10.
Auf Azamis ruhige Enthüllung folgte betroffenes Schweigen. Die Mitglieder von Schattengängerteam eins tauschten verstörte, schockierte Blicke miteinander.
Ryland rieb sein Kinn an dem dichten Haarschopf seines Sohnes und schloss für einen Moment die Augen. Sam konnte sich nicht ausmalen, was ihm durch den Kopf ging.
»Sind Sie sicher?«, fragte Ryland schließlich. »Ich habe bisher keine Anzeichen dafür bemerkt, dass Daniel sich per Teleportation bewegt.«
Azami schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich bin ganz sicher. Er ist noch jung, und es erfordert große Kunstfertigkeit. Diese Kunst zu erlernen kann sowohl schmerzhaft als auch gefährlich sein. Bei mir hat sich die Gabe erst wirklich gezeigt, als ich etwa zehn Jahre alt war. Ich fühlte mich innerlich zerbrochen und habe festgestellt, dass ich mich von einer Ecke eines Raums in eine andere bewegt hatte, konnte mich aber nicht daran erinnern, den Raum durchquert zu haben. Es war beängstigend. Eine Zeit lang hatte ich Angst davor, es meinem Vater zu sagen. Ich habe befürchtet, ich sei dabei, den Verstand zu verlieren. Ihr Sohn ist noch ein Baby, und er erlebt dasselbe Gefühl jetzt schon.«
Ryland begrub sein Gesicht am Hals des Babys, und seine Arme packten fester zu, bis Daniel sich wand und Ryland gezwungen war, seinen Griff zu lockern. Er hob den Kopf und sah Sam mit seinen stahlgrauen Augen ins Gesicht. »Wusstest du das?«
»Ich hatte nie auch nur den geringsten Verdacht, Rye«, sagte Sam. »Da Azami uns jetzt auf diese Möglichkeit hingewiesen hat, kann ich mich durchaus erinnern, dass Daniel manchmal an einem Ort war, und dann hat er ein oder zwei Meter von dort entfernt mit meinem Werkzeug gespielt. Aber ich habe erst mit etwa achtzehn Jahren dieses Gefühl der ›inneren Zerbrochenheit‹ gehabt. Da weder du noch Lily die Fähigkeit zur Teleportation besitzt, bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Daniel dazu fähig sein könnte. Andererseits glaube ich nicht, dass meine Eltern sie besaßen, denn sonst wären sie ständig im Fernsehen aufgetreten und hätten ihre Geschichte verkauft, um an Geld für ihre Drogen zu kommen. Himmel noch mal, Rye.« Sam rieb sich die Nase und wusste nicht, wie er seinen Freund trösten sollte.
Es konnte durchaus passieren, dass Daniel mitten in einer Wand landete, bevor ihm die Gefahr voll und ganz klar wurde. Ryland und Lily hatten es ohnehin schon schwer, auch ohne das Wissen, dass sich ihr Kind mittels Teleportation mitten in den Wald, in die Minen oder aufs Dach begeben konnte. Die übersinnlichen Gaben, die sie von Geburt an besessen hatten und die dann von Whitney gesteigert worden waren, waren sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Jede Gabe konnte sich als extrem gefährlich erweisen. Erst recht bei einem so jungen und unerfahrenen Menschen.
»Sie haben sich an mir vorbeigeschlichen, stimmt’s?«, sagte Ian vorwurfsvoll. »Ich wusste doch, dass ich nicht eingeschlafen bin.«
Sam war klar, was Ian tat: Er wollte Ryland Zeit geben, die Neuigkeit zu verkraften und sich in irgendeiner Form mit der Gefahr für seinen Sohn zu arrangieren. Daher lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit vorsätzlich von ihrem Anführer ab.
»Viele Male, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Azami, die bereit war, sich zu opfern, damit Ryland einen Moment Zeit hatte, um sich von dem Schock zu erholen und sein Kind eng an sich zu drücken. »Einmal habe ich Sie ins Kinn gekniffen.«
Ian rieb sich das Kinn und sah sie finster an. »Das stimmt. Ich habe es gespürt. Ein Luftzug hat mich gestreift, und es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Haar aus dem Kinn gerissen.«
»Es war rot, und ich konnte nicht widerstehen. Sie sollten sich wirklich rasieren«, hob Azami hervor. »Was soll dieser rote Flaum auf Ihrem Kinn überhaupt? Ist das eine Art Stellungnahme, die ich nicht verstehe?«
»Eine Stellungnahme?«, sagte Ian aufbrausend und strich über das winzige rote V auf seinem Kinn. »Das ist männlich – wissen Sie das denn nicht?«
Azami verbeugte sich leicht und senkte sittsam ihre Wimpern und ihr Kinn, aber nicht, bevor Sam das schelmische Funkeln in ihren Augen gesehen hatte. »Verzeihen Sie mir, Ian. Ich ahnte nicht, dass ein Mann von Ihrer Statur Flaum braucht, um männlich zu sein. Ich kann mich, was diese Sitte angeht, nur auf Unwissenheit berufen.«
Die Männer grölten und knufften Ian, und Tucker streckte eine Hand nach dem roten Flaum aus. Ian stieß seinen Arm von sich.
»Tucker«, sagte Ryland, und seine Stimme hatte wieder einen Befehlston angenommen. »Bring Daniel zu seiner Mutter. Sorge dafür, dass sie das Ausmaß der Gefahr versteht. Wir werden herausfinden, wie wir meinem Sohn am besten dabei helfen können, die Gefahr zu begreifen, in der er sich befindet. Versichere ihr das, bitte.« Bleib ständig an ihrer Seite. Halte dich bereit. Wenn Azami unbemerkt an unseren Wächtern vorbeischleichen kann, dann besteht die Möglichkeit, dass auch ihre Brüder es können. Diesen Befehl fügte er telepathisch hinzu, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sein Gast den starken Anstieg von Energien wahrnahm, der mit dem Einsatz übersinnlicher Gaben einherging. Dann sprach er laut weiter. »Wir werden in der Einsatzzentrale sein. Ich glaube, Ms. Yoshiie hat uns einige Erklärungen abzugeben, bevor wir die Sache weiterverfolgen.«
Tucker bestätigte Ryland mit einem Nicken, dass er verstanden hatte. Er nahm den Jungen in seine Arme und wirkte größer denn je, da sich der Kleine an ihn klammerte.
