6.
Thorn hielt Sams Hand und strich ihm das Haar aus dem Gesicht, als der Hubschrauber näher kam. Sie litt innere Qualen, und ihre Anspannung wuchs, als der Hubschrauben landete und die Insassen ausstiegen. Mehrere Männer liefen los, um ein Zelt aufzubauen, während zwei weitere Männer und eine Frau auf sie zukamen. Sie ließ Sam los und erhob sich langsam, wobei sie sich jeder Waffe bewusst war, die sie an ihrem Körper trug, die meisten jetzt verborgen. Ein Mann trug eine Krankentrage, während der andere mit freien Händen neben ihm herlief und seinen Blick nicht auf Sam gerichtet hatte, sondern auf sie.
Ihr war flau im Magen, doch ihre Nerven hielten stand. Dieser Mann war zu ihrer Bewachung abgestellt. Er war groß, robust gebaut, hatte kastanienrotes Haar, und es war nahezu unmöglich, ihn zu ignorieren. Erst war Sams Warnung gekommen, und dann hatte Ryland Miller ihnen allen zweifellos gesagt, sie sollten sie sorgfältig im Auge behalten. Sie wusste ja, wie das lief. Sie würden ihr mit Höflichkeit und einem freundlichen Lächeln begegnen, aber auch mit kalten, wachsamen Augen, und sie würde auf Schritt und Tritt überwacht werden. Jeder einzelne dieser Männer war ein Schattengänger, und Schattengänger erkannten ihresgleichen. Als sie den Entschluss gefasst hatte, sich in ihr Lager zu begeben, hatte sie gewusst, dass sie sich damit in Gefahr brachte, aber das Endergebnis – ihre Chancen, Whitneys Aufenthaltsort herauszufinden, beträchtlich zu erhöhen – war die Sache wert. Ihr kurzer Ausflug ins Reich der Fantasie – sich vorzumachen, sie könnte Sam tatsächlich haben – war vorbei, und ihre allzu vertraute Realität war zurückgekehrt.
Lily Miller eilte an Sams Seite und nickte ihr mit einem höflichen Murmeln zu, doch ihre gesamte Konzentration war auf Sam gerichtet. Thorn achtete darauf, dass sie ihren Dolch weiterhin griffbereit hatte. Wenn Lilys Maßnahmen Sam Johnson das Leben kosteten, würde Lily ihm sofort in den Tod folgen, ganz gleich, welche Konsequenzen das hatte. Thorn bereitete jeden Schritt in Gedanken vor. Sie würde Lily rasch töten und durch den Einsatz von Teleportation auf die Lichtung zurückkehren, auf die Sam und sie gleich zu Beginn gesprungen waren, und dann würde sie verschwinden. Das Schattengängerteam würde den Heimvorteil haben, aber sie setzte nicht nur großes Vertrauen in sich selbst, sondern auch in Daiki und Eiji. Die beiden mochten zwar weder genetisch weiterentwickelt sein noch übersinnliche Fähigkeiten besitzen, aber sie waren unglaublich geschickt, und sie würden niemals in Panik geraten.
Thorn behielt Lily im Auge, während der rothaarige Schattengänger sie im Auge behielt. Lily reichte Thorn mit einem kuren Nicken etliche Beutel mit Flüssigkeiten.
»Nun mach schon, Sam«, murmelte Lily leise. »Dass du mir bloß durchhältst. Gib mir noch zwei Minuten Zeit. Nur zwei, mehr nicht. Das ist alles, was ich brauche.« Noch während sie ihm im Flüsterton gut zuredete, versuchte sie, ihm eine Nadel in den Arm zu stecken, und runzelte die Stirn, als die Vene, die sie erwischen wollte, sich ihr zu entziehen schien.
Der große, kräftige Soldat kniete sich auf die andere Seite des Patienten, und sein Gesicht war starr vor Sorge, als er Sams Arm für Lily stillhielt. Er bestand nur aus Muskeln, und doch verriet sein Gesicht Spuren von echter Zuneigung und Gefühle von der Sorte, die ein Mann wie er bestimmt nur zeigte, wenn Furcht an ihm nagte. Er sah sie mit einem raschen, beruhigenden Lächeln an, obwohl er selbst sehr besorgt war.
»Tucker Addison, Ma’am. Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen.« Er hatte große Angst um Sam – sie alle hatten Angst um ihn. Das erschreckte Thorn noch mehr. Sie hätte schon viel eher merken müssen, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Sie neigte ihren Kopf. »Azami Yoshiie.« Sam hatte für die wiederholte Teleportation von hier nach dort viel zu viel Energie verbraucht. Sie wusste aus Erfahrung, wie schwierig das für den Körper war, und doch hatte er es in verwundetem Zustand getan, ohne mit der Wimper zu zucken. War es möglich, dass der Einsatz von Teleportation die Wunde in seinem Körper verschlimmert hatte?
Lily war viel leichter zu durchschauen als der Mann. Sams Zustand bereitete ihr so große Sorgen, dass sie keine Zeit für irgendjemand oder irgendetwas anderes hatte – noch nicht einmal für einen potenziellen Feind oder einen Ehrengast. Ihre Sorge galt ausschließlich Sam. Thorn fühlte, wie die Anspannung in ihrem Körper ein klein wenig nachließ. Es war ausgeschlossen, die Form von Angst zu heucheln, die Lily an den Tag legte.
