13.

Tränen brannten in Azamis Augen. Sie hatte nie geglaubt, dass sie jemals diese Form von Leidenschaft empfinden würde, diese Form von Liebe. Sie atmete schwer, in langen, abgehackten Zügen. Ihr Körper gehörte nicht mehr ihr, sondern Sam, und sie gab sich ihm bereitwillig hin, und doch erhob ein kleiner Teil von ihr weiterhin Protest. Sie war unnütz. Nichts wert. Er brachte sie ins Paradies und bot ihr etwas so Kostbares an, ein wahres Wunder, doch was konnte sie ihm dafür geben? Die Kehle schnürte sich ihr so sehr zu, dass sie zu ersticken drohte. Sie hätte ihm alles sagen sollen, doch aus Furcht, er würde sie ablehnen, hatte sie ihm entscheidende Informationen vorenthalten.

Ich bin Azami. Ich bin Samurai, die Tochter meines Vaters. Ich bin stark. Ich habe mich zu einem Wesen gemacht, das Sams würdig ist.

Thorn war verschwunden. Schon vor langer Zeit. Dieses unterernährte Kind mit dem grässlichen weißen Haar, so unnütz, dass es nicht einmal als Ratte in einem Labor benutzt werden konnte. Azami war diejenige, die jetzt von Sam ins Paradies geführt wurde. Azami war es, durch deren Körper all diese wunderbaren Gefühle wie Kometen zischten. Sie hatte nicht gewusst, dass es möglich war, so etwas zu fühlen. Jemanden zu wollen, bis man sich vorkam, als sei man fast wahnsinnig vor Verlangen. Die Berührungen eines anderen Menschen zu ersehnen. Sich unter ihm zu winden, Haut an Haut, und in seinen Augen Anerkennung zu sehen. Nicht einmal ihr geliebter Vater hatte geglaubt, sie könnte einen solchen Mann finden, und doch hatte sie ihn gefunden. Ein Schluchzen entrang sich ihr, und sie schob sich eine Hand in den Mund, um es zu unterdrücken.

»Was ist los, Kleines?«, fragte Sam leise und hob seinen Kopf, um sie anzusehen.

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Seine Stimme, die so unglaublich liebevoll klang, so zärtlich und sexy, war genau, wie die Stimme eines Mannes sein sollte. Wie konnte er so mit ihr reden? Wie konnte er sie so ansehen? Als wäre sie die einzige Frau auf Erden. Sie schüttelte den Kopf, und ein weiteres kleines Schluchzen entrang sich ihr und demütigte sie noch mehr. In jener furchtbaren Nacht, als Whitney sie wie Abfall auf die Straße hatte werfen lassen, hatte sie aufgehört zu weinen. Sie war nicht mehr dieses Mädchen. Dieses unnütze Kind. Sie war Azami Yoshiie, war Samurai. Aber wenn sie das war, warum hatte sie ihm dann nicht alles gesagt?

»Hör sofort auf damit.«

Sams Stimme verblüffte sie. Schockierte sie. Sein Tonfall war schroff und gebieterisch, und seine Augen waren nicht mehr liebevoll und verschlangen sie vor Gier, sondern jetzt drückte sich Autorität in seinem Blick aus.

Azami schüttelte den Kopf und entwand sich ihm. »Ich kann das nicht tun. Es tut mir leid, Sam.«

Es tat ihr wirklich leid. Für beide. Sie hatte etwas Unverzeihliches getan, als sie ihm gestattet hatte zu glauben, sie könnte sich an ihn binden und ein gemeinsames Leben mit ihm führen. Sie hatte es sich auch selbst eingeredet, doch sogar ihr Vater hatte die Wahrheit gekannt. Thorn war immer noch in ihr, dieses kleine, hässliche Kind, das niemals fortgehen würde. Sie war schon mit Defekten geboren worden und würde, ganz gleich, was sie tat, immer mit Makeln behaftet sein, unbrauchbar für einen Mann wie Sam. Er konnte es nur noch nicht erkennen, weil seine Verliebtheit ihn blendete. Sie hatte sich nicht dazu durchringen können, ihm die Dinge zu sagen, die zu wissen er verdient hatte, bevor er sie erwählte. Wo war ihr Ehrgefühl geblieben? Sie war ganz entschieden dieses armselige Kind.

Sam bewegte sich schneller, als sie es einem so großen, kräftigen Mann zugetraut hätte. Er zog sich hoch und kam über sie, packte ihre Handgelenke und presste sie zu beiden Seiten ihres Kopfs auf den Boden. Sein Gesicht war wie eine Maske, hart, schroff, kantig und mühsam beherrscht.

»Tu dir das nie mehr an, nie mehr, hast du gehört?«

Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, Sam in ihrem Inneren zu haben, dass sie gar nicht auf den Gedanken gekommen war, er könnte ihre Gedanken lesen.

»Thorn ist ebenso sehr wie Azami ein Teil von dir. Was ich beim Kampf mit dem Feind im Wald gesehen habe, war Thorns Mut. Es mag sein, dass es Azamis Können und ihre Geschicklichkeit waren, aber sie ist kein Ganzes ohne Thorn – ohne Thorns unbeirrbare Entschlossenheit und ihren Mut. Ich liebe Thorn. Du bist nämlich sie. In meinen Augen bist du ein verfluchtes Wunder, und im Moment hast du nichts Besseres zu tun, als mich stinksauer zu machen. Davon kann ich dir nur abraten, Azami.«

Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren, ein fürchterliches Unwetter der Gefühle, das sie jahrelang zurückgedrängt hatte, ein Leben lang. »Ich hasse sie. Ich hasse Thorn. Sie will einfach nicht fortgehen. Sie hat sich wie ein Fötus zusammengerollt, in meinem Inneren, und ganz gleich, was ich tue, sie geht nicht weg.«

»Sie ist du.«

»Hör auf, das zu sagen.« Sie versuchte, ihr Knie hochzuziehen und sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich bin die Tochter meines Vaters.«

»Hör auf, dich gegen mich zu wehren. Wenn wir unsere Kräfte messen, wirst du nicht gegen mich gewinnen, Kleines. Du wirst dir nur wehtun.«

Sie zischte und war froh, dass ihr lange unterdrücktes Temperament begann, sich gegen ihren Kummer und ihre Schande durchzusetzen. Sie brauchte Wut, um ihn von sich zu stoßen. Sie wollte sein geliebtes Gesicht berühren, um sich mit ihren Fingerspitzen jede Einzelheit einzuprägen. Dazu würde sie nie mehr Gelegenheit haben, wenn sie ihn erst einmal verließ. Fahnenflucht würde er niemals vergeben. Sie hatte seine Akte gelesen, den Verrat seiner Mutter. Er würde sie für alle Zeiten mit demselben Etikett versehen: mangelnde Loyalität.