Sam hatte gewusst, dass es dazu kommen würde, doch er hatte sich trotzdem etwas mehr Zeit erhofft, um seine Beziehung zu Azami zu festigen. Er wollte nicht, dass sie Anstoß an dem scharfen Verhör nahm, dem Ryland sie jetzt mit Sicherheit unterziehen würde. Ryland kannte sie kaum und konnte daher nicht wissen, dass sie keine Bedrohung für Daniel oder das Team darstellte. Er würde versuchen, es auf seine Weise herauszufinden.
Sam warf einen Blick auf Azami. Sie war unmöglich zu durchschauen. Ihre Gesichtszüge drückten dieselbe Gelassenheit aus wie sonst auch, und das konnte bedeuten, dass sie nach ihren Enthüllungen mit Rylands Verhör gerechnet hatte, aber es konnte ebenso gut heißen, dass sie jederzeit bereit war, sich den Weg freizukämpfen und das Anwesen zu verlassen.
»Ms. Yoshiie.« Ryland wies auf die Tür. »Nach Ihnen.«
Wieder flatterten ihre Wimpern federleicht und wunderschön, die sie fragil und feminin wirken ließen, obwohl Sam wusste, dass sie stahlhart war. Sam ging einen Schritt hinter ihr her, und Ryland schüttelte den Kopf.
»Du nicht, Sam. Du bleibst hier.«
Es war ein unmissverständlicher Befehl. Sam war in erster Linie Soldat, und er hatte noch nie in seinem Leben einen Befehl von Ryland missachtet. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Ryland machte auf dem Absatz kehrt, um Azami aus dem Zimmer zu folgen, doch Sam nutzte seine Geschwindigkeit, um ihm den Weg abzuschneiden. Die Auswirkung der Teleportation auf seinen Körper raubte ihm den Atem, doch das spielte keine Rolle. Wenn Azami sozusagen vor ein Exekutionskommando trat, dann würde sie es nicht allein tun.
»Bei allem gebührenden Respekt, Sir, aber das kann ich nicht tun.«
Stille senkte sich über den Raum. Alle drehten sich um und starrten ihn an. Er sah Ryland fest in die Augen.
»Das war keine Bitte, Soldat«, sagte Ryland.
»Das ist mir bewusst, Sir, aber in diesem speziellen Fall habe ich das Gefühl, ich habe keine andere Wahl, als an dieser Besprechung teilzunehmen, und daher ersuche ich darum, dass dieser Befehl zurückgenommen wird.«
»Und wenn ich es nicht tue, liegt dann die Absicht zur Missachtung vor?«
Ehe Sam etwas darauf antworten konnte, trat Ryland so dicht vor ihn, dass sie fast Nase an Nase standen. Sam wich nicht zurück. Lange Zeit starrten sie einander schweigend an.
Sag mir, was sie dir bedeutet.
Sie ist meine Lily. Ich glaube an sie, Rye. Sam antwortete seinem Freund und Kommandanten auf die einzige Weise, die er kannte – voller Aufrichtigkeit. Sie ist eine von uns, ob sie es zugibt oder nicht. Ich bin in ihrem Kopf gewesen, und sie könnte eine Bedrohung für uns niemals vor mir verbergen. Sie ist nicht wegen Daniel hergekommen.
Ryland starrte ihn noch ein paar Minuten länger an, ehe er nickte und sich abrupt abwandte, um aus dem Raum zu stolzieren.
»Bist du übergeschnappt?«, zischte Ian. »Du kannst von Glück sagen, dass du verwundet bist. Hat jemals einer von uns einen Befehl missachtet?«
»Er versteht, dass ich keine andere Wahl habe«, sagte Sam und schnappte sich sein Hemd vom Nachttisch. Die Mühe mit den Schuhen sparte er sich und tappte barfuß hinter Ryland und Azami her.
Seine Teamgenossen scharten sich schützend um ihn, und er stellte fest, dass er dankbar für ihre Kameradschaftlichkeit war. Es mochte zwar sein, dass sie nicht verstanden, was hier vorging, doch sie zeigten ihm ihre Unterstützung und hofften, Ryland würde ihm nicht den Kopf abreißen oder ihn für den Rest seines Lebens unter Hausarrest stellte.
Sam wartete, bis Azami anmutig auf einen Stuhl sank, ehe er den Stuhl neben ihr wählte. Ihm entging nicht, dass die Männer rasche Blicke miteinander wechselten, aber das störte ihn nicht. Azami würde nicht allein sein, wenn Ryland sie verhörte. Sam war restlos davon überzeugt, dass sie nicht Whitneys Verbündete war und dass sie keine Bedrohung für Daniel darstellte. Ganz im Gegenteil wollte sie dem Kind helfen.
»Vielleicht könnte ich eine Tasse Tee haben«, schlug Azami vor. »Wenn das möglich wäre.«
Sie wirkte vollkommen ruhig – viel ruhiger, als ihr zumute war. Sam hätte sie gern eng an sich gezogen und sie vor dem beschützt, was ihr bevorstand, aber sie ließ deutlich erkennen, dass sie seinen Schutz nicht brauchte. Nicht einmal ihren Händen war ein nervöses Flattern anzusehen – sie faltete sie auf ihrem Schoß und wartete, bis alle sich gesetzt hatten. Ryland nickte Gator zu, der rasch aufsprang, um Azami eine Tasse Tee zuzubereiten.
»Ms. Yoshiie«, setzte Ryland an.
Sie neigte ihren Kopf so anmutig und sittsam, wie es ihre Art war. »Bitte, nennen Sie mich Azami. Mir wäre es lieber, mich in amerikanischen Umgangsformen zu üben.«
»Dann eben Azami«, sagte Ryland, der sich in keiner Weise von ihren zarten Gesichtszügen täuschen ließ. »Ich glaube, es ist an der Zeit für eine Erklärung, meinen Sie nicht auch?«
»Eine Erklärung haben Sie allerdings verdient«, stimmte sie ihm zu. »Sie waren mehr als geduldig mit mir. Dr. Whitney hat mich Thorn genannt. Er hat den Mädchen die Namen von Blumen und Jahreszeiten gegeben, da ihm klar war, dass wir anders angesprochen werden mussten als mit den Nummern, die er uns in seinen Aufzeichnungen gegeben hat. Er hielt mich für ziemlich unnütz und meinte, ich sei kaum für irgendetwas anderes als Experimente zu gebrauchen, und daher war ich anstelle einer Lilie oder einer Rose ein Dorn für ihn, ein Stachel, der ihm immer lästig war, bis er sich meiner entledigt hat. Er hat mich in Japan auf der Straße aussetzen lassen. Ich war acht Jahre alt.«
Ihre sachliche Enthüllung wurde schweigend aufgenommen. Ryland legte beide Hände auf den Tisch, beugte sich zu ihr vor und richtete seinen stechenden, stählernen Blick fest auf ihr Gesicht.