Lily fand die Vene in Sams Arm. Mit einer Schnelligkeit und Effizienz, die Thorn unwillkürlich bewunderte, verband sie erst einen Tropf damit und dann einen zweiten. Thorn hatte kaum ein zweites Mal Luft geholt, als auch schon Blut und andere Flüssigkeiten in Sam hineinströmten.
»Wird er durchkommen, Doc?«
Thorn kniff ihre Augen zusammen und richtete ihren Blick auf den Sprecher, den Mann, der nun Sam zu Häupten stand.
Lily blickte finster. »Selbstverständlich, Kyle, alles andere werde ich nicht zulassen. Ihr könnt ihn jetzt gefahrlos in das Zelt bringen.«
Sie warf einen Blick auf Thorn, als nähme sie ihr Gegenüber jetzt erst wirklich zur Kenntnis. Thorn wurde klar, dass Lily in ihr bisher kaum mehr als ein Möbel gesehen hatte, auf dem sie ihre Utensilien abstellen konnte, während sie sich um ihren Patienten kümmerte.
»Ms. Yoshiie.« Lily neigte ihren Kopf leicht, um Respekt zu bekunden. »Es tut mir leid, dass wir uns unter derart extremen Umständen kennenlernen. Wir müssen Sam in das Zelt bringen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die hier zu tragen?« Sie hielt ihr die Beutel mit den Flüssigkeiten hin. »Ich muss meine Hände frei haben.«
Thorn schüttelte den Kopf und ging sofort auf Lily zu, um ihr die Beutel abzunehmen. Ein anderer Mann eilte hinzu, um Tucker dabei zu helfen, Sam auf die Trage zu heben. Dann bewegten sie sich mitsamt der Trage schnell auf das Zelt zu. Lily rannte neben ihnen her. Thorns Gefühl, die Zeit drängte, lebte mit überraschender Heftigkeit wieder auf. Lily hatte es für gefahrlos erklärt, Sam zu transportieren, aber wenn sie rannten, war er noch nicht aus dem Gröbsten heraus.
Thorns Mund wurde trocken, und ihr Herz begann heftig zu pochen. Die Narben an ihrem Körper pulsierten und brannten. Blut rauschte in ihren Ohren. Sie feuchtete ihre Lippen an. »Werden Sie ihn gleich hier operieren?«
In einem Zelt? Im Freien? Ohne Narkose? Einen entsetzlichen Moment lang war sie wieder sechs Jahre alt und außer sich vor Schmerz und Furcht. Sie rannte neben der Trage her, und ihr Blick ließ sich nicht mehr auf den Boden oder irgendetwas um sie herum fokussieren. Sie konnte ein Kind so laut schreien hören, schrill und animalisch, dass sie nichts mehr scharf erkennen konnte. Die Wirklichkeit zog sich zurück, bis sie nur noch diese gedämpfte, sorgsam modulierte Stimme mit der perfekten Aussprache hören konnte, die ihr nachts Schauer über den Rücken jagte und ihr Furcht davor einflößte, die Augen zu schließen.
Denk an den Beitrag, den du für die Wissenschaft leistest, Thorn. Whitney sagte das so, als sollte sie dankbar dafür sein, dass er sie ohne Narkose operierte, und weil sie ein Kind und noch dazu, wie er meinte, eines mit einem ziemlich niedrigen Intelligenzquotienten war, hielt er es für notwendig, überdeutlich und langsam zu sprechen, damit sie ihn verstand. Wenn wir das hinter uns gebracht haben, werde ich viel genauer wissen, wie viel Schmerz ein Schattengänger aushalten kann, ohne sich bereitwillig dem Tod zu ergeben. Du sollest dankbar dafür sein, dass du so vielen anderen helfen kannst.
Whitney stand mit einem Skalpell angriffsbereit, unerschütterlich und mit einem vollkommen normalen und sehr interessierten Gesichtsausdruck über ihrem sich windenden Körper.
Bitte. Die flehentliche Stimme des Kindes. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und ihrem Körper, und der Raum war vom Geruch ihrer entsetzlichen Angst durchdrungen. Das haben Sie doch schon getan.
Selbstverständlich, Thorn. Dieselbe sanfte, normale Stimme. Wir müssen dieses Experiment noch viele Male wiederholen, damit wir uns der Tatsachen sicher sein können. Ich habe es dir doch schon erklärt. Du bist alt genug, um zu verstehen, was von dir erwartet wird. Lieg still, und diesmal will ich, dass du dich darauf konzentrierst, deinem Herzen nicht zu erlauben, dass es stehen bleibt. Das kannst du doch tun, nicht wahr?
Thorn presste ihre Hand auf ihr ungestüm pochendes Herz. Sie fühlte sich so übel zugerichtet, dass sie kaum atmen konnte. Es waren die Nachwirkungen dessen, dass Whitney sie immer wieder ins Leben zurückgeholt hatte. Manchmal erwachte sie mitten in der Nacht von dem Geräusch des Überwachungsmonitors, der einen Herzstillstand anzeigte, und dem Echo des Defibrillators, das durch ihren Körper jagte.
Ihre Hand glitt näher zu ihrem Dolch, und sie beschleunigte ihre Schritte, um Lily einzuholen und so dicht hinter ihr herzulaufen, dass sie sie töten und sich unter den aufmerksamen Blicken ihres Wächters davonstehlen konnte, der sie keinen Moment aus den Augen ließ. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht zurück und ließ zu, dass die Sorge sich auf ihren Zügen zeigte, als sie auf Sam hinunterblickte. Ihr Moment würde kommen, wenn sie das Zelt betrat. Ihr Wächter würde noch draußen sein. Sie würde die Klinge tief hineinstoßen und sie drehen müssen und sich dann per Teleportation durch die schmale Zeltöffnung auf die Lichtung bewegen, die sie schon einmal benutzt hatte.
