du bist so selbstsicher, Sam.«

Er schmiegte sich an sie und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Gegen die Größe seiner breiten Pranken nahm sich ihr Gesicht so klein aus. »Ganz selten, Azami, glaube mir, nur alle Jubeljahre geschieht ein Wunder, und man bekommt ein großes Geschenk gemacht. Ich bin ein Mann, der im Alltag ständig mit dem Tod zu tun hat. Ich riskiere mein Leben und erwarte jedes Mal, wenn ich in die Welt hinausziehe, dass ich nicht zurückkehre. Du bist mein Geschenk, Azami, mein persönliches Wunder. Vielleicht ist es für dich zu schnell gegangen, und du brauchst Zeit, um Atem zu holen, und ich werde dir alle Zeit geben, die du brauchst. Sag nur nicht Nein und schlag uns die Tür vor der Nase zu.«

Seine Worte kamen einem Flehen so nahe, wie es einem Mann wie ihm irgend möglich war. Sie hatte das Gesicht eines Engels – mit diesen Augen, ihren vollen Lippen und all dieser zarten Haut.

»Ich sollte Nein sagen, Sam. Deinetwegen sollte ich Nein sagen. Aber ich werde es nicht tun.«

Seine Erleichterung war gewaltig. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie groß seine Anspannung war. Er wusste, dass die starke körperliche Anziehungskraft nicht einseitig war; er konnte das Verlangen in ihren Augen wachsen sehen und es in ihren Küssen und in ihrem dahinschmelzenden Körper fühlen. Dennoch war sie extrem diszipliniert und traute so schnell keinem. Er fühlte sich privilegiert, weil sie ihm durch ihre innere Verbindung dieses Vertrauen entgegengebracht hatte.

Sam streifte ihre Lippen mit seinem Mund und richtete sich dann lächelnd auf. »Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich verhindere, dass deine Brüder mir den Kopf abreißen, wenn ich um deine Hand anhalte. Es ist schließlich nicht so, als hätte ein Soldat viele Zukunftsperspektiven. Sie könnten glauben, ich hätte es auf dein Geld abgesehen.«

»Diesen Grund für ein solches Angebot würden sie besser verstehen – eine geschäftliche Transaktion. Es wird ihnen weitaus schwerer fallen zu verstehen, dass du mich aus anderen Gründen zur Frau haben willst.«

Auch jetzt konnte er keine Bitterkeit und noch nicht einmal einen Appell an sein Mitgefühl entdecken. Azami stellte den Sachverhalt lediglich so dar, wie sie ihn sah. »Sie werden sich daran gewöhnen müssen«, sagte Sam.

»Wir zeigen Zuneigung unter gar keinen Umständen in der Öffentlichkeit«, warnte ihn Azami. »Ich möchte nicht, dass es dich kränkt, wenn ich dir meine Gefühle nicht zeige.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Befürchtest du, ich könnte dich vor aller Welt an mich reißen und dich küssen wie verrückt?«

Sie nickte ernst. »Das tut man nicht.«

Er grinste breiter. »Und ob man das tut. Wir müssen uns nur die richtigen Orte aussuchen. Wir besitzen beide die Fähigkeit, uns innerhalb von kürzester Zeit von einem Ort an einen anderen zu begeben. Ich glaube, in höchster Not werde ich dir einfach ein Zeichen geben, und dann verschwinden wir schleunigst und kommen zurück, ehe jemand merkt, dass wir überhaupt fort waren.«

Azami sah ihn an, als wüsste sie nicht recht, was sie denken sollte. Seine Finger legten sich um ihren Nacken und zogen sie enger an ihn. Er fand diesen verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht hinreißend, aber er war ziemlich sicher, dass eine Kriegerin dieser Beschreibung nicht viel abgewinnen könnte, und daher war er so klug, sie zu küssen, statt eine unkluge Bemerkung zu machen.

Sie gab sich seinem Kuss vollständig hin, ihre Zunge tanzte mit seiner, und ihre schlanken Arme legten sich um seinen Hals.

Öffne mir dein Inneres, flüsterte er und verwandte die weitaus intimere Verständigungsform. Ich muss dich in mir fühlen, und ich muss in dir sein.

Es konnte gut sein, dass er sie körperlich nicht haben konnte, noch nicht. Instinktiv wusste er, dass sie noch nicht so weit war, ihm ihren Körper zu geben. Die Intimität der telepathischen Verständigung würde genügen müssen. Er betete, dass sie genügen und ihm die Kraft geben würde, sich ihr gegenüber anständig zu verhalten.