»Wir Schattengänger erkennen einander an den Energien, die uns umgeben. Ich fühle keine solchen Energien, wenn Sie einen Raum betreten.« Es war keine Frage – Ryland traf eine Feststellung. Er sah Kaden an, um es sich von ihm bestätigen zu lassen.
Sam unterdrückte seine Wut. Er wurde selten wütend, aber Ryland bezeichnete sie indirekt als Lügnerin.
Kaden schüttelte den Kopf. »Ich fühle überhaupt nichts«, stimmte er ihm zu, »aber Sam hat es gefühlt. Er hat von Anfang an gespürt, dass bei der Familie Yoshiie etwas nicht stimmte, insbesondere bei Azami. Er ist so weit gegangen, ihre Gesichter einzuscannen und sie an Lily zu senden, damit sie in das Gesichtserkennungsprogramm eingegeben werden.« Auch Kaden beugte sich mit einem leichten Stirnrunzeln zu Azami vor. »Weshalb hätte Whitney Sie für unbrauchbar für ihn und das Programm halten sollen, wenn Sie ganz offensichtlich Gaben besitzen?«
»Whitney ist in der Lage, sogar schon bei Kleinkindern übersinnliche Gaben zu entdecken. Bedauerlicherweise ist er im Umgang mit Kindern nicht gerade schrecklich geduldig. Meine Fähigkeit zur Teleportation hat sich nicht gezeigt, bevor ich zehn Jahre alt war.«
»Ein Kind namens Thorn wurde erwähnt«, sagte Kaden zu Ryland. »Saber, Jesses Ehefrau, hat mehrfach von ihr gesprochen.«
Azami blieb stumm und hielt Abstand von Sam. Er wusste, genau, was sie tat. Wenn Ryland die Dinge, die sie ihm sagte, nicht akzeptierte, wenn diese Besprechung schlecht ausging, dann wollte sie nicht, dass er Schwierigkeiten mit seiner Einheit bekam oder eine Wahl zwischen ihr und seinem Team treffen musste.
Mach dir um mich keine Sorgen, Azami. Ich bin ein erwachsener Mann. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und lebe mit den Konsequenzen. Ich weiß genau, was ich tue und warum.
Ryland wandte sich ihm abrupt zu. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann sprich es aus, damit alle es hören können, Sam. Deshalb bist du doch hier, oder nicht?«
Sam hatte selten erlebt, dass Ryland diese Stimme benutzte, und so leise und streng sie auch war, sagte sie ihm doch vor allem, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll sich meinetwegen keine Sorgen machen. Dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe und genau weiß, was ich tue und warum.« Sam dachte gar nicht daran, sich vor der Wahrheit zu drücken.
»Das hoffe ich sehr«, sagte Ryland.
»Ich hatte vom ersten Moment unserer Begegnung an Vorbehalte gegen die Familie Yoshiie, insbesondere gegen Azami. Ich habe von Anfang an für möglich gehalten, dass sie eine von uns ist, ein Schattengänger. Es lag nicht daran, dass ich die vertrauten Energien wahrgenommen habe. Ich kann selbst nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas hat mir überhaupt nicht behagt, und ich habe nicht nur die Bilder an Lily geschickt, sondern auch Nico und Kaden einen Hinweis gegeben«, berichtete Sam. Er widerstand dem Drang, seine Hand unter dem Tisch auf Azamis gefaltete Hände zu legen. »Natürlich galt meine größte Sorge Daniel.«
Azami sollte wissen, dass er bis zum letzten Atemzug für den Jungen kämpfen würde, gegen jeden, der ihm etwas anzutun versuchte. Es war ihm wichtig, dass sie das verstand. Sie musste wissen, wie groß seine Loyalität gegenüber seinem Team war, das er als seine Familie ansah, und ebenso tief würde seine Bindung an sie sein – und an etwaige Kinder, die sie miteinander haben würden.
»Sie hat an meiner Seite gekämpft, Rye. Ich war in ihrem Inneren. Sie hat mich dort draußen im Wald gerettet. Ich habe mein Leben in ihre Hände gelegt, und ich hätte niemals zugelassen, dass sie hierherkommt, wenn ich auch nur einen Moment lang geglaubt hätte, sie stellte eine Bedrohung für Daniel dar oder sie arbeitete mit Whitney zusammen.« Sam sah ihm fest in die Augen. »Wenn du nicht mal so viel über mich weißt, was zum Teufel habe ich dann überhaupt hier zu suchen?«
Ryland zuckte nicht im Mindesten zusammen. »Wenn ich nicht so viel über dich wüsste, Springer, dann säßest du jetzt nicht an diesem Tisch. Ob verwundet oder nicht, ich hätte dich umgehend in den Knast geworfen.«
»Mr. Miller …«, setzte Azami an.
»Captain. Captain Miller«, verbesserte Ryland.
Sam senkte den Kopf. Ryland war stinksauer. Es war schwierig, den Mann auf die Palme zu bringen, aber wenn er erst einmal oben war, kriegte man ihn so schnell nicht wieder runter.
»Verzeihen Sie«, sagte Azami in ihrem sittsamen Tonfall, und sie neigte anmutig den Kopf. »Es ist meine Schuld. Als ich klein war, hat mein Vater nur zwei Dinge von mir verlangt. Er verlangte von mir, ein ehrenwertes Leben zu führen und Hass und Wut als unnützen Ballast abzuwerfen. Ich habe Whitney mit der Leidenschaft gehasst, die nur ein Kind aufbieten kann. Mein Vater hat mich gelehrt, dass er ein Monster ist, das schon, aber dass mein Hass auf ihn ihm große Macht über mich verlieh. Es ist kaum möglich, einen Mann wie Whitney seiner gerechten Strafe zuzuführen, aber jemand muss es schließlich versuchen.«
»Wie?«, fragte Ryland. »Sie müssen einen Plan haben.«
Azami sah sich am Tisch um. »Sie verlangen von mir, dass ich Ihnen allen vertraue, obwohl Sie mir nicht vertrauen.«
»Sie sind unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu uns gekommen«, hob Ryland hervor.