»Hör auf«, fauchte er sie wieder an. »Ich bin in deinem Kopf. Hast du das vergessen? Dir fehlt es nicht an Loyalität. Du bist von Natur aus loyal. Du hast mich gewählt. Diese Wahl lässt sich nicht rückgängig machen. Wenn du reden willst, dann reden wir darüber, bis das Problem gelöst ist, aber du wirst mich nicht einfach nur deshalb von dir stoßen, weil es dir nicht ganz gelungen ist, deine Vergangenheit und deine Zukunft unter einen Hut zu bringen.«

»Ich habe keine Zukunft«, fauchte sie. »Du weigerst dich, das zu verstehen. Ich habe keine Zukunft, nicht mit dir. Mit keinem Mann. Ich bin kaputt. Die Schäden sind irreparabel. Ich wollte es nicht akzeptieren, aber …«

»Verdammt noch mal, Azami, diesen Blödsinn höre ich mir nicht an. An dir ist nichts kaputt.« Er rollte sich von ihr herunter, sprang auf und zog sie mit sich auf die Füße, alles in einem einzigen geschmeidigen Bewegungsablauf, doch er zuckte kurz zusammen, als seine Wunde protestierte.

Er raubte ihr den Atem mit seiner Geschmeidigkeit. Er bewegte sich wie kein anderer Mann, dem sie jemals begegnet war, noch nicht einmal in dem Dojo, in dem sie trainierte. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wohin sie ihre Kleidung gelegt hatte. In ihrem Kopf herrschte ein fürchterliches Chaos. Sie sah sich hilflos um.

»Woher kommt das?«, fragte Sam.

Er öffnete und schloss seine Faust, eine Geste, von der sie sicher war, dass sie ihm nicht bewusst war, doch seine Augen hatten sich von ihrem Gesicht auf ihren Körper gesenkt und glitten über ihn. Er sah nicht angewidert aus, eher zärtlich und liebevoll. Seine Erektion war nicht mehr ganz so hart, wie sie es gewesen war, aber sie war immer noch da, und er fühlte sich immer noch zu ihr hingezogen, obwohl … Obwohl was? Was tat sie hier überhaupt? Warum war sie entschlossen, ihn von sich zu stoßen? Ihr Glück wegzuwerfen?

»Ich brauche etwas zum Anziehen.« Ihm machte der Anblick ihres Körpers, des Beweises für ihre Schande, nichts aus, aber sie ertrug es nicht, dass er sie ansah, nicht jetzt, da sie von Panik erfasst war.

Sam sah sich im Zimmer um, fand ein Hemd für sie und warf es ihr zu, während er eine Jeans anzog und sie zur Hälfte zuknöpfte. Azami zog sein Hemd um ihren Körper, schloss hastig die Knöpfe, um sich zu bedecken, und stellte fest, dass sie in Sams Geruch eingehüllt war, der jetzt besonders tröstlich war.

»Azami.« Er flüsterte ihren Namen, und seine Stimme klang gequält. »Sprich mit mir, Kleines. Sprich es einfach laut aus. Gib uns eine Chance. Wir sind beide Kämpfer. Kämpfe für uns. Ist es so leicht, mich wegzuwerfen?«

Sie riss den Kopf hoch, und ihr wurde flau im Magen. War es das, was sie tat? Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um dich, Sam, es geht um mich. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ich weiß nicht, wie ich sie loswerden kann. Mein Vater hat gesagt …« Sie ließ ihren Satz unbeendet und schluckte ihre größte Schande.

Sie konnte ihn nicht ansehen, sie wagte es nicht. Sie war ein Feigling. Sie würde fortlaufen. Damit sie ihm den Rest nicht zu erzählen brauchte.

Sam trat einen Schritt vor, nahm ihr Kinn in die Hand und zwang sie, den Kopf zu heben. »Sag es mir, Azami. Hier ist sonst niemand, nur wir beide. Worum geht es?«

Sie holte tief Atem, hob ihre Wimpern und gestattete sich, ihm in die Augen zu sehen. Sie wusste, dass es ein Fehler sein würde. Sie konnte ihm nicht widerstehen, diesem Blick voller Zärtlichkeit nicht widerstehen. Er bot ihr eine Welt an, und ihr graute davor, sie zu betreten. Dort, wo sie war, kannte sie ihren Wert. Sie konnte es sich nicht leisten, sich jemals wieder unnütz zu fühlen, sich so vorzukommen wie Abfall, der es verdient hatte, weggeworfen zu werden.

»Sam, ich bin für so etwas nicht geschaffen. Du. Ich. Ich wollte es – ich will es immer noch –, aber sogar mein Vater war der Überzeugung, ich könnte keinem Mann gefallen.« Die Worte kamen überstürzt heraus, aber wenigstens kamen sie ihr über die Lippen. Die Wahrheit. Ihre Schande. Der Mann, den sie mehr als jeden anderen geliebt und respektiert hatte, hatte sie wissen lassen, dass sie zur Ehefrau und Mutter nicht taugte. Für sie gab es nur den Kampf, die Sicherheit ihrer Brüder, ihrer genialen Brüder, die sie beschützte. Ihr Vater hätte sie nicht belogen. Er hatte den Schaden gesehen, der an ihrem Körper angerichtet worden war, und er kannte das Herz und den Verstand von Männern.

»Du bist für mich geschaffen.«

»Vielleicht hast du jetzt das Gefühl, mich zu wollen, aber …«

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Du irrst dich so sehr, Azami. Du irrst dich in so vielen Dingen. Du irrst dich in deinem Vater. In deiner Vergangenheit. Und vor allem in mir.« Er senkte seinen Kopf und hauchte einen Kuss auf ihr Haar. »Warte hier. Rühr dich nicht vom Fleck. Das ist mein Ernst. Du wirst nicht aus dem Fenster springen und fortlaufen. Warte einfach hier.«

Er war fort, ehe sie protestieren konnte. Das Fenster wirkte tatsächlich einladend, aber ein ganz so großer Feigling war sie nun doch nicht, wenn sie es auch noch so gern gewesen wäre. Was wusste Sam über ihren Vater? Wie konnte er mehr wissen als sie? Er hatte totalen Unsinn geredet. Sie hätte seinen Befehl missachten sollen, aber sie hatte noch einen Rest von Stolz und weigerte sich, den Ausweg des Feiglings zu wählen. Sie blieb genau da stehen, wo er sie zurückgelassen hatte, als seien ihre Fußsohlen im Boden verwurzelt. Ihr Herz pochte heftig, und ihr Mund wurde trocken. Sogar ihre Handflächen fühlten sich klamm an.