Thorn riskierte einen Blick in das Zelt. Es war viel größer, als sie anfangs geglaubt hatte. Im Eingangsbereich blieben sie alle abrupt stehen. Hinter einem Netz konnte sie zwei Männer sehen, die hastig zugedeckte sterile Tabletts mit chirurgischen Instrumenten aufstellten. Sie bekam keine Luft, ihre Lunge brannte, und ihr Gesichtsfeld trübte sich, bis … Augen starrten auf das kleine Kind hinunter, und Masken bedeckten die untere Hälfte der Gesichter. Er. Whitney. Die Ruhe in Person. Er schüttelte den Kopf darüber, wie unvernünftig und stur sie war.
Hole tief Atem, Thorn. Genau wie im Pool. Das ist auch nichts anderes. Diesmal musst du deine Zeit vom letzten Mal überbieten. Du kannst deine Sache viel besser machen, wenn du dich ein bisschen anstrengst. Diese unerschütterliche, normale Stimme, durch nichts aus der Fassung zu bringen, die Augen immer so klar und von leidenschaftslosem Interesse erfüllt. Langsam ließen sie die transparente Plastikfolie herunter, die ihr jegliche Luft vorenthalten würde. Ihr Herzschlag toste durch den kalten, sterilen Raum. Ihr Brustkorb schmerzte höllisch, weil sie unzählige Prellungen davongetragen hatte. Ihr Kopf war rasiert worden, weil Whitney der Meinung war, ihr Haar wäre bei seinem Experiment störend, und außerdem musste er Elektroden auf ihrer Kopfhaut anbringen.
Sie war Lily so nah, dass sie den Rhythmus ihres Atems fühlen konnte, als sie den kleinen Vorbereitungsbereich betraten, der noch nicht mit Netzen als Operationsraum abgeteilt war. Sie schluckte schwer und bracht mit Mühe hervor: »Sie haben Betäubungsmittel hier?«
»Ich gehe nicht das Risiko ein, ihn zu verlieren. Wir operieren an Ort und Stelle. Falls es eine Arterie erwischt hat, steckt er in Schwierigkeiten. Wir haben alles, was wir brauchen, hier im Zelt.« Lily klang so, als sei sie abgelenkt. »Selbstverständlich auch Narkosemittel.«
Beide Männer jenseits des Netzvorhangs trugen OP-Kleidung und sogar Schuhüberzieher. Tucker und sein Gefährte reichten den beiden die Trage, Lily nahm Thorn die Beutel mit den Flüssigkeiten ab und legte sie neben Sam, und schon wurde er auf den sterilen Operationstisch im Hauptbereich des Zelts befördert. Thorn zog ihre Finger von dem Dolch zurück, denn da die Erinnerungen so nah waren, befürchtete sie, sie könnte einen Fehler machen.
Lily schrubbte sich die Hände und die Arme mit einer Art Lösung aus einer Flasche und streckte ihre Arme aus. Tucker desinfizierte seine eigenen Hände, bevor er Lily in die OP-Handschuhe und die vollständige OP-Kleidung half.
Es war deutlich zu erkennen, dass der Aufbau einer chirurgischen Einrichtung vor Ort schon oft geübt worden war. Tucker, Lily und die anderen waren so effizient und so flink, dass es sich nicht um eine einmalige Angelegenheit handeln konnte: der Aufbau des Zelts, alles gebrauchsfertig in sterilen Verpackungen und sogar, wie reibungslos Tucker Lily in ihre OP-Kleidung gesteckt hatte. Jetzt bedeckte er ihr Haar mit einer Netzkappe.
Der Boden wankte unter Thorns Füßen, denn die Erinnerungen brachen so schnell über sie herein, dass sie ihnen nicht Einhalt gebieten konnte. Whitney ging auf den Tisch zu, und dieses kleine Kind wusste – wusste ganz genau –, was als Nächstes kommen würde. Du bist jetzt sieben. Du bist kein Baby mehr, also hör auf, dich wie eines zu benehmen. Ich habe deine endlosen Koller satt. Saber hat dein Herz schon viele Male angehalten, und es hat dir nichts ausgemacht. Das hier ist dasselbe.
Nein, das ist es nicht. Es ist nicht dasselbe. Es tut weh. Elektroschocks. Der entsetzliche Schmerz, der ihren Körper durchzuckte und sie die Zähne so fest zusammenbeißen ließ, dass sie sich manchmal selbst biss. Sie versuchte, es ihm zu sagen, aber Whitney ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Er verlor nie die Beherrschung. Und er hörte niemals auf.
Die Wissenschaft ist wichtig, Thorn. Es ist notwendig, sich abzusichern, dass jedes Experiment zu zuverlässigen Ergebnissen führt.
Thorn konnte die Kleine schreien hören, schon fast bewusstlos, und ihr Körper und ihr Herz waren jetzt derart geschwächt, dass der Tag kommen würde – das wusste sie –, an dem er sie nicht würde wiederbeleben können, und sie wünschte, dieser Tag käme bald. Es musste aufhören. Sie hatte belauscht, wie er zu einem seiner Assistenten gesagt hatte, ihr Herz sei schon sehr geschwächt und demnächst würde der Schaden zu groß sein, um die Experimente fortzusetzen. Dann würde sie ihnen nicht mehr von Nutzen sein.