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn fest an. »Das ist nicht der Fall, Captain Miller. Ich bestehe darauf, alle Firmen oder Länder aufzusuchen, die einen meiner Satelliten erwerben wollen. Unsere Firma ist seriös, und ich weiß, dass Sie Ihre Wahl nicht blindlings getroffen haben. Wir liefern die weltweit besten Satelliten. Bisher macht uns niemand Konkurrenz. Unsere Linse ist jeder anderen auf dem Markt überlegen, und das gilt auch für unsere Software. Sie haben sich an uns gewandt.«
Gator stellte eine Tasse Tee vor Azami ab. »Mir ist aufgefallen, dass Sie Ihren Tee mit Milch trinken.«
Sie blickte lächelnd zu ihm auf. »Danke.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Ma’am … Azami?«, fragte Gator.
Sam bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl. Er war froh, dass wenigstens einer von ihnen sie höflich behandelte, aber unter allen Männern war Gator im Umgang mit Frauen der charmanteste. Er war restlos vernarrt in seine Ehefrau, doch das hinderte Frauen nicht daran, hin und weg von ihm zu sein.
Azami hob ihre langen Wimpern und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihr Blick traf ihn wie ein Pfeil mitten durchs Herz. Woher konnte sie das wissen? Wie kam es, dass ihre Verbindung so stark war? Er würde seine Familie oder sein Team nicht verraten, aber er würde mit jedem Atemzug in seinem Leib um Azami kämpfen. Ihre Augen erschienen ihm wie der mitternächtliche Himmel, dunkel und doch voller funkelnder Sterne, und sie hüllten ihn in Glut ein, in etwas, das nah an Verlangen herankam. Dann senkten sich ihre Wimpern, und sie konzentrierte sich wieder auf Gator.
»Nein, danke«, sagte sie höflich. Sie trank einen sehr damenhaften Schluck Tee und stellte die Tasse wieder auf die Untertasse, bevor sie erneut Ryland ansah. »Es ist unsere Firmenpolitik, jeden, der eines unserer Produkte erwerben möchte, gründlich zu überprüfen. Das ist weltweit bekannt. Drei Wochen, nachdem wir Dr. Whitney eine erneute Absage erteilt hatten, hat seine Tochter Lily Erkundigungen bei uns eingezogen. War das Zufall, oder benutzt er sie, um unseren Satelliten auf einem anderen Wege zu erwerben? Ich glaube, diese Frage ist durchaus berechtigt, und als verantwortungsbewusste Firma brauchten wir eine Antwort darauf.«
Sam wusste, dass er dabei war, sich Hals über Kopf zu verlieben. Sie war so gelassen unter Beschuss, in jeder Hinsicht so perfekt für einen Mann wie ihn. Er begeisterte sich für ihre äußere Erscheinung: majestätisch, eine japanische Prinzessin, der die Etikette in Fleisch und Blut übergegangen war, so anmutig und so ausgeglichen, und doch konnte sie von einem Moment auf den anderen zu einer todbringenden Mordmaschine werden, wenn die Umstände es erforderten.
Ryland nickte. »Da muss ich Ihnen vermutlich recht geben. Ich hätte dasselbe getan.«
»Ich wusste, dass Whitney früher oder später versuchen würde, an einen unserer Satelliten zu kommen, und das war die perfekte Gelegenheit, an ihn heranzukommen. Er würde sich mit uns treffen müssen. Sein Aufenthaltsort wird gründlich geheim gehalten, und er verlegt ihn häufig. Er kann jeden amerikanischen Militärstützpunkt auf Erden benutzen, und er hat Freunde in sehr hohen Ämtern, die ihm helfen. Er ist ein Geist, den man nicht zu fassen bekommt und der zu diesem Zeitpunkt unmöglich aufzuspüren ist. Unsere Satelliten waren der perfekte Köder.«
»Was ist schiefgegangen?«
Azami zuckte die Achseln. »Er hat sich geweigert, uns persönlich zu treffen. Er wollte, dass seine Bevollmächtigten für ihn einspringen, was wir natürlich abgelehnt haben. Er hat uns viel mehr Geld angeboten, aber wir haben wiederholt gesagt, wir hätten eine bewährte Firmenpolitik, von der wir niemals abwichen. Er hat ein Treffen weiterhin verweigert. Dreimal hat er versucht, einen meiner Leute zu bestechen, und einmal hat er es mit Erpressung versucht, in der Hoffnung, er könnte unsere Software und unsere Linse kopieren.«
»Er muss versucht haben, einen Spion in Ihre Firma einzuschleusen.«
»Das ist unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich, Azami«, widersprach ihr Ryland und nannte sie als eine Art Friedensangebot bei ihrem Vornamen. »Nicht mit seinem Geld. Er wird es immer wieder probieren.«
»Es wird ihm nicht gelingen. Den Menschen, die für mich arbeiten, wurde von meinem Vater auf die eine oder andere Weise geholfen, und sie sind ihm zu Loyalität verpflichtet. Sie wurden als Samurai ausgebildet, und sie werden sich nicht entehren.«
»Wenn er schon einmal etwas gefunden hat, womit er eine Person erpressen konnte, dann wird er auch etwas finden, was gegen eine andere Person vorliegt.«
Azami sah Ryland mit einem heiteren Lächeln und einem kleinen Kopfschütteln an. »Der Mann, den er zu erpressen versucht hat, kam augenblicklich zu mir und hat gestanden, was er für schändlich hielt. Es war es nicht, und ihm geht es gut, aber wenn er das Gefühl gehabt hätte, nicht mit der Schande leben zu können, hätte er seinem eigenen Leben ein ehrenhaftes Ende bereitet. Das schreibt unser Ehrenkodex vor. Whitney kann sich eine solche Loyalität nicht vorstellen, und das wird am Ende sein Untergang sein.«
Sam wusste, dass Ryland ihre Behauptung nicht abstreiten konnte. Die Schattengänger hatten viele Male dasselbe gesagt. Whitney hatte eine starke Einheit gewollt, die unabhängig agieren konnte, ohne von anderen wahrgenommen zu werden, Männer und Frauen, die vollkommen solidarisch miteinander waren und sich ihrem Ziel restlos verschrieben. Tatsächlich war ihm das in einem viel höheren Maße gelungen, als er jemals erwartet hatte.