Die Panik hatte sie voll im Griff. Sie hatte seit Jahren keine Panikattacke mehr gehabt. Als ihr Vater sie gefunden hatte, hatte sie ständig Panikattacken gehabt, aber ein Samurai geriet nicht in Panik. Seine Lunge brannte nicht, weil er keine Luft bekam, und er schlug nicht in seinem Inneren um sich, wo keiner es sehen konnte. Sie wünschte, Sam würde einfach fortgehen und sie die ganze Geschichte in Ruhe mit sich klären lassen. Sie brauchte dringend Platz. Distanz. Einen Zufluchtsort.

Den biete ich dir.

Er stand vor ihr, streckte seine Hand aus, mit der Handfläche nach oben, und seine dunklen Augen sahen ihr ins Gesicht. Sie musterte sein Gesicht, das so unbewegt war, als wäre es in Stein gemeißelt, wären seine Augen nicht gewesen, die so lebendig und so zärtlich waren. Dieser Mann stand vor ihr und bot ihr alles an, er bot ihr das Paradies an, und sie hatte es rundheraus abgelehnt, weil sie immer noch dieses weißhaarige Kind war, das ein brutales, unmenschliches Monster für unnütz erklärt hatte. Sie hatte ihren eigenen Ängsten erlaubt, über das zu siegen, was sie über Sam wusste. Er war ein Ehrenmann, und doch verletzte sie seine Ehre, indem sie ihm nicht zutraute, mit den Dingen umzugehen, die sie ihm sagen musste. Dabei war in Wahrheit Thorn diejenige, die nicht damit umgehen konnte.

»Es geht nicht um Whitney, Azami«, widersprach ihr Sam, der offenbar immer noch ihre Gedanken las. »Du spielst nicht Whitneys wegen mit dem Gedanken, mich abzuweisen, sondern weil du missverstanden hast, was dein Vater zu dir gesagt hat. Weil du an ein Monster geglaubt hast, weil darin deine einzige Möglichkeit bestand, dir alles zu erklären.«

Ihr Blick sank auf den Gegenstand auf Sams Handfläche. Ihr Herz schlug schneller. Die Arbeit ihres Vaters hätte sie überall erkannt. Er war so berühmt für seine kunstvoll gefertigten Schmuckstücke wie für seine Schwerter. Sie berührte den kleinen Ring nicht, sondern trat einen Schritt zurück, um zu Sam aufzublicken.

Sie brauchte einen Moment, um ihre Stimme zu finden. »Woher hast du diesen Ring?«

»Dein Bruder hat ihn mir gegeben. Er hat gesagt, dein Vater hätte ihn für den Mann angefertigt, der dich glücklich machen würde. Er wusste, dass dir der richtige Mann über den Weg laufen und restlos hingerissen von dir sein würde. Du machst es einem so einfach, dich zu wollen, Azami, so einfach, dich zu lieben, aber du lehnst immer noch ab, wer und was du bist. Du bist Thorn, dieses unglaublich tapfere Mädchen, das zu einer bemerkenswerten Frau herangewachsen ist. Sieh dir den Ring an, und sag mir, dass dein Vater in der wahren Azami nicht alles gesehen hat, was sie ist und wofür sie steht. Er hat Azami geliebt, weil sie Thorn ist.«

Sie wollte den Ring nicht ansehen. Sie wollte ihm ins Gesicht sehen. Diesem Mann, der selbst dann an sie glaubte, wenn sie vorübergehend in die Irre ging. Dieser Mann würde immer das kleine Kind finden, das in einer Ecke kauerte, und er würde das erbärmliche kleine Mädchen hochheben, es behüten und beschützen.

»Wie blind konnte ich bloß sein? Wie unbesonnen?«, murmelte sie verwundert.

»Dein Vater weiß, wie tapfer dieses Kind ist, er hat es immer gewusst. Er hat dich bei sich aufgenommen, weil er deinen Wert erkannt hat. Er hat ihn sogar in dem Moment gesehen, als du auf der Straße lagst. Er hat sein Leben in Gefahr gebracht, um dich diesen Männern zu entreißen. Das ist Thorn, Azami. Dieser Wagemut. Dieser Überlebenswille. Whitney konnte dich als Kind nicht brechen. Lass nicht zu, dass er dich jetzt als Frau bricht.«

Sie nahm den Ring immer noch nicht. Stattdessen sah sie den Mann an, der ihr das Geschenk ihres Vaters hinhielt. In Wirklichkeit war Sam das Geschenk. Die Sonne würde immer in seinen Augen aufgehen. Er würde immer der Mann sein, der sie so sah, wie sie war. Fast vom ersten Moment ihrer Begegnung an hatte er hinter ihre äußere Erscheinung geblickt und sie wirklich mit offenen Armen willkommen geheißen – den Menschen, der sie war. Sie hatte sich ihm gegenüber nicht so verhalten. Hätte sie sich sorgfältig in seinem Inneren umgesehen, dann hätte sie bedingungslose Zustimmung gesehen, aber sie war so sicher gewesen, dass er Thorn nicht wollen würde. Die kleine Thorn mit ihrem missgestalteten Körper, von einem Metzger zerlegt, mit ihrem sonderbaren weißen Haar, unnütz und wie Abfall weggeworfen.

Sam hatte sich ihr von dem Moment an, als sie innerlich miteinander in Verbindung getreten waren, rückhaltlos hingegeben, sich ihr ganz geöffnet. Er hatte nicht versucht, seine Loyalität gegenüber seinem Team vor ihr zu verbergen oder sein inneres Ringen, weil er wusste, dass er sein Team über sie informieren musste, sondern er war sich selbst treu geblieben. Er hatte sie sehen lassen, wer er war, wohingegen sie versucht hatte, sich vor ihm zu verbergen.

»Es tut mir leid, Sam. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich anscheinend nicht von Whitneys Einschätzung meiner Person freimachen kann.«

»Weil jedes Kind den Beifall seines Vaters will, und Whitney hat in der Praxis dessen Platz eingenommen«, sagte Sam.

Es war ihr verhasst, dass er die Wahrheit sagte. Sie hatte so lange Zeit niemand anderen als Whitney gehabt. »Er hat mich die meiste Zeit von den anderen Mädchen ferngehalten. Es gab ein Mädchen, das er ›Winter‹ genannt hat. Sie konnte mit nichts weiter als einer Berührung ein Herz davon abhalten zu schlagen. Er hat sie an mir üben lassen, und sie hat geweint und mir gesagt, wie leid es ihr tut. Sie hat versucht, mich zu beschützen, aber er hat sie bestraft, sich fürchterliche Strafen für sie ausgedacht, wenn sie nicht tut, was er sagt. Manchmal hat sie mir Essen zugesteckt, und einmal hat sie mir eine Decke gegeben. Whitney hat sie mir weggenommen, als er fand, ich sei böse.«

Sam schlang seine Hand um ihren Nacken. Seine Hand war groß, aber sie fühlte sich nicht etwa in einer Falle gefangen, sondern in Sicherheit.