»Ms. Yoshiie?« Tucker wies nach draußen. »Begleiten Sie mich, bitte.«
Thorn stellte fest, dass sie nicht von Sams Seite weichen wollte, was völlig unsinnig war. Sein Leben lag in Lilys Händen, und Thorns Anwesenheit würde sich nicht im Geringsten darauf auswirken, ob er überlebte oder starb. Sie wollte trotzdem nicht fortgehen. Ihr Widerwille bereitete ihr Sorgen, weil er tief saß und schon fast elementar war. Sie kniff die Lippen zusammen und war dankbar für die Lehren ihres Vaters. Ihr Gesicht wirkte gefasst, sogar heiter und ruhig. Nicht einmal ihre Hände zitterten, obwohl sie fürchtete, den Verstand zu verlieren, und sie sich wie zerschlagen fühlte. Ihre Kindheit war ihr viel zu gegenwärtig. Sie schüttelte den Kopf, ohne sich etwas daraus zu machen, was er dachte. Sie würde nicht fortgehen, noch nicht. Ihre Knie waren ohnehin so weich, dass sie keineswegs sicher war, ob sie überhaupt gehen konnte.
Vater. Die Kleine rief nach dem Mann, der ihr Halt gegeben hatte, der sie für würdig befunden hatte, gerettet zu werden. Hilf mir. Ich bin wieder verloren. Hilf mir. Aber er war nicht mehr am Leben, um ihren Ruf zu hören, nicht einmal, wenn sie aus voller Kehle schrie. Sie war allein und stand ohne einen Beschützer da.
Sie hörte das Echo ihres achtjährigen Herzens immer noch in ihren Ohren, diese dumpfen Schläge, die ihren Rhythmus verloren hatten, als sie in der Kiste lag, ihre Nägel in den Deckel grub und sie sich abbrach, da sie versuchte, aus dieser Enge herauszukommen. War sie lebendig begraben worden? Nein, sie konnte Stimmen hören. Ihr war so lange Zeit kalt, eiskalt, und es war ihr nahezu unmöglich zu atmen. Sie erstickte in dieser engen Kiste, auf der Seite zusammengerollt, und wollte unbedingt wissen, ob sie jemals wieder herauskäme.
Dunkelheit. Eine Autofahrt mit Fremden durch eine fremde Stadt. Der Wagen war langsamer gefahren, ihre Tür wurde geöffnet, und sie wurde hinausgestoßen und fiel so fest auf den Boden, dass sie sicher war, jeder Knochen in ihrem Körper sei zerschmettert. Sie hatte Angst davor, den Kopf zu heben und sich umzusehen. Der Gestank nach Abfällen und Urin war durchdringend. Kleine rote Augen glühten in der Dunkelheit. Sie hatte nie die Einrichtung verlassen, in der Whitney seine Experimente durchführte, und dieser Ort hier war beinah noch erschreckender.
Sie hörte schwere Schritte und atmete einen überwältigenden süßen Geruch ein, der ihr Grauen verstärkte. Sie kniff ihre Augen fest zu. Jemand stieß ihr die Spitze eines Stiefels in die Rippen. Harte Hände glitten über ihren Körper, und der Mann sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Ein Mann lachte. Sie roch den anderen – den Mann, den sie als ihren Vater kennenlernen würde. Den Mann, der sie gerettet hatte. An diesen wunderbaren Duft würde sie sich immer erinnern.
Er traf lautlos ein, wie ein Racheengel, samt Schwert und feurigen Augen, so lebendig, so warm, und er gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme, aber auch das Gefühl, etwas wert zu sein. Und jetzt war er nicht mehr da. Vater. Ich bin in diesem Albtraum verloren, ich habe mich darin verirrt. Ich kann die Tür nicht schließen. Wo bist du?
Die Gefahr bei dieser Mission waren immer diese albtraumhaften Erinnerungen gewesen, die oft lebhafter waren als die Realität. Daiki hatte sie davor gewarnt, dass ihre Erinnerungen an die Oberfläche kommen und versuchen würden, sie zu verschlingen, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie eine solche Kraft besitzen würden, und auch nicht damit, dass bloße Erinnerungen körperliche Auswirkungen auf sie haben könnten. Sie wollte ihre Arme eng um ihre Taille schlingen und vollkommen stillhalten, bis das Erdbeben vorüberging.
Azami?
Thorn wich zurück und sah sich panisch um. Ihr Name war sanft und undeutlich artikuliert in ihrem Inneren erklungen. Ihr Vater? War er von den Toten zurückgekehrt? Sie versuchte, den Klang mit der unverwechselbaren Stimme ihres Vaters in Übereinstimmung zu bringen. Der Akzent stimmte nicht. Ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, ihren Namen so klingen zu lassen, als hätte ihr Vater Kontakt zu ihr aufgenommen, um sie zu trösten – der Akzent stimmte einfach nicht.
Der Soldat namens Tucker stand nicht weit von ihr entfernt und ließ sie nicht aus den Augen, und die Neugier in seinem Blick sagte ihr, dass ihre Miene nicht so heiter und gelassen war wie sonst. Rechts neben ihr lungerte der rothaarige Soldat herum, von dem sie sicher war, dass er zu ihrem Wächter ernannt worden war. Sie war auf dem besten Wege, vor den Augen dieser Menschen den Realitätsbezug zu verlieren. Sie würde sich blamieren, sich für alle Zeiten Schande machen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, solche Dinge zu bewältigen. Ihr Geist und ihr Körper konnten voneinander getrennt werden, wenn es nötig war. Sie würde ihren Vater entehren, wenn sie sich nicht schleunigst wieder zusammenriss.