»Sie müssen zugeben, dass für uns die Frage nahelag, ob er vielleicht dahintersteckte, als nach dieser Hartnäckigkeit von seiner Seite aus eine Bestellung von Whitneys Tochter einging«, fuhr Azami fort.
Auch diese Behauptung konnte Ryland nicht abstreiten. Er hätte ebenfalls argwöhnisch reagiert, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. Whitney war ein gerissener Gegner, der seine Versuche nicht einstellte, wenn er sich erst einmal etwas vorgenommen hatte.
»Es besteht kein Zweifel daran, dass ein hochauflösender Satellit ihn in die Lage versetzen würde, unsere Kinder leichter aufzuspüren«, gab Ryland zu. »Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht genauso gehandelt hätte.«
»Ich täte alles, um zu verhindern, dass ein solches Instrument in seine Hände fällt«, gestand Azami.
»Warum sind Sie nicht zu uns gekommen, sowie Sie erkannt haben, dass Daniel sein Zimmer verlassen und sich in eine Situation gebracht hat, die gefährlich sein könnte?«, fragte Ryland.
Azami trank ohne jede Eile und sehr gefasst einen Schluck von ihrem Tee, und ihre Gedanken überschlugen sich, als sie zu entscheiden versuchte, wie weit sie bedenkenlos gehen konnte, ohne weitere Personen in Gefahr zu bringen. Es war eine Sache, ihr eigenes Leben zu gefährden, aber sie hatte jemanden in Whitneys Lager, den sie beschützen musste. Sie stellte die Teetasse behutsam ab, blickte zu Ryland auf und sah ihm forschend in die Augen.
»Ihre Ehefrau ist Whitneys einzige anerkannte Tochter, und sie ist Wissenschaftlerin und führt seine Arbeit fort. Sie hat seinen Reichtum und seine Laboratorien geerbt. Es war nicht absolut widersinnig, sich zu fragen, was sie mit ihrem Kind tut. Als ich erfahren habe, dass sie hier ein Baby hat, war ich fest entschlossen, mir mit eigenen Augen anzusehen, dass dieses Kind geliebt und nicht für Experimente missbraucht wird.«
In ihrer Stimme drückte sich keine Spur von einer Rechtfertigung aus. Sie hatte getan, was sie für richtig hielt, und sie wollte jedem am Tisch klarmachen, dass sie genau dasselbe getan hätte, wenn sie es noch einmal tun müsste. Sie würde Whitney in keiner Weise unterstützen – und schon gar nicht für Geld.
»Und was haben Sie festgestellt?«, fragte Ryland, wobei seine Stimme um eine Oktave sank.
Sam zuckte innerlich zusammen. Wenn Ryland seine Stimme senkte, war das nie ein gutes Zeichen. Alles, was mit Lily und Daniel zu tun hatte, weckte in ihm extreme Beschützerinstinkte. Azami hatte sich auf gefährlichen Boden begeben und führte nichts zu ihrer Entschuldigung an.
Sie antwortete ihm, ohne zu zögern. »Ich habe festgestellt, dass Daniel ein entzückendes und ganz erstaunliches Kind ist, das von seinen Eltern und von all seinen ›Onkeln‹ heiß geliebt und beschützt wird. Er ist sehr glücklich. Sie fördern ihn und spornen ihn an, und doch sorgen Sie für seine innere Ausgeglichenheit, damit er sich nicht vorzeitig übernimmt. Ich könnte mir keine besseren Eltern vorstellen.«
»Trotzdem ist uns entgangen, dass er sich mittels Teleportation bewegen kann.«
Als Vater wirkte Ryland verletzlich auf Azami. Es war ihr verhasst, ihm Sorgen zu bereiten. »Nun ja, zum Glück kann er es noch nicht wirklich, noch keinen halben Meter weit, vielleicht sogar nur halb so weit«, hob sie hervor. »Aber er wird es bald lernen, und er braucht Anleitung und strenge Vorschriften, denn sonst wird er sehr schlimme Unfälle haben. Ich habe es am eigenen Leib erfahren, und ich habe den Verdacht, Sam hat es auch auf die harte Tour gelernt. Daniel ist noch zu jung und sollte nicht unvermutet mitten in eine Wand geraten.« Sie beugte sich zu Ryland vor. »Was bringt Sie auf den Gedanken, Sie könnten die Anzeichen so früh an ihm wahrnehmen? Mir wären sie beinah entgangen, und ich übe täglich.«
»Ich kann mit ihm arbeiten«, erbot sich Sam. »Ich verbringe gern Zeit mit ihm, Rye.«
Rylands Blick richtete sich auf Sams Gesicht. Azami konnte ihm ansehen, dass ihm die Teleportationsversuche seines Sohnes eindeutig Sorgen bereiteten, und sie wusste, dass er allen Grund zur Sorge hatte. Es war eine extrem gefährliche Gabe, und für ein Kind – eigentlich noch ein Baby – konnte sie tödlich sein.
»Danke, Sam. Lily wird das gar nicht gut aufnehmen. Wir müssen bei Daniel ständig einen Mittelweg finden, wie viel wir ihm erlauben sollten, während wir gleichzeitig seine Fähigkeit einzuschätzen versuchen, die Dinge, die wir ihm beibringen, zu verstehen. Ich habe den Verdacht, das wird schwierig werden. Wenn es seiner natürlichen Veranlagung entspricht, Teleportation zu nutzen, um ein Plätzchen zu stibitzen, werden wir ihn ununterbrochen zurechtweisen.«
Azami lächelte ihn strahlend an. »Er liebt sein Leben. Er kann sich ziemlich gut verständigen. Er versteht bereits, dass er geliebt wird und dass Ihre Vorschriften seiner Sicherheit dienen sollen.«
»Er ist wie ein Schwamm«, sagte Ryland. »Er saugt in einem Affentempo Informationen auf. Ich bezweifle nicht, dass er viele Sprachen sprechen wird, und seine Motorik ist jetzt schon ganz erstaunlich.« Er grinste gegen seinen Willen. »Aber das glauben vermutlich alle Eltern von ihrem Kind.«
Azami beugte sich wieder zu ihm vor und fasste ihren Entschluss. Sie würde gemeinsame Sache mit den Schattengängern machen. Sie hatte keinerlei Zweifel an dieser speziellen Einheit; sie hatte die letzten Tage damit verbracht, ihnen allen nachzuspionieren. Sie hatte sogar etliche winzige Kameras an verschiedenen Orten im Haus genutzt. Eiji und Daiki stellten es sehr geschickt an, Kameras an Orten zu installieren, an denen sie niemand jemals finden würde. Sie konnten einen beliebigen Raum durchqueren und innerhalb von Sekunden eine Kamera anbringen. Sie musste lediglich einen Mittelweg finden, um ihren Informanten zu schützen. Sie würde sein Leben nicht gefährden, nicht einmal um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen.