»Ich sollte darüber hinweg sein, Sam. Ich bin eine erwachsene Frau.«

Er lachte leise. »Glaubst du wirklich, dass die Vergangenheit uns nicht formt, uns nicht zu denjenigen macht, die wir sind? Jeder hat seine schwachen Momente. Du hast nicht geglaubt, dass du jemals mit einem Mann zusammen sein könntest, der dich lieben würde, was mir übrigens überhaupt nicht einleuchtet. Deine Sicht deiner selbst ist durch die Dinge verzerrt, die dir als Kind von Whitney eingebläut wurden. Er hat sich geirrt, was deine Gaben angeht, Azami. Er hat total danebengelegen. Wenn er sich in dem Punkt getäuscht hat, dann kann er sich auch in anderen Dingen täuschen. Whitney macht Fehler. Und in Bezug auf dich hat er einen großen Fehler gemacht.«

»Er hat meinen Körper zerstört«, sagte Azami, und ihre Hände, die die Hemdschöße umklammerten, waren zu Fäusten geballt. »Ich spreche nicht nur von meinen äußerlichen Narben. Mein Herz wurde ebenfalls durch ihn zerstört.« Sie blickte zu ihm auf. »Es ist nicht normal.« Die Wahrheit würde herauskommen, ob sie es wollte oder nicht. Sie musste es ihm sagen. Das war nur gerecht, wenn sie sich ein Leben an seiner Seite wünschte. Keine Lügen zwischen ihnen, noch nicht einmal Unterlassungssünden.

Sam trat dichter vor sie. »Azami, glaubst du, das würde mich vertreiben? Ich will dich, genauso, wie du bist. Wenn dein Herz schwach ist, können wir …«

Sie presste die Lippen fest zusammen und schüttelte den Kopf. »Nicht schwach. Er dachte, ich würde an seinem Experiment sterben, aber ich bin nicht daran gestorben.« Sie würde es ihm sagen müssen. Wenn sie ihnen beiden gemeinsam wahrhaftig eine Chance geben wollte, dann musste er wissen, wie sehr Whitney sie zu einem Mutanten gemacht hatte.

»Was hat er dir angetan?«

Sie versuchte sich an einem Lächeln, doch sein Gesichtsausdruck sagte ihr deutlich, dass daraus nichts Rechtes geworden war. »Ich bin so etwas wie eine moderne Variante von Frankensteins Monster. Whitney hat seine kleinen Experimente geliebt. Als mein Herz durch all diese Experimente versagt hat, hat er beschlossen, ein synthetisches Herz herzustellen – eines, das sich als widerstandsfähiger erweisen würde als ein menschliches Herz. Nun ja, nicht wirklich synthetisch im normalen Sinne des Wortes. Ich war nicht der erste Mensch, an dem er es ausprobiert hat, und die anderen sind anscheinend gestorben. Ich war ein Kind, und das Herz, das er benutzt hat, hätte einen Erwachsenen mit Energie versorgen können. Mein Körper hat versucht, es abzustoßen, und er war nicht der Meinung, es sei die Sache wert, mich lange genug in seiner Nähe zu behalten, um zu sehen, ob das Herz funktionieren und mein Körper es schließlich annehmen würde.«

Sam zog die Stirn in Falten und musterte ihr Gesicht. Sie konnte fühlen, dass er sich durch ihren Geist bewegte. Es war wie eine weiche, warme Kraft, die ihr ein Gefühl von Sicherheit gab. Wenn er ihr Inneres so ausfüllte, wie er es jetzt tat, konnte sie sich unmöglich allein fühlen. In gewisser Weise war ihr das Gefühl fremd und doch schon vertraut. Er war ihr jetzt schon so sehr ans Herz gewachsen. Sie hatte das Gefühl, sie hätte ihn schon immer gekannt. Er wartete darauf, dass sie weitersprach, denn er wusste, dass es noch mehr zu sagen gab – das konnte noch nicht alles sein. Wie konnte sie sich mit einem synthetischen Herzen mittels Teleportation bewegen? Es wäre ausgeschlossen, dass die Moleküle sich aufspalteten und sich dann wieder zusammensetzten – es sei denn, sie bewegten sich beim Teleportieren tatsächlich schneller als Licht … Er schüttelte den Kopf und wartete.

»Was weißt du über Nanotechnologie?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe mich natürlich mit ihr befasst. Sie ist faszinierend und besitzt das Potenzial, die Welt in vieler Hinsicht zu verändern. Im Grunde genommen geht es darum, komplexe Funktionssysteme auf molekularer Ebene zu konstruieren.« Er unterbrach sich, denn ihm stockte plötzlich der Atem.

Sie nickte bedächtig. »Whitney ist wild auf Nanotechnologie. Er arbeitet daran, eine Methode zu perfektionieren, wie ein Gerät durch den Körper reisen und Krebszellen zerstören kann.«

»Aber er benutzt Menschen für seine Experimente.«

Sie nickte. »Ich habe die Unterlagen über eine Frau gelesen, die er vorsätzlich mehrfach mit Krebs infiziert hat.«

»Flame. Iris. Sie ist mit Gator verheiratet.«

Azamis dunkle Augen sahen ihn fest an. »Whitney sieht das als eine enorme Vergeudung an. Er glaubt, dass sie keine Kinder haben kann, und daher hat sie Gator in seinen Augen so gut wie unnütz gemacht – er dient ihm nur noch als Soldat, der den Tod anderer Soldaten verhindern kann. Im Grunde genommen hat er über dich dasselbe gesagt, Sam. Und du fühlst dich zu mir hingezogen.«

»Selbst wenn er mich auf dich fixiert haben könnte, nachdem du schon lange fort warst, wie hätte er dich auf mich fixieren können? Er kannte mich damals noch nicht. Er hatte keinen Zugang zu dir. Und du fühlst dich zu mir hingezogen, Azami, ganz gleich, was du sagst. Sowohl seelisch als auch körperlich ziehe ich dich an.«

Ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Das bestreite ich doch gar nicht, Sam. Ich versuche lediglich, dir den Gesamtzusammenhang bewusst zu machen, ehe du mit beiden Füßen und geschlossenen Augen zum Sprung ansetzt.«

»Willst du damit sagen, dass er dich mit Krebs infiziert hat?«

»Du weißt, was ich damit sagen will. Die Nanotechnologie kann sich nicht über die physikalischen Gesetze hinwegsetzen. In der Theorie besteht die Möglichkeit, einen Gegenstand Atom für Atom von der Stelle zu bewegen. Es ist machbar, ebenso wie Teleportation den physikalischen Gesetzen nicht widerspricht. Es werden schon heute Nanosysteme mit Tausenden von interaktiven Komponenten entwickelt, und Whitney geht einen Schritt weiter, indem er integrierte Systeme entwickelt, die wie unsere eigenen Zellen mit Systemen innerhalb von Systemen funktionieren.«