»Ms. Yoshiie?« Tucker kam einen Schritt näher.
Der Geruch nach Blut war überwältigend. Es fiel ihr schwer zu atmen, aber sie brachte sich dazu, ruhig dazustehen. »Nennen Sie mich bitte Azami.« Gott sei Dank zitterte ihre Stimme nicht so wie ihr Inneres. Sie spürte, wie Schweiß durch den Spalt zwischen ihren Brüsten rann. »Meine Brüder und ich haben uns eine eher westliche Einstellung angeeignet. Es kränkt mich nicht, wenn Sie mich mit meinem Vornamen ansprechen.«
»In dem Fall bin ich Tucker, Ma’am«, erwiderte der große Mann.
Wie Sam war auch er dunkelhäutig und hatte braune Augen. Er sah aus wie ein Mann von der Sorte, die man bei einem Kampf gern als Rückendeckung gehabt hätte. Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht ganz. Obwohl er weder wachsam noch argwöhnisch wirkte, wusste sie, dass er genauso sehr auf der Hut war wie der Soldat im Hintergrund. Und keine Spur weniger aufmerksam und reaktionsbereit als sie.
Thorn brauchte ein paar Minuten für sich allein, um die Erinnerungen an das Entsetzen des Kindes in ihren Hinterkopf zurückzudrängen. Sie warf einen Blick in das Zelt und wusste, sowie sie es getan hatte, dass es ein Fehler gewesen war. Sam war von hellen Lichtern angestrahlt. Sie konnte Blut riechen und ein blutiges Skalpell in Lilys Hand sehen, deren Handschuh mit Blut überzogen war. Die Lichter blendeten Thorn, bis sie nichts anderes mehr sehen konnte als diese furchtbar scharfe Klinge, die auf ihren Brustkorb zukam, ihre Haut, Muskeln und Gewebe durchtrennte und nach ihrem Herzen grub.
Ihr war kalt, schrecklich kalt. Eis war in ihre Adern eingedrungen. Wohin sie auch sah, brannte das Licht in ihren Augen und verlieh den maskierten Gestalten, die sich über sie beugten, monströse Gesichtszüge. Der Arzt mit seinen kalten Reptilienaugen griff nach einem Instrument aus schimmerndem Metall mit zwei Griffen, die in der Mitte durch eine quer verlaufende Arretiervorrichtung miteinander verbunden waren.
Du hast nichts zu befürchten, Thorn. Das ist einfach nur ein Instrument, um deine Knochen zu spreizen und an dein geschwächtes Herz zu kommen. Du willst doch sicher, dass ich den Schaden behebe.
Er bewegte die Spreizschaufeln näher zusammen und beugte sich über sie. Sie unterdrückte einen Schrei und brach von Kopf bis Fuß in Schweiß aus, und ihr Herz hämmerte so laut, dass das Echo durch diesen kalten, sterilen Raum hallte.
Azami. Die Stimme war jetzt noch verschliffener. Eine männliche Stimme, die dem Kind, dem es graute, beschwichtigend über den Kopf strich. Wärme durchströmte all diese furchtbare, eisige Kälte.
Thorn erstarrte und presste sich den Handrücken auf den Mund. Vater? O Gott, sie verlor wahrhaftig den Verstand. Sie konnte sich nicht zurückziehen, und es gab kein Versteck, in dem sie sich verkriechen konnte, um allein zu sein, um sich zusammenzureißen und diese Erinnerungen wieder hinter die Stahltür in ihrem Inneren zu stoßen, die sie stets verschlossen hielt.
»Was ist los mit dir, Kyle?«, fuhr Lily ihn an, autoritär und gebieterisch. »Sorg dafür, dass er bewusstlos bleibt. Glaubst du etwa, ich könnte das tun, wenn er bei Bewusstsein ist? Er wird einen tödlichen Schock erleiden, wenn er nicht an dem Blutverlust stirbt.«
»Er wehrt sich dagegen«, antwortete eine Männerstimme. »Ich schwöre es, ich habe Angst, ihm noch mehr zu geben. Dann kommt er vielleicht nicht wieder zu sich. Er sträubt sich gegen die Narkose. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Patient so reagiert.«
Durch die Netzvorhänge sah Thorn, wie Lily sich über Sam beugte. »Wehr dich nicht dagegen, Sam. Schlaf ein, und lass dich von mir behandeln. Leiste mir keinen Widerstand.«
Azami.
Jetzt hörte sie ihn wieder, ihren Namen. Aber es war Sam, nicht ihr Vater, der sie rief. Es war Sam, der noch mit ihrem Inneren in Verbindung stand und ihre Kindheitserinnerungen las. Die Erinnerungen dieses Kindes, das für ein teuflisches, grausames, qualvolles Experiment nach dem anderen missbraucht worden war. Ihr Körper war aufgeschlitzt worden, im Allgemeinen ohne Betäubung, damit der Arzt ihre Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten, exakt einschätzen konnte. So viele Experimente, beginnend mit dem Sauerstoffentzug. Er hatte sie gezwungen, in einem kalten Schwimmbecken unter Wasser zu bleiben, um zu sehen, wie lange sie es aushielt und ob sie ins Leben zurückgeholt werden konnte. Die genetischen Weiterentwicklungen, die Whitney für vollständige Fehlschläge hielt. Die Manipulation ihrer DNA. Und er hatte die anderen Mädchen gezwungen, ihre Gaben gegen sie einzusetzen, um ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen.