»Sie haben ein viel größeres Problem als mich, Captain, oder als die ersten Teleportationsversuche Ihres Sohnes. Wir sind auf Informationen gestoßen, die darauf hinweisen, dass Sie Befehle erhalten werden, in den Kongo zu gehen, um General Armine, der mit Ezekial Ekabela um die Führung der Rebellenarmee kämpft, hinterrücks zu ermorden. General Eudes Ekabela, Ezekials Bruder, wurde von einem Schattengänger getötet, und Armine hat die Truppen übernommen, bevor Ezekial die Macht an sich reißen konnte. Whitney legt großen Wert darauf, dass Armine aus dem Weg geräumt wird, damit Ezekial an die Macht kommt. Ezekial hat die Kontrolle über die Diamantenminen, und es gibt einen Diamanten von einer ganz bestimmten Größe, den Whitney für eine neue Waffe braucht, an der er arbeitet. Der Preis, den Ezekial Ekabela dafür verlangt, ist die Ermordung Armines, und zusätzlich fordert er einen Schattengänger, der ihm für den Tod seines Bruders büßen soll. Whitney hat in die Bedingungen eingewilligt. Da Jack Norton, den die Rebellen unbedingt in die Finger kriegen wollen, Zwillinge hat, gibt Whitney ihnen jemanden aus Ihrem Team.«
Azami mied es, Sam anzusehen. Ihre Bauchmuskulatur verkrampfte sich. Sie wollte keine Verdammung in seinen Augen sehen. Sie hatte ihn nicht gewarnt, nicht einmal, als sie ihn geküsst und ihm ihr Herz hingegeben hatte. Jetzt musste sie sich zwingen, die Worte auszusprechen. »Whitney ist der Meinung, Sam sei unnütz für sein Programm, und er ist bereit, ihn für den Diamanten zu opfern.«
Sam zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch kein Wort. Gator versetzte Tucker einen Stoß mit dem Ellbogen, aber ein einziger Blick von Ryland unterband jede scherzhafte Bemerkung, die sie vielleicht geäußert hätten.
»Jeder Befehl, der an uns ausgegeben wird, unterläge strengster Geheimhaltung«, sagte Ryland. »Und dann ist da noch die Sache mit dem Zenith der zweiten Generation, an dem meine Frau gearbeitet hat. Niemand sollte auch nur gerüchteweise davon gehört haben, ganz zu schweigen davon, dass jemand tatsächlich eines dieser Pflaster an sich gebracht haben sollte.«
Sie hatte gewusst, dass dieses Thema früher oder später zur Sprache kommen würde, erkannte den Argwohn und konnte es ihm nicht vorwerfen. Wenn er mit streng geheimen Informationen über ein Team, das für die Außenwelt nicht existierte, zu ihr gekommen wäre, wäre sie umgekehrt auch extrem misstrauisch gewesen und hätte sich gefragt, wie diese Informationen in die Hände eines Außenstehenden gelangt sein könnten. Ihr war klar gewesen, dass Ryland, sowie sie enthüllte, was sie wusste, ernsthaft mit seinem Verhör beginnen würde.
Sie ließ ihre gefalteten Hände unter dem Tisch auf ihrem Schoß liegen. Ihr Magen war unruhig, aber nicht etwa, weil sie diese Menschen fürchtete – sie wusste, dass sie etliche von ihnen töten könnte, bevor sie sie zu fassen bekämen –, sondern weil sie jedes Wort sorgsam wählen und ihnen verständlich machen wollte, dass sie auf ihrer Seite stand, ohne zu riskieren, dass sie Menschenleben in Gefahr brachte. »Whitney hat etliche Menschen auf seiner Gehaltsliste, die ihn mit Informationen versorgen und sie nach seinen Wünschen weitergeben und ihm dabei helfen, seine Vorhaben voranzutreiben. Diejenigen, die ihm helfen, sind ohne Frage in Machtpositionen. Sie tun, was er will. Ich habe seine Befehle an eine Frau namens Sheila Benet abgefangen. Sie ist sein Kurier Nummer eins.«
Unter dem Tisch schlangen sich Sams Finger sehr zart um ihr Handgelenk, um sie zur Vorsicht zu ermahnen. Er wollte nicht, dass sie noch weiter ging. Sie hatte sie bei ihrem Treffen in der Einsatzzentrale ausspioniert und wusste, dass die Schattengängereinheit als Ganzes nicht glaubte, bei den drei Todesfällen in Zusammenhang mit Sheila Benet handelte es sich um Unfälle, und Sam wollte offensichtlich nicht, dass sie sich zu den Morden bekannte. Sie war sicher, dass er dahintergekommen war, auf wessen Konto die Morde gingen, sowie er erkannt hatte, dass jemand ein Blasrohr benutzt haben könnte, um Major Patterson zu töten. Vom ersten Moment ihrer Begegnung an war ihr klar gewesen, dass er zu intelligent war, als dass sie ihn lange zum Narren hätte halten können, und wenn er sich von ihr zum Narren hätte halten lassen, hätte sie ihn keines zweiten Blickes gewürdigt.
»Dieselbe Sheila Benet, die Zeugin zweier Unfälle war? In der Damentoilette eines Nachtclubs und in einem französischen Café?«
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Azami wahrheitsgemäß. Selbstverständlich hatten ihre Computer nach gewissen Namen gesucht, die in Nachrichten oder Meldungen hätten auftauchen können. »Ich fand es interessant, dass sie an beiden Unfallorten anwesend war.«
Sams Daumenkuppe strich über die Innenseite ihres Handgelenks. Es war eine Liebkosung, bei der sie sich nicht sicher war, ob er sich ihrer bewusst war, doch ihr war sie nur allzu deutlich bewusst. Sie ließ sich selten durch etwas ablenken, doch diese kleine Bewegung sandte einen glühend heißen Schauer über ihren Rücken. Sie hätte ihm ihr Handgelenk entziehen sollen, denn sie konnte sich keine Ablenkung leisten, aber es gelang ihr nicht, sich dazu durchzuringen.