»Willst du damit sagen, er hat eine Möglichkeit gefunden, unter Verwendung eines Kohlenstoffnanoröhrengerüsts ein Herz zu konstruieren?« Sam versuchte, sich seine Aufregung nicht anhören zu lassen, aber wer hätte so etwas nicht aufregend gefunden? »Das ist unmöglich. Die Rekonstruktion von Knochen fängt gerade erst an, und Knochen sind linear. Kohlenstoffnanoröhren sind eindimensional. Niemand ist bisher dahintergekommen, wie man sie formt.« Er sah ihr fest in die Augen. »Oder doch?«

Sie antwortete ihm nicht, und seine Gedanken überschlugen sich angesichts der Möglichkeiten. Er schüttelte den Kopf und sprach seine Gedanken laut aus. »Man müsste die Probleme mit dem Giftgehalt und der Abstoßung lösen. Die zellulären und die azellulären Komponenten müssten außerhalb des Körpers gezüchtet werden, ehe das beschädigte Herz durch ein voll funktionsfähiges Nanoherz ersetzt werden kann. Wie zum Teufel ließe sich das vor der Transplantation machen?« Er packte ihre Arme. »Das wäre ein Wunder, Azami. Es kann nicht möglich sein. Wie zum Teufel könnte es Whitney gelingen, aus Kohlenstoffnanoröhren ein Herz zu konstruieren?«

»Ein solches Herz würde nur so funktionieren müssen wie ein menschliches Herz. Es müsste nicht unbedingt so geformt sein wie ein menschliches Herz«, hob Azami hervor.

»Richtig, aber das Herz muss immer noch die Funktion eines menschlichen Herzens erfüllen«, wandte Sam ein, »was der Form Grenzen setzt. Im Moment machen sich Wissenschaftler gerade die ersten Gedanken darüber, Kohlenstoffnanoröhren für Knochen zu verwenden, weil sie sie nicht formen können. Ein Herz kann nicht linear sein.«

»Nein, sogar ein Nanoherz würde einen Pumpzyklus durchlaufen müssen, der sauerstoffarmes Blut zur Lunge transportiert und das mit Sauerstoff angereicherte Blut wieder in den Körper hinauspumpt«, stimmte sie ihm zu.

»Genau.« Sam ließ sie nicht aus den Augen. Sie sagte ihm, sie hätte ein Nanoherz, und ihm ging diese Möglichkeit einfach nicht in den Kopf. »An diesem speziellen Aspekt der Funktion des Herzens lässt sich nicht wirklich etwas verändern, da der gesamte restliche Körper darauf aufgebaut ist.« Aber es war möglich. Jeder Wissenschaftler, der mit Nanotechnologie arbeitete, hatte seine eigene, ganz spezifische Zielsetzung im Sinne, und ein beschädigtes Herz zu ersetzen stand eindeutig auf dieser Liste. Niemand kam dahinter, wie man die Kohlenstoffnanoröhren formen konnte. Das Herz würde wesentlich robuster sein, wenn sämtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Wachstum und der Transplantation gelöst werden konnten. Whitney hatte jahrelang seine Experimente an der kleinen Thorn durchgeführt. Er hatte mit Sicherheit Zugang zu Zellen und allem anderen gehabt, was er von ihrem Körper brauchte. Aber bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass er getan hatte, was andere sich nur ausmalten?

»Wenn es ihm gelungen ist, dir ein Nanoherz zu geben, Azami, dann würde die Welt …«

»Kein anderer hat überlebt. Und die Welt würde mich genauso behandeln, wie er mich behandelt hat. Ich wäre eine Anomalie und ein Experiment.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und trat zurück, ihre Augen dunkel vor Schmerz. »Ich habe keine Ahnung, wie lange dieses Herz halten wird. Ich kann zu keinem Schulmediziner gehen, aus welchem Grund auch immer. Als was würden die Leute mich bezeichnen? Manche würden so weit gehen zu behaupten, ich sei kein Mensch.«

Sam trat dicht vor sie. »Hör mir zu, Azami. Was auch immer du bist: Wo auch immer du bist, da will ich auch sein. Solche Gelegenheiten bieten sich den Menschen nicht oft. Ich bin kein kleiner Junge mehr, und ich habe nie erwartet, einmal eine Frau zu finden, die mir derart am Herzen liegt.« Er richtete sich auf, ließ seine Hände sinken, lief ein paar Schritte auf und ab und blieb dann wieder vor ihr stehen. »Ich brauche nicht viel, Azami. Ich habe dieses Haus gebaut, weil ich ein Zuhause haben wollte. Aber so kam es mir nicht vor, ehe du hier warst. Ich will deinen Körper genauso, wie er ist, und was dein Herz angeht, schwöre ich dir, solange es schlägt, könntest du von mir aus das Herz eines Cyborg haben, und ich wäre trotzdem glücklich. Bleib bei mir. Zum Teufel mit Whitney und jedem anderen, der sich unserem Glück in den Weg stellen will. Wenn diese Türen sich schließen, sind nur noch wir beide da. Kein anderer.«

Sam nahm sie an beiden Händen, zog sie an seine Brust und drückte sie eng an sich. »Ich kann dich sehr glücklich machen. Ich weiß, dass ich es kann, ganz gleich, was erforderlich ist, ganz gleich, was du brauchst. Gib dich mir hin, gib dich mir ganz hin, Thorn, Azami, lass mich dich haben, die guten und die schlechten Seiten.«

»Sammy.« Sie flüsterte seinen Namen in die Stille der Nacht. Azamis Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Das künstliche Organ mochte zwar nicht durch und durch menschlich sein, doch das hielt sie nicht davon ab, sich in diesen Mann zu verlieben. Wie hätte sie ihn nicht lieben können? »Bist du ganz sicher, dass du mich wirklich haben willst? Hast du auch eine der Folgen bedacht, und zwar die: Wenn er mir ein solches Herz und die DNA eines Tieres gegeben hat, dass dann ein Kind von uns beiden … anders sein könnte?«

Sam sah ihr ins Gesicht. Da war sie, ihre wirkliche Angst. Ihre größte Befürchtung. Sie hatte ihm die Wahrheit über sich gesagt, und jetzt hatte sie ihm gerade das enthüllt, was sie angreifbarer machte als alles andere. Das war der Grund, weshalb sie glaubte, ihr Vater sei der Meinung gewesen, sie eignete sich nicht zur Ehefrau. Nicht die Narben. Nicht das weiße Haar. Ein Kind. Ihr Kind. Ihrer beider Kind.