Ich werde nicht zulassen, dass du meine Erfolgsquote drückst, Thorn. Du bist eine solche Enttäuschung für mich, und dabei habe ich dir so viele Gelegenheiten gegeben – viel mehr als allen anderen.
Selbst wenn sie sich die Ohren zuhielt, würde sie diese Stimme niemals davon abhalten, ihr zu sagen, dass ihr Gehirn nutzlos für ihn war, er aber wenigstens ihren Körper sezieren und sie untersuchen konnte, um zu vermeiden, dass er unabsichtlich weitere unbrauchbare Subjekte wie sie erschuf. Wenn sie sich gut benähme und kooperativ sei, könnte er neue Medikamente und Eingriffe an ihr testen, ehe er sie an seinen wertvolleren Versuchspersonen ausprobierte.
Er hatte sie viele Male ohne Betäubung operiert, um die Fähigkeit des Körpers, Schmerz zu ertragen, bevor er aufgab, genauer einschätzen zu können. Ebenso oft hatte er ihr Herz angehalten und es wieder in Gang gesetzt. Dadurch war ihr Herz so sehr geschwächt worden, dass Whitney der Meinung gewesen war, sie würde ohnehin sterben, und daher hatte er sich ihrer schließlich entledigt – sie an einer der schlimmsten Straßen im Rotlichtviertel, wo Menschenhändler einem ihre Sklaven aufdrängten, in eine dunkle Gasse werfen lassen.
Sam wusste zu viel. Er wusste, wer sie war. Wenn sie Whitneys Stimme durch ihren Körper hallen hören konnte, dann konnte auch er sie hören. Sie hatte ihm ihr Inneres geöffnet, und er kam bis in die grausigsten Details an ihre Erinnerungen heran. Sie schluckte schwer, und ihre Haut überzog sich mit Schweißperlen. Als sie sämtliche Risiken eingeschätzt hatte, die es für sie mit sich brachte, sich auf das Gelände der Schattengänger zu begeben, war sie nicht ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen, jemand würde in ihr Inneres gelangen und dort die Schande ihrer Kindheit entdecken, diese entsetzlichen Jahre der Quälerei und der Verwundbarkeit.
»Du wirst ihm mehr geben müssen. Sonst verliere ich ihn.« Diesmal war Verzweiflung aus Lilys Stimme herauszuhören.
»Er dreht den Kopf, Lily, damit er sie …« Die Stimme verklang.
Als Thorn aufblickte, sahen sowohl Lily als auch der andere Mann in ihre Richtung, da Sam selbst in seinem nahezu bewusstlosen Zustand langsam seinen Kopf drehte und sie seiner Blickrichtung folgten. Sie wussten, dass er sie ansah. Um sie vor ihr zu warnen? Das würden sie wahrscheinlich denken, aber in Wirklichkeit versuchte er, Kontakt zu ihr aufzunehmen, um ihr zu helfen. Er war genauso selbstlos, wie ihr Vater es gewesen war.
Mamoru Yoshiie tauchte aus der Dunkelheit auf, ein kleiner, beinah schmächtiger Mann in einem grauen Kimono und einer Hose mit weiten Hosenbeinen, Zehensocken und Sandalen. Hinter ihm folgten zwei kleine Jungen, der eine dreizehn, der andere zehn.
Yoshiie hatte über ihr gestanden und mit einem Kopfschütteln die kleine Gruppe von zwielichtigen Schlägertypen angeschaut, die sich in der Nähe zusammendrängte, um zu sehen, was er mit ihr tun würde. Später hatte sie erfahren, dass es sich bei den Gangstern um Angehörige der gefürchteten Yakuza handelte, die in diesem Teil der Stadt für das Sexgewerbe und den Drogenhandel zuständig waren. Sie verbeugten sich leicht vor Yoshiie und wichen langsam zurück, als er sich bückte, um das Mädchen hochzuheben.
Thorn hatte solche Angst gehabt. Sie war winzig und wog für den älteren Mann nicht mehr als eine Feder. Er sah ihr fest in die Augen, und Frieden senkte sich herab. Dieses Gefühl hatte sie nie wieder bei jemandem gehabt – bis sie Sam begegnet war.
Sie schloss die Augen. Sie sollte Sam loslassen. Sie sollte froh sein, dass ihm das Bewusstsein entglitt. In ihrem Brustkorb hämmerte ihr Herz. Die Narben brannten wie Feuer. Das kleine Mädchen wollte einfach nicht aufhören zu schreien. Sogar ihre Fingernägel taten weh, denn bei ihrem Versuch, aus der kleinen Kiste herauszukommen, in die sie sie auf der Rückreise nach Japan gestopft hatten, waren sie tief eingerissen.
Sie zwang sich zu atmen. Sie konnte Sam nicht sterben lassen, noch nicht einmal, um ihr eigenes Leben zu retten. Es konnte durchaus sein, dass sie keine Chance haben würde, aber Sam Johnson musste weiterleben, denn ohne ihn wäre die Welt deutlich ärmer. Sie schloss sich Dr. Whitneys Einschätzung, dass er nichts wert war, nicht an. Sie würde ihn nicht wegwerfen, nicht nachdem sie in seinem Inneren gewesen war und wusste, dass er alles Gold auf Erden wert war. Ihr Vater hätte ihn niemals weggeworfen. Ebenso, wie er Daiki und Eiji und seine geliebte Tochter Azami gerettet hatte, hätte er auch Sam aus jeder Gefahr herausgeholt und ihn so großgezogen, dass er wusste, wie er auf sich selbst aufpasste.