»Wir fanden das ebenfalls interessant«, sagte Ryland. »Wir glauben nicht, dass es sich auch nur bei einem dieser Todesfälle um einen Unfall handelte. Und es gab noch einen dritten – im Zusammenhang mit einem Autounfall, der ebenfalls suspekt ist.«
Sie blieb äußerlich völlig ruhig. »Ich muss mich Ihrem Verdacht anschließen. Da Ms. Benet daran beteiligt war, bin ich sicher, dass diese Personen in Whitneys Diensten standen. Alles andere wäre ein zu großer Zufall gewesen – obwohl schon seltsamere Dinge geschehen sind.«
Ryland sah ihr mit seinen stechenden stahlgrauen Augen forschend ins Gesicht, als wollte er ihr in die Seele blicken.
»Sie hatten nichts mit diesen Todesfällen zu tun?«, fragte er unumwunden.
Sie zuckte innerlich zusammen. Jetzt war es so weit. Wenn sie die Wahrheit sagte, konnten das dazu führen, dass sie verhaftet wurde. Wenn sie log … Nun ja, sie war nun mal keine Lügnerin. Sie riss ihre Augen weit auf, gestattete sich ein kleines Stirnrunzeln und legte ihren Kopf zurück, um ihm mitten ins Gesicht zu sehen. »Wie kommen Sie auf den Gedanken? Wie können Sie so etwas auch nur in Betracht ziehen?« Das waren berechtigte Fragen, und sie war einer wahrheitsgemäßen Antwort ausgewichen.
Falls Rylands Interesse groß genug war, um es zu überprüfen, was durchaus passieren könnte, würde er herausfinden, dass sie sich zum Zeitpunkt aller drei »Unfälle« in den Vereinigten Staaten aufgehalten hatte, aber bis er diese Tatsache ermittelt hatte, würde sie allen verfänglichen Fragen nach bestem Können ausweichen.
Ryland runzelte die Stirn und musterte ihr Gesicht. Sie wusste, dass sie unschuldig aussah. Diese Fähigkeit war eine ihrer besten Gaben, die sie von Natur aus besaß. Ihr Adoptivvater hatte ihr geholfen, sie zu perfektionieren. Ihr zierlicher Körperbau und ihr zartes Äußeres, das fast schon zerbrechlich wirkte, kamen ihr zugute. Die Leute unterschätzten ihre Fähigkeiten immer. Sie erweckte absichtlich den Anschein einer schüchternen, sittsamen Frau, die den größten Teil ihres Lebens im Haus verbrachte.
Diese Männer waren von Natur aus dominant und besaßen ausgeprägte Beschützerinstinkte. Sie waren leicht zu durchschauen. Sie unternahmen keinen Versuch zu verbergen, was und wer sie waren – Krieger, jeder einzelne von ihnen –, und doch hatten sie eine Schwäche für Frauen und Kinder. Für sie repräsentierten Frauen und Kinder das, wofür sie kämpften. Frauen und Kinder waren der Grund, weshalb sie für die Freiheit ihres Landes ihr Leben in Gefahr brachten: um sie zu schützen und für ihre Sicherheit zu sorgen. Dieses Credo hatten sie tief verinnerlicht. Als Samurai hatte sie gelernt, jeden Vorteil zu nutzen, und ihr unschuldiges Aussehen half ihr auf unerwartete Weise.
Ryland wandte seinen Kopf plötzlich ab und sah Sam in die Augen. »Verarscht sie uns auf der ganzen Linie? Oder ist sie vertrauenswürdig?«
Ihr Magen schlug einen unerwarteten Purzelbaum. Wenn in diesem Raum eine Person saß, die sie vollständig durchschaute, dann war das Sam. Ryland war sein Freund und der Anführer seiner Einheit, ein Mann, den Sam respektierte und dem er große Zuneigung entgegenbrachte. Azami musste ein Stöhnen unterdrücken. Sam würde Ryland nicht belügen, noch nicht einmal für sie, und wenn er es täte, könnte sie ihn nicht respektieren. In dieser Situation konnte sie so oder so nur verlieren.
Zum ersten Mal schlich sich echte Anspannung in sie ein. Sie zwang sich, normal zu atmen und so ruhig und gelassen zu wirken wie sonst auch. Diese kräftigen Finger, die an der Innenseite ihres Handgelenks über ihre Haut strichen, hielten in der Bewegung inne und legten sich wie eine Fessel um ihren Arm.
»Ich weiß, dass sie vertrauenswürdig ist, Ryland«, sagte Sam, ohne seine Stimme zu erheben.
Azami wagte es nicht, ihm einen Blick zuzuwerfen. Ihr Herz hatte begonnen, ganz seltsam zu schlagen, in einem Rhythmus, der ihr neu war. Sie verspürte den unerwarteten Drang, sich zu ihm hinüberzubeugen und ihm ihr Gesicht entgegenzuheben. Seine Stimme klang absolut aufrichtig. Seine schlichte Aussage bedeutete Ryland nichts, doch ihr bedeutete sie alles.
Einen Moment lang brannten ihre Augen und zwangen sie, ihre Wimpern zu senken. Ihr Vater hatte sich für sie eingesetzt. Ihre Brüder befanden sich in diesem Moment in einem anderen Raum und hörten zu, damit sie ihr zu Hilfe eilen konnten, falls es notwendig sein sollte, und zu dritt könnten sie eine Chance haben, sich den Weg freizukämpfen. Nie hatte jemand anders zu ihr gestanden, und Sam stand nicht nur zu ihr, er stellte sich vor sie. Er glaubte in einem Maß an sie, das ihn dazu brachte, zwar niemanden zu täuschen, aber doch von ihr abzulenken.
Ryland kannte Sam offenbar sehr gut. Diese stählernen Augen wurden schmaler. »Du bist mir eine verdammt große Hilfe, Springer. Wenn uns hier jemand verarscht, dann bist du es.«
»Ich sage die volle Wahrheit, Rye«, entgegnete Sam.