»Verdammt noch mal, Azami«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Versuch bloß nicht noch mal, mich in der Form vor mir selbst zu beschützen. Herrgott, ich hätte einen Herzinfarkt bekommen können bei dem Gedanken, dass du mich verlässt.«

Und wie geschickt sie es angestellt hatte, ihm nichts davon zu zeigen, indem sie ihre wahre Furcht vor ihm verbarg und falsche Fährten legte. Sie fühlte sich angreifbar. Sie empfand all das, was sie ihm gesagt hatte. Aber selbst in der Summe genügten diese Dinge nicht, um sie die Flucht ergreifen zu lassen. Und er war auf dem besten Weg gewesen, sie ohne Schutz zu lieben. Er hatte nicht einmal an Verhütung gedacht. Schließlich hatte er die Absicht, sie so bald wie möglich zu heiraten, und das Kinderkriegen gehörte für ihn selbstverständlich dazu. Aber er hatte sie nicht gefragt. Er hatte nicht mit ihr darüber gesprochen.

Azami feuchtete ihre Lippen an und sah ihm immer noch ins Gesicht. »Jetzt bist du wütend.«

»Ja, allerdings, ich bin verdammt wütend. Auf mich. Auf mich selbst, weil ich so beschränkt war, noch nicht mal über Kinder oder Verhütung mit dir zu reden.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah in ihr gerötetes Gesicht. »Wie kommst du auf den Gedanken, du könnest keine Kinder bekommen?«

Sie holte tief Atem und stieß ihn wieder aus. »Whitney hat gesagt, ich sei unnütz, ein Abfallprodukt. Was will er mehr als alles andere, Sam? Kinder. Superbabys. Er hat alle möglichen Experimente an mir durchgeführt, und dann hat er sich meiner entledigt. Liegt die Schlussfolgerung nicht auf der Hand, dass er glaubt, ich könnte entweder kein Kind bekommen oder es würde mit Defekten geboren?«

Sam machte den Mund auf, um zu protestieren, doch gleich darauf schloss er ihn wieder, bevor ihm etwas herausrutschen konnte. Für sie war das von großer Bedeutung. Von gewaltiger Bedeutung. Whitney hatte ihre Selbsteinschätzung geprägt, das Bild, das sie von sich selbst hatte. Er hatte in ihren Entwicklungsjahren die Vaterrolle für sie gespielt, in diesen entscheidenden, prägenden Jahren, und er hatte sie behandelt, als sei sie kein Mensch. Er hatte ihr jede Selbstachtung genommen, ihr Selbstwertgefühl als Mensch. Einer Frau, oder zumindest Azami, bedeutete es offenbar viel, ein Kind zu bekommen.

Er holte tief Atem, stieß ihn wieder aus und unterdrückte die Wut, die in seinen Eingeweiden brodelte. Wut auf Whitney, dieses Ungeheuer, das ein Kind entmenschlichte, damit er es für seine Experimente benutzen konnte, und noch mehr Wut auf sich selbst, weil er sie unerbittlich gedrängt hatte, nachdem sie seinen Körper in eine einzige wandelnde Erektion verwandelt hatte, statt ihr die Zeit zu lassen, die sie brauchte. Jetzt musste er die Situation unbedingt entschärfen, damit sie sich beide beruhigen und sachliche Überlegungen anstellen konnten. Für Azami war das Thema offensichtlich nicht nur von großer Bedeutung, sondern auch stark emotional befrachtet und beängstigend. Er dagegen war sexuell frustriert und kam sich gleichzeitig wie ein absolut selbstsüchtiger Idiot vor.

»Lass uns bei einer Tasse Tee darüber reden. Mein Tee wird bestimmt nicht besonders gut werden, aber du kannst es mir beibringen. Ich würde gern lernen, wie ich eine Tasse guten Tee für dich zubereiten kann.«

»Es wäre auch dein Baby«, sagte sie. »Für dich sollte das auch ein wichtiges Thema sein. Du lässt dich so bereitwillig mit mir ein, und dabei bist du dir noch nicht einmal vollständig über die Risiken im Klaren.« Sie senkte den Kopf. »Ich hätte dir sofort alles sagen müssen, sowie ich wusste, dass du es ernst meinst.«

Er hatte das Richtige gesagt. Die Anspannung wich aus ihrem Gesicht, und der Ausdruck von Verzweiflung und Verletzlichkeit war verschwunden. An ihren Worten war etwas dran. Das Baby würde seins sein. Sein Kind. Er hatte einfach angenommen, über Kinder bräuchten sie sich keine Gedanken zu machen, denn obwohl er Kinder haben wollte, würde sie für ihn immer an oberster Stelle stehen. Wenn sie keine Kinder bekommen konnte oder keine wollte, dann sollte ihm das auch recht sein. Er führte sie aus dem Raum, in dem die Verbindung ihrer Gerüche durch das Öl potenziert wurde und nahezu überwältigend war. Er konnte selbst eine vorübergehende Erleichterung gebrauchen.

Er wollte den Umstand nicht genießen, dass sie hier bei ihm war, ein leises Rascheln von Seide, das sich durch das Haus bewegte, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte, doch er konnte nicht leugnen, dass allein schon das Wissen, dass sie bei ihm war, ob sie nun miteinander stritten oder nicht, ihm großes Vergnügen bereitete. Er fühlte, wie sich ihre Finger in die hintere Tasche seiner Jeans schoben, als sie ihm durch den Flur in die geräumige Küche folgte. Er drehte sich nicht um, doch seine aufgewühlten Eingeweide beruhigten sich ein wenig. Zumindest wollte sie den Körperkontakt zwischen ihnen weiterhin bestehen lassen. Sie hatte den Gedanken nicht ganz aufgegeben, dass sie ihr Leben miteinander verbringen würden.

Sowie sie in der Küche waren, füllte er den Kessel und stellte ihn auf den Herd, ehe er sich zu ihr umdrehte. »Ich habe nicht den besten Tee, nur ein paar Teebeutel. Ich trinke nicht allzu oft Tee.« Genauer gesagt, nie, aber ab und zu kamen Ryland und Lily zu Besuch, und er hatte gern Tee für Lily im Haus.

»Ich habe Tee mitgebracht«, gestand sie. »Ich bringe immer meinen eigenen Tee mit, ganz gleich, wohin ich gehe.« Sie verschwand in dem großen Wohnzimmer, wo sie eine kleine Tasche mit ihren Habseligkeiten abgestellt hatte.

Es begeisterte ihn zu sehen, wie sie sich durch sein Haus bewegte und dabei ihren Duft verströmte. Er verspürte einen enormen Drang, ihr diese Nadeln aus dem Haar zu ziehen, damit es natürlich um ihre Schultern fiel, das Hemd von ihren Schultern zu ziehen und sie auf den Küchentisch zu setzen. Der Nachtisch würde besonders lecker sein.

Sammy!

Er lachte, von Freude überflutet. Sie nannte ihn Sammy. Wenn das nichts war! Und es klang nicht etwa wütend, sondern eher so, als lachte sie. Er hatte seine Gedanken wohl etwas zu laut gesendet. Wenigstens konnte sie nicht daran zweifeln, dass er sie attraktiv fand.