Tu es nicht, Sam. Nicht für mich. Es ist lange her. Lass dich von ihnen behandeln. Schlaf einfach ein.
Ich kann solchen Schmerz in dir fühlen.
Sie holte Luft und ließ tief in ihr Inneres Ruhe einkehren.
Seine Stimme überflutete sie und brachte ihr Wärme, doch sie fühlte diese entsetzliche Einsamkeit, die in seinem Tonfall widerhallte. Leider wusste sie, wie ihm zumute war. Er war in ihr gewesen, all diese Glut und Kraft, und als er fort war, war ihr bewusst geworden, wie allein sie viel zu viele Jahre lang gewesen war. Sie wusste nicht, wie es jemals möglich sein würde, ihn in ihr Leben zu integrieren – nicht, wenn ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zu beenden, was sie in Angriff genommen hatte –, aber wenn er am Leben blieb, bestand immerhin noch eine Chance. Und auf jeden Fall brauchte die Welt einen Mann wie Sam Johnson, der voller Mitgefühl und Kraft und Pflichtbewusstsein war.
Verlass mich nicht. Bitte, lass zu, dass sie dich ärztlich versorgen. Sie konnte den flehentlichen Tonfall, der sich in ihre Stimme eingeschlichen hatte, nicht ganz unterdrücken. Sam rüttelte sie auf. Er berührte sie in ihrem Inneren. Er ging ihr nahe, was nur die wenigsten Dinge – oder Menschen – taten. Sie fühlte sich so ungeschützt, entblößt und verletzlich wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie wachte weit mehr über ihre Gefühle als über ihren Körper. Sie vertraute nur wenigen Menschen. Sie hatte Jahre gebraucht, um ihrem Vater und ihren Brüdern vollständig zu vertrauen, und doch hatte sie sich Sam vorbehaltlos geöffnet.
Verlass mich nicht. Für eine Frau wie Thorn war das der Inbegriff von Schwäche. Sie senkte den Kopf und achtete sorgsam darauf, sich nicht das Geringste ansehen zu lassen.
Wärme glitt in ihr Inneres, füllte die kalten Räume aus und stieß die schwere Tür zu ihren Kindheitserinnerungen zu. Er rettete sie sogar noch, während ihm das Bewusstsein entglitt, und bewahrte ihr damit die Zurechnungsfähigkeit. Sie atmete weiterhin ein und aus und brachte das grässliche innere Zittern dazu, sich zu legen. Whitney war fort. Das galt auch für seine Stimme und für seine Augen, die sie angestarrt hatten. Sie war am Leben, und sie war mit sich im Reinen.
Sam. Sie flüsterte seinen Namen in ihrem Kopf. Sie war ihm dankbar, und sie hatte Angst um ihn.
»Lass ihn los«, rief Lily, und in ihrer Stimme schwang Furcht mit. Sie klang beinah verzweifelt.
Sie wussten es. Jetzt wussten sie alle Bescheid über sie. Thorns Blick richtete sich abrupt auf Tuckers Gesicht. Sie zwang sich zu einem weiteren beruhigenden Atemzug. Sie wussten, dass sie telepathisch begabt war, aber das hieß nicht, dass sie über ihre Kindheit Bescheid wussten.
Konnte sie Sam loslassen? Sie begab sich in seinen Kopf. Er kämpfte eindeutig gegen die Narkose an, um ihretwillen. Weil sie derart aufgelöst war und er sich Sorgen um sie machte. Sie beschwichtigte ihn, beteuerte ihm, dass sie zurechtkam, und brachte ihn subtil dahin, die Narkose zu akzeptieren. Sie konnte exakt den Moment bestimmen, in dem er nachgab, abdriftete und ihr entglitt, sodass sie die qualvolle Trennung spürte und von Neuem ganz und gar allein war.
»Danke«, rief Lily mit gedämpfter Stimme.
»Hauptsache, Sie retten ihn«, sagte Thorn laut genug, dass die Ärztin sie hören konnte. Sie zwang sich, weiterhin durchzuatmen. Heitere Gelassenheit an den Tag zu legen, sich total ruhig und gefasst zu geben. Denn sie behielten sie alle im Auge, jetzt sogar noch aufmerksamer.
Diesmal ergriff sie die Initiative, das Operationszelt zu verlassen. Sie bekam dort drinnen keine Luft mehr. Tucker und der rothaarige Mann folgten ihr hinaus. Sie schaffte es mit weichen Knien bis zu den Bäumen. Dort blieb sie stehen, lehnte sich an einen robusten Stamm und holte tief Luft.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte Tucker.
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. »Selbstverständlich bin ich bewaffnet. Ich bin Daiki Yoshiies Leibwächterin. Er hat mehr Morddrohungen bekommen als Ihr Präsident. Ich habe alle erforderlichen Genehmigungen, um Waffen zu tragen, sogar in Ihrem Land.« Sie sprach mit großer Würde und mit bewusst gesenkter Stimme, als sei seine Frage absolut lächerlich. Sie war nicht ganz sicher, was sie tun würde, falls er ihr befahl, ihre Waffen abzulegen. Und es kam gar nicht in Frage, dass sie sich einer Durchsuchung unterziehen würde.