Sie zögerte einen Moment, und sein Herz stand still. Sein Mund bewegte sich schmeichelnd über ihre Lippen, ein behutsamer, zärtlicher Ansturm, um sie zu verlocken. Ihr Geist öffnete sich, und Wärme ergoss sich in ihn, ihre Stärke, aber auch die Verletzlichkeit, die sie vor der Welt verbarg. Sie füllte all die kalten, dunklen Orte in seinem Inneren aus, brachte Licht in sein Dunkel, leuchtete die finstersten Schatten aus und nahm ihm augenblicklich jede Spur von Einsamkeit.

Wenn wir in dieser Form zusammen sind, Azami, zusammengeschweißt, kannst du mehr über mich erfahren, als irgendein anderer Mensch wissen wird, nachdem er ein ganzes Leben mit mir verbracht hat. Er strich mit der Hand über ihr seidiges Haar. Ich werde nie anderswo hingehen. Ich werde bei dir sein, so wie jetzt. Sieh, wer ich in meinem Inneren wirklich bin. Beurteile mich nach meinem Charakter und nicht danach, ob Whitney etwas getan hat, um uns als Paar anzulegen, oder nicht.

Er wusste, dass das ihre Hauptsorge war. Als sie sein Inneres betrat, stark und mutig, war auch dieser Zweifel da. Azami versuchte nicht, ihn vor ihm zu verbergen, und sie tat auch nicht so, als fühlte sie sich wohl in ihrem Körper oder damit, dass er ihre physischen Makel sah. Für ihn waren sie keine Makel, sie würden es auch nie sein. In seinen Augen war sie makellos.

Sam …

Sie küsste ihn mit ausgesuchter Zärtlichkeit, bis sein Herz heftig schlug und sein Körper den Stoff seiner Jeans zu sprengen drohte. Sie strich mit ihren Fingerkuppen ganz leicht über seine Haut und fuhr seine Schultern und die Muskeln an seinen Armen nach. Die Berührung war kaum wahrnehmbar, und doch fühlte er sie mit überwältigender Intensität.

Wie könnte es sich überhaupt machen lassen? Du bist hier. Ich bin in Japan. Wir haben beide einen Job.

Aber sie wollte ihn. Sie wollte sich ihm hingeben, und in gewisser Weise hatte sie es bereits getan. Es war unmöglich, in ihrem Inneren zu sein und sie nicht zu kennen. Sie hatte sich in dem Moment wirklich auf ihn eingelassen, als sie ihm ihren Körper gezeigt hatte. Sie hatte ihm erlaubt, ihr Inneres und ihre Erinnerungen mit ihr zu teilen. Er hatte ihr Vertrauen nicht missbraucht, indem er in ihrem Inneren danach gesucht hatte, wie sie Whitneys drei Handlanger getötet hatte, obwohl sie nicht versucht hatte, etwas vor ihm zu verbergen. Er wusste, dass sie es auf Whitney abgesehen hatte, und wie hätte er ihr das vorwerfen können?

Sam umschlang sie enger. Es wird sich machen lassen, weil es für mich keine andere gibt. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine Frau ganz für mich allein haben würde.

Er hob langsam den Kopf und wartete darauf, dass sich ihre langen Wimpern hoben. Er liebte diese beiden zarten Halbmonde, die unglaublich lang und fiedrig über ihren hohen Wangenknochen flatterten, ehe sie ihre dunklen Augen öffnete, um zu ihm aufzublicken. Er liebte das Gefühl, wie ihm das Herz sank, sowie ihre Blicke sich trafen, und er wusste, dass sie immer diese Wirkung auf ihn haben würde, genau diese Wirkung. Sein Körper war sich ihrer ganz akut bewusst, und sein Inneres war so von ihr erfüllt, dass nie Raum für einen anderen Menschen sein würde.

Also gut. Von mir aus kannst du dein Leben in Gefahr bringen und die Erlaubnis meiner Brüder einholen.

Das klang nicht ganz so überzeugt, wie es ihm lieb gewesen wäre. Er küsste ihre Nasenspitze, beide Augen und ihre Mundwinkel.

»Sprich mit mir, Azami«, redete er ihr gut zu. »Ich halte nichts von Geheimnissen. Meine Frau wird wissen, was sich in meinem Leben tut, und ich muss über ihr Leben Bescheid wissen. Ich will nicht, dass einer von uns die Gefühle des anderen verletzt. Wenn du Bedenken hast, müssen wir darüber reden.«

Sie hob ihr Kinn. »Ich muss eine Mission ausführen. Es geht um eine Ehrensache. Ich kann nicht aufhören, solange es nicht getan ist. Ich bin nicht unrealistisch. Mir ist klar, dass ich wahrscheinlich nicht diejenige sein werde, die ihn tötet, aber ich habe es zu meiner Pflicht erhoben, ihn von jeglicher Unterstützung abzuschneiden, die ihm Legitimität verleiht.«

»Das verstehe ich, Azami. Ich verstehe es wirklich. Ich bin Soldat. Wenn du Whitney zu Fall bringen willst, befindest du dich hier ohnehin unter Verbündeten. Vier Schattengängerteams haben es sich zum Ziel gesetzt, ihn zu finden und ihn zu vernichten.«

»Er hat mächtige Freunde«, warnte sie.

»Glaube mir, Honey, das ist uns allzu deutlich bewusst.«

Plötzlich lächelte sie. »Du sagst Honey zu mir. In meinem Land benutzen wir diesen Begriff nicht. Es gefällt mir, aber es kommt mir seltsam vor.«

»Es ist ein Kosewort, das man für seine Freundin oder seine Frau benutzt«, erklärte er.

Sie holte Atem, trat zurück und spreizte ihre Hände. »Er hat mich Thorn genannt. Whitney. Er hat gesagt, ich sei keine Blume, sondern nur ein Dorn, und es gäbe nichts, was er tun könnte, um das zu ändern, ganz gleich, wie sehr er sich bemüht.«

Die nächste Enthüllung. Sie stand vollkommen still da und wartete. Sam holte Atem. Er wollte ganz sicher sein, dass er das Richtige sagte. Kurz nachdem sie einander begegnet waren, hatte er sie gefragt, was ihr Name bedeutete. Er lächelte sie an und trat einen Schritt vor, um die Lücke zu schließen, die entstanden war, weil sie Abstand von ihm gebraucht hatte. Seine Hand legte sich unter ihr Kinn und hob ihren Kopf.

Sein Herz schlug einen eigentümlichen Salto, als er den Mut in ihren Augen sah. So würde er sie immer sehen, seine Azami, die sich dem Schlimmsten stellte, das Schlimmste erwartete und doch nicht zurückschreckte, sondern ihm fest in die Augen sah. Er hatte sich der Pflichterfüllung verschrieben und Ehre und Gefahr gewählt, obwohl er viele andere Möglichkeiten hatte. Er hatte Studienabschlüsse und Angebote, aber er fühlte sich dazu berufen, Soldat zu sein und sein Land und dessen Bewohner zu verteidigen. Er hatte nie geglaubt, dass er einmal eine Frau finden würde, die ihn verstehen oder seine Wahl bewundern könnte. In Azamis Augen sah er sowohl Verständnis als auch Bewunderung.

»Du bist Azami, das Herz der Distel. Die Blüte der Distel. Für Whitney ist hier kein Platz, und er kann auch nicht zwischen uns stehen. Er bedeutet uns nichts, Honey. Machst du dir überhaupt eine Vorstellung davon, was wir beide gemeinsam sind? Welche Kraft wir vereint besitzen werden? Whitney kann uns niemals besiegen, und er kann uns auch nicht brechen. Er wollte Soldatenpaare erschaffen, die auf feindlichem Territorium abgesetzt werden, ohne Hilfe von außen Missionen ausführen und unbeobachtet entkommen, ehe jemand auch nur weiß, dass sie da waren. Wir sind dieses perfekte Paar, und er hat es nie auch nur gesehen. Er ist nicht unbesiegbar. Er hat die Schattengänger erschaffen, und du bist eine von uns, ob er es weiß oder nicht. Und wir werden sein Untergang sein.«

Er wusste, dass sie ihre Familie liebte, aber wie konnte sie jemals ein Gefühl von Zugehörigkeit gehabt haben – mit ihren eigenartigen übersinnlichen Gaben, ihrer qualvollen Vergangenheit, ihrem vernarbten Körper und dem weißen Haar? Ihm war es doch genauso gegangen – er hatte sich nie irgendwo zugehörig gefühlt, bevor er Schattengänger geworden war.

»Du gehörst zu mir, Azami. Deine Familie wird meine Familie sein. Meine Familie – die Schattengänger – wird unsere Familie sein.«

»Du bist ein sehr gefährlicher Mann, Sam Johnson«, flüsterte sie. »Du stehst da und führst mich mit deinen schönen Worten über eine gemeinsame Zukunft in Versuchung, der Teufel in Bluejeans, und du siehst so gut aus, dass es unmöglich ist, dir zu widerstehen. Ich weiß selbst nicht, warum ich bei dir nicht Nein sagen kann.«

Er strahlte über das ganze Gesicht. Seine Arme schlangen sich um sie und zogen sie ganz eng an ihn. »Das wird mir in Zukunft zugute kommen.« Er senkte noch einmal den Kopf, weil er der Versuchung ihres himmlischen Mundes nicht widerstehen konnte.