»Es gefällt mir, dass du an alles gedacht hast«, sagte er, als sie wieder in die Küche kam. »Es tut mir leid, dass ich nicht an Verhütung gedacht habe, Azami. Ich hätte daran denken sollen.«

Ihre Wimpern flatterten. Verdammt noch mal. Er liebte ihre Wimpern, und allein schon diese kleine Bewegung ließ Glut durch seinen Körper schießen. Es brauchte nicht viel, um ihn in ihrer Gegenwart in Fahrt zu bringen.

»Bring mir bei, den Tee so zuzubereiten, wie du ihn magst.«

Sie lächelte. »Es geht nicht darum, den Tee zu mögen, Sam. Es geht um die Zubereitung. Man muss ganz bei der Sache sein. Eine Schale Tee, die man für einen anderen Menschen zubereitet, kommt von Herzen. Jede Bewegung ist klar definiert, und sogar beim Tischdecken dreht es sich um die Person, für die man den Tee zubereitet. Man muss seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Zubereitung verwenden.«

»Zeig es mir.« Er folgte ihr, als sie zur Anrichte ging, und entschied sich, ihr etwas näher als nötig zu kommen und so dicht hinter ihr stehen zu bleiben, dass sie sich eine Spur bedrängt fühlte und er jeden ihrer Atemzüge wahrnehmen konnte. Er senkte seine Stimme und brachte seine Lippen dicht an ihr Ohr. »Zeig mir, wie du deine gesamte Aufmerksamkeit auf die Zubereitung verwendest. Was tätest du, wenn du Tee für mich zubereiten würdest?«

»Tee für dich zu Hause, wenn wir allein miteinander sind, ist ein ganz privater Tee. Ich habe nur wenige Dinge dabei, um unseren Tee zu etwas Besonderem zu machen, aber er wird von ganzem Herzen kommen.«

Sie sah über ihre Schulter, die Schulter, über die er sich beugte, um ihn durch ihre langen Wimpern anzusehen. Sein Herz reagierte augenblicklich – und sein Körper auch. Elektrizität knisterte zwischen ihnen, kleine Funken, die von seiner Haut auf ihre übersprangen und wieder zurück.

»Ich habe dir mein Herz geschenkt, Sammy. Was den Rest von mir angeht, weiß ich es noch nicht; wir müssen erst miteinander reden, aber mein Herz besitzt du bereits, voll und ganz. Es ist alles mein Fehler, nicht deiner. Es freut mich, dass du mich so sehr willst. Es gibt mir das Gefühl – schön zu sein. Ich habe mich noch nie schön gefühlt. Damit hast du mir ein großes Geschenk gemacht.«

Ihre Lippen waren kaum zwei Zentimeter von seinen entfernt, und er wäre ein Narr, wenn er diese Versuchung ignorierte. Niemand hatte ihn jemals als einen Narren bezeichnet. Er umfasste ihren Hinterkopf mit seiner Hand und senkte seinen Mund, um sie zu küssen. Sie schmeckte himmlisch. Sein Hemd war lang genug, um ihr bis auf die Knie zu reichen und sie angemessen zu bedecken, aber sie trug nichts darunter, und er war mittlerweile mit ihrem Körper vertraut. Er hatte beinah jeden Quadratzentimeter ihrer Haut gekostet.

Sam küsste sie immer wieder, verlor sich in ihr und stillte sein Verlangen, da er befürchtete, er bekäme vielleicht nie mehr eine Gelegenheit, sie davon zu überzeugen, dass sie bei ihm bleiben sollte. Er wollte sie – nein, er brauchte sie. Er war vollkommen zufrieden gewesen, bis die innere Verbindung zwischen ihnen entstanden war und sie sich in ihn verströmt hatte. Sie war durch und durch Samurai. Bis die Türen geschlossen wurden und sie allein miteinander waren, und dann war sie ganz und gar Frau – seine Frau.

Als er den Kopf hob, glänzten ihre Augen. Sie sah ihn mit diesem geheimnisvollen kleinen Lächeln an, das seinen Magen dazu brachte, einen langsamen Salto zu schlagen.

»Setz dich hin, Sam, und lass mich das in Ruhe tun. Ich werde es dir ein anderes Mal zeigen, wenn ich alles bei mir habe, was ich brauche.«

Ihm gefiel der Gedanke, dass es ein anderes Mal geben würde, und daher erhob er keine Einwände. Er zog mit den Zehen einen Stuhl vom Tisch heran, setzte sich mit der Lehne zwischen den gespreizten Beinen hin, stützte sein Kinn auf der Rückenlehne auf seine Hände und sah ihr gebannt zu.

Sie stellte mit einer leichten Verbeugung eine kleine Holzkiste auf den Tisch und öffnete sie nahezu ehrfürchtig. In der Kiste war Teegeschirr und -zubehör, das vorwiegend aus Keramik oder Bambus bestand. Er konnte erkennen, dass die Utensilien ziemlich alt und sehr schön waren. Jede ihrer Bewegungen war exakt und anmutig, als sie sie unter fließendem Wasser abspülte und sie auf einem verzierten kleinen Tablett ausbreitete, das Lily ihm geschenkt hatte, als sein Haus fertig geworden war. Es machte ihm Spaß, ihre anmutigen Bewegungen zu beobachten. Sie strahlte eine natürliche Ruhe aus, doch er wusste aus Erfahrung, dass viele Krieger oft still und leise waren, aber eine ausgeprägte Fähigkeit besaßen, von einem Moment auf den anderen schlagartig aktiv zu werden.

Sie spülte mit der gleichen Sorgfalt die beiden Teeschalen, und die fließenden Bewegungen ihrer Hände hypnotisierten ihn fast. Mit einer kleinen Bambuskelle schöpfte sie pulverisierten grünen Tee in jede der Schalen. Sie goss das Wasser aus dem Kessel hinzu und machte sich daran, den Tee mit einem Bambusquirl zu rühren, bis er leicht schaumig wirkte. Mit größter Behutsamkeit setzte sie die Schale vor ihm ab und stellte einen kleinen Keramikteller mit zwei Süßigkeiten daneben.

Sie verbeugte sich leicht, als sie ihm die Süßigkeiten servierte. »Der Tee ist bitter, und die Süßigkeiten werden den Geschmack ausgleichen.«

»Das sind sehr schöne Schalen.«

»Sie gehörten dem Vater meines Vaters. Das ist mein Teegeschirr für Reisen. Es ist sehr alt, und ich versuche immer, ihm Ehre zu erweisen, selbst dann, wenn ich nicht alles, was nötig wäre, habe.«

»Du wirst mir sagen müssen, was wir brauchen«, sagte Sam möglichst beiläufig. Es konnte nicht schaden, daran zu glauben, dass sie sein Leben mit ihm verbringen würde.