»Sie haben den Hubschrauber runtergeholt«, sagte Tucker. Es war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. Sie nahm an, er wusste es, weil Sam nicht mit Pfeil und Bogen bewaffnet war und er eine Meldung von dem Aufräumkommando erhalten hatte, das die Leichen entsorgte.
Sie blieb ruhig und ließ keinerlei Gefühl erkennen. »Es war notwendig für unser Überleben.«
Tucker zog eine Flasche Wasser aus seinem Marschgepäck. »Sie müssen durstig sein.«
Sie musterte die angebotene Flasche sorgfältig. Sie behandelten sie weiterhin wie einen Gast, doch ihr Wächter, der rothaarige Soldat, war eindeutig in Alarmbereitschaft. Sein Blick hatte sich, ganz gleich, was um sie herum vorging, keinen Moment von ihr abgewandt.
»Danke.« Sie nahm die Flasche und wies damit auf den Soldaten. »Ist ihm die Aufgabe zugeteilt worden, sicherzugehen, dass ich nicht durchdrehe und jeden hier töte?« Sie ließ bewusst eine Spur von Humor in ihren Tonfall einfließen.
Tucker sah sie mit einem Lächeln an. »Das war ein sorgfältig geplanter und glänzend koordinierter Angriff auf Ihren Bruder und vielleicht auch auf Sie. Sam war die Aufgabe zugeteilt worden, über Ihre Sicherheit zu wachen. Diese Ehre wird jetzt Ian McGillicuddy zuteil.«
Sie drehte sich um und lächelte McGillicuddy an. Er war ein großer Mann, dem das rote Haar in die Stirn fiel, und seine grünen Augen waren stechend und intelligent. Man konnte wohl sagen, dass er sie bewachte, aber es diente nicht unbedingt ihrer Sicherheit. Sie prostete ihm mit der Wasserflasche zu und trank in tiefen Zügen von der erfrischenden Flüssigkeit.
McGillicuddy nickte, doch er lächelte nicht und ließ sie auch nicht aus den Augen.
»Sam hat gesagt, meine Brüder seien in Sicherheit. Ich hoffe, dass sie gut bewacht werden.«
»Ja, selbstverständlich. Kaden und Nico haben sie auf das Anwesen gebracht. Es ist eine Festung. Dort kann niemand an sie herankommen«, sagte Tucker.
Ihr Magen hob sich von dem konzentrierten Blutgeruch – eine ungewöhnliche Reaktion für sie. Also musste es sich um eine der Nachwirkungen dessen handeln, dass ihre Erinnerungen sie bestürmt hatten. Sie hoffte, diese Tür sei jetzt wieder fest geschlossen. Sie warf einen Blick auf das Zelt und versuchte gar nicht erst, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen.
»Ich dachte, es sei ein Durchschuss gewesen, der ihm nicht viel ausgemacht hätte.«
»Sie konnten es nicht wissen. Sam ist zäh«, fügte Tucker hinzu. »Bei einer Gelegenheit ist er zweimal zurückgegangen, um Verwundete rauszuholen, und keiner hat gemerkt, dass er selbst zwei Schüsse abgekriegt hatte. Wir haben es erst gemerkt, als er auf dem Heimflug im Hubschrauber mehr oder weniger das Bewusstsein verloren hat. Das ist typisch Sam.«
Sie mochte Tucker umso mehr, weil sie echten Respekt und Zuneigung aus seiner Stimme heraushörte. »Er war im Gefecht extrem effizient. Wir waren zahlenmäßig weit unterlegen. Der Feind hat Englisch, Spanisch und Farsi gesprochen. Zwei der Soldaten wurden von ihren eigenen Leuten ermordet, vermutlich, um zu verhindern, dass sie reden.«
»Die Kugeln haben sich auf ihren Mund konzentriert und ihre Zähne und ihr Gesicht zerstört. Die Soldaten müssen hinter euch hergekommen sein und dabei alles getan haben, um die Identifikation ihrer Toten zu erschweren. Lagen spezifische Drohungen gegen Ihre Familie vor?«, fragte Tucker.
»Bei uns gehen laufend Drohungen ein.« Thorn sah sich nach einer Stelle um, wo sie sich hinsetzen konnte. Ihre Knie waren nicht mehr ganz so weich, aber sie wusste, dass sie Zeit brauchte, um sich zu erholen. »Ich würde mich gern setzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Ihre Worte waren eher an McGillicuddy als an Tucker gerichtet. Sie wollte nicht, dass der Mann bloß deshalb auf sie schoss, weil sie sich abrupt und unerwartet bewegte. Sie zwang ihre Beine, sie weiterzutragen, bis sie eine geeignete Stelle fand, um anmutig auf den Boden zu sinken.
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Tucker augenblicklich mit einem reumütigen Gesichtsausdruck. »Ich hätte gleich einen bequemen Sitzplatz für Sie finden sollen.«
»Ich glaube, wir waren beide in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte Thorn wahrheitsgemäß. »Die Wirkung des Adrenalins lässt nach.«
»Wir können Sie auf unser Grundstück bringen, wenn Sie es eilig haben, Ihre Brüder zu sehen.« Tucker machte ihr dieses Angebot zwar nur widerstrebend, aber doch bereitwillig.
Thorn konnte ihm sein Zögern nicht vorwerfen. Er wollte offenbar erst sichergehen, dass Sam am Leben blieb. Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ich glaube, ich bleibe lieber noch ein Weilchen hier. Sie wissen ja, wie es ist. Wenn man Seite an Seite kämpft, kommt man einander schnell näher. Er hat sich wirklich ganz erstaunlich gehalten