»Na klar. Was zum Teufel geht zwischen euch beiden vor?«
Sam zuckte die Achseln. »Ich habe die Absicht, ihre Brüder um Erlaubnis zu bitten, sie zu heiraten.«
Azami schnappte nach Luft, wandte ihm abrupt den Kopf zu und blickte zu ihm auf. Still für sie zu kämpfen war eine Sache, aber er stellte sich offen auf ihre Seite, und das war etwas ganz anderes.
Sams Finger schlossen sich fester um ihren Arm, und er sah Ryland fest ins Gesicht. »Azami ist ein Schattengänger. Sie ist eine von uns, und nicht nur das, sie ist die Richtige für mich. Ich will, dass ihr das von vornherein wisst. So sicher bin ich mir ihrer.«
»Und du glaubst nicht, es besteht die Möglichkeit, dass deine Gefühle für sie dich geblendet haben? Du bist ihr gerade erst begegnet. Meinst du nicht, es sei etwas zu schnell gegangen?«
Azami zuckte zusammen. Sie wusste, worauf Ryland anspielte – dass es Whitney irgendwie gelungen war, sie als ein Paar anzulegen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, um zu verhindern, dass ihr jemand ihre inneren Qualen ansah.
»Und wie hat sich das bei dir bewährt, Ryland?«, fragte Sam barsch. Er sah sich am Tisch um. »Bei jedem von euch, der verheiratet ist?« Er zog seine breiten Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. »Mir ist ziemlich egal, ob Whitney Azami und mich als ein Paar angelegt hat oder nicht – wobei ich nicht wüsste, wie ihm das gelungen sein könnte –, denn ich weiß, dass sie zu mir passt. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
Azami schüttelte den Kopf. Selbst wenn sie Sam noch so sehr für sich haben wollte, durfte sie nicht zulassen, dass er sich opferte. »Machen wir mal langsam. Es gibt noch etwas, was du wissen solltest, etwas, was relevant für das sein könnte, was du im Moment empfindest, Sam.«
»Ich brauche nicht mehr zu wissen, Azami«, beteuerte ihr Sam.
Wieder brannten Tränen in ihren Augen, und sie zwinkerte mehrfach rasch hintereinander. Die Kehle schnürte sich ihr einen Moment lang zu.
»Es mag ja sein, dass du nicht mehr zu wissen brauchst«, sagte Ryland. »Aber ich muss mehr hören. Sprechen Sie bitte weiter, Azami.«
Es war ein großes Zugeständnis, dass er sie wieder mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. In seiner Stimme hatte eine Warnung mitgeschwungen, die Sam galt. Sie legte ihre Hand auf seine, eine behutsame Vorsichtsmaßnahme unter dem Tisch. Sie wollte nicht, dass er sich Ärger mit seinem Team einhandelte, zumindest nicht, ehe er gehört hatte, was sie zu sagen hatte.
»Bisher scheint es so, als passten Whitneys Paare zusammen. Ich habe die Vermutung angestellt, das könnte vielleicht ein Teil seiner übersinnlichen Gabe sein, die er zweifellos besitzt. Diejenigen unter Ihnen, mit denen ich mich eingehender zu befassen versucht habe, scheinen einander großen Halt zu geben, aber keiner von Ihnen ist in eine Lage gebracht worden, die ihn hätte veranlassen können, etwas zu tun, was er nicht tun will.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Ryland.
»Angenommen, Sie hätten eine Entscheidung zwischen Ihrer Frau und Ihrem Sohn zu treffen.«
»Da gäbe es gar keine Frage. Meine Frau würde von mir erwarten, dass ich mich für meinen Sohn entscheide. Er ist ein Kind, das in seiner jetzigen Situation Hilfe und Unterweisung und Liebe braucht. Wenn sie plötzlich verrückt werden würde und ihn loswerden wollte, worauf Sie anzuspielen scheinen, dann würde ich selbstverständlich mein Kind beschützen.«
Azami versuchte nicht, ihre Erleichterung zu verbergen. »Violet Smythe-Freeman hat das nicht getan.«
»Sie hat ein Kind?« Ryland sah am Tisch in die Runde. »Sind Sie sicher?«
»Sie hat das Kind abgetrieben, weil Whitney es verlangt hat. Und sie hat Senator Freeman getötet. Der Termin für seine Operation war angesetzt worden. Sie hatten ihn ins Krankenhaus gebracht, um die Operation vorzunehmen, und Whitney hat darauf bestanden, Violet zu sehen. Sie haben sich auf einem kleinen privaten Flugplatz getroffen. Er war ein paar Stunden allein mit ihr in einem Hangar. In dem Hangar schien eine Art Feldlazarett aufgebaut zu sein, aber mein Informant konnte nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen. Als sie wieder herauskam, wirkte sie verändert, sehr unterwürfig gegenüber Whitney und doch kokett. Sie ist in ihr Flugzeug gestiegen und geradewegs zum Krankenhaus geflogen, hat dem Senator den Stecker rausgezogen und darauf bestanden, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.«
Ryland blickte finster. »Sie glauben, er hätte sie auf einen anderen Mann fixiert, und sie hätte augenblicklich den Senator und sein ungeborenes Kind getötet?«
»Senator Freeman besaß keine übersinnlichen Gaben. Sein Kind wäre für Whitney wertlos gewesen«, hob Azami hervor. »Violet ist in der politischen Arena fest verwurzelt. Sie ist intelligent und wirkt sympathisch, wenn auch etwas kalt. Die Kamera liebt sie, und es ist die Rede davon, sie könnte anstelle des Senators kandidieren. Eine weinende Witwe, die tapfer um ihren gehirntoten Ehemann gekämpft hat und unbedingt eine Möglichkeit finden wollte, ihn zu retten, würde sich vor der Kamera ganz bestimmt gut machen. Und ihre Stimme ist weiterentwickelt worden.«
»Mit wem wurde sie als Paar angelegt?«, fragte Ryland.
Azami schüttelte den Kopf. »Das weiß mein Informant nicht. Violet ist dazu herangezogen worden, einen politischen Posten in Washington zu besetzen. Whitney wollte sie im Weißen Haus haben. Der Senator hätte Vizepräsident werden sollen. Violet hätte weiterhin großen Einfluss gehabt. Falls sie nun auf einen Posten im Senat gewählt wird und ihre Loyalität Whitney gilt, können Sie sich vorstellen, wie er sie für seine Zwecke benutzen könnte?«
Ryland setzte sich aufrecht hin, als er begriff, worauf das hinauslief. »Sie glauben, Whitney hat Violet Freeman als Partnerin für sich selbst bestimmt.«