Ihr Blick richtete sich abrupt auf sein Gesicht. »Es gibt viele Probleme, Sam. Es geht nicht nur darum, ob wir ein Kind haben können oder nicht und ob es normal wäre oder nicht. Das weißt du doch auch. Was ist mit meinen Brüdern? Wer wird sie beschützen? Diese Pflicht obliegt mir.«

Sam trank von dem Tee, um Zeit zu gewinnen. Er war schon oft in Japan gewesen und an den bitteren grünen Tee gewöhnt. Er fand Trost in dem Zeremoniell selbst und in den anmutigen Handbewegungen bei der Zubereitung des Getränks.

»Deine Brüder haben beide ihre Zustimmung zu unserer Verbindung gegeben. Es hat nichts mit ihnen zu tun. Wir können ihnen hier ein Labor bauen oder Lilys Laboratorium weiter ausbauen. Du kannst auf ihren Reisen mit ihnen fliegen. Du weißt, dass es hier nicht um deine Brüder geht. Es geht um unser Kind und um dein Herz.«

»Und um den Strang tierischer DNA, den Whitney mir eingepflanzt hat. Meine Brüder haben eingehende Labortests für mich durchgeführt. Ich habe eine beträchtliche Dosis Katze in mir. Das erlaubt es mir, schneller zu laufen, höher zu springen und leichtfüßig zu landen. Das ist unabhängig von der Teleportation, Sam. Er wusste nie etwas davon.«

»Hmm«, murmelte er. Ihm fiel auf, dass das Maß ihrer Bedrängnis wieder zunahm. »Ich habe diesen DNA-Strang auch in mir. Er hat ihn bei etlichen Schattengängern verwendet, Azami. Er war der Überzeugung, das erlaubte uns, bessere Soldaten zu werden.«

»Und was würde das bei einem Kind bewirken?«

»Du hast Daniel gesehen. Daniel ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe, weshalb du eingewilligt hast, überhaupt erst hierherzukommen«, vermutete Sam.

»Aber nicht, weil ich mit dem Gedanken gespielt habe, ein Kind zu bekommen. Ich wollte mich absichern, dass seine Mutter nicht so ist wie sein Großvater. Wenn sie an ihm experimentiert hätte und ihr alle davon gewusst hättet …« Sie ließ ihren Satz abreißen.

Er musterte ihr Gesicht und sah dort heitere Gelassenheit. »Als ihr hergekommen seid, du und deine Brüder, wart ihr darauf vorbereitet, uns auszulöschen und den Jungen an euch zu bringen.«

»Wenn es notwendig gewesen wäre. Er soll niemals eine Kindheit erleben, wie ich sie erlebt habe.«

»Wenigstens stehen wir in dem Punkt alle auf derselben Seite. Daniel wird sehr geliebt und bestens betreut. Jeder Mann und jede Frau auf diesem sowie auf dem benachbarten Anwesen würde ihn unter Einsatz des eigenen Lebens beschützen.«

Sie nickte zustimmend. »Und Lily ist eine sehr gute Mutter. Sie ist eine grandiose Wissenschaftlerin, aber sie hat Respekt vor dem Leben.«

Sam lehnte sich zurück, und seine Hand schloss sich so fest um seine Stuhllehne, dass die Knöchel beinah weiß wurden. »Willst du Kinder, Azami?«

Sie wurde eine Spur blasser. Er kam sich vor, als hätte er ihr ebenso gut einen Hieb in die Magengrube versetzen können. Jegliche Luft schien aus ihrer Lunge zu strömen, und sie wirkte derart verletzlich, dass er gegen das Verlangen ankämpfen musste, den Stuhl zur Seite zu treten und sie in seine Arme zu ziehen. Er war nicht annähernd so zivilisiert wie sie.

»Ich habe das nie als eine Möglichkeit angesehen, Sam«, antwortete sie mit gesenkter Stimme. Sie trank von ihrem Tee und ließ sich Zeit. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich einen Mann finden würde, den ich respektieren und lieben könnte, ganz zu schweigen davon, dass er mich attraktiv finden könnte. Die Frage nach Kindern hat sich nie gestellt. Und dann bin ich dir begegnet – und Daniel.« Sie senkte den Kopf. »Er ist ganz erstaunlich, findest du nicht auch? Ich habe ihn in dieser Nacht in den Schlaf gewiegt.«

Ihre Stimme klang jetzt zart und verträumt. Er konnte sie sich mit ihrer beider Kind in den Armen vorstellen. Sie würde ihr Kind glühend lieben und es leidenschaftlich beschützen.

»Glaubst du, dein Herz könnte eine Schwangerschaft aushalten? Ich würde das Kind ja für dich austragen, Honey, aber ich bin einfach nicht richtig dafür gebaut.« Er meinte es sogar ernst. Wenn sie ein Kind haben wollte, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich denke, es würde es aushalten. Schließlich verkraftet mein Herz, dass ich Teleportation einsetze, und daher kann ich mir nicht vorstellen, dass es bloß deshalb aufgäbe, weil ich ein Kind austrage, aber da wir beide einen Strang Katzen-DNA haben und beide Teleportation nutzen können, könnten wir uns echten Ärger einhandeln.«

»Jack Norton hat Zwillinge, Azami, wunderbare Babys, und er hat ebenfalls einen Strang Katzen-DNA. Whitney scheint Großkatzen sehr zu mögen.«

»Ich habe versucht herauszufinden, ob Lily an den Auswirkungen auf unsere Kinder arbeitet«, gestand Azami, »aber falls sie es tut, betreibt sie ihre Forschungen mit äußerster Vorsicht.«

»Sowie es etwas mit Daniel oder einem der anderen Babys zu tun hat, wäre sie extrem vorsichtig.« Ihre diesbezüglichen Forschungen hielt sie unter Verschluss und aus jedem Computer heraus, in den sich Whitney auf irgendeine Weise einhacken könnte, aber es bestand keine Veranlassung, Azami darüber zu informieren. Noch nicht. Sie schloss sich ihnen entweder an – als eine von ihnen –, oder sie würde fortgehen.

Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Mit meinem seltsamen Herzen und diesen verrückten DNA-Strängen bin ich die am wenigsten Menschliche von euch allen, aber wenn du mich wirklich haben willst und wenn du glaubst, dass du mich lieben kannst, und wenn du bereit bist, ein Risiko mit mir einzugehen, dann möchte ich mit dir zusammen sein, Sam.«

»Bereit, ein Risiko mit dir einzugehen? Dich zu lieben? Dich zu wollen? Kannst du das auch nur irgendwie bezweifeln?« Sam sprang schnell auf und trat den Stuhl aus dem Weg, um freie Bahn zu ihr zu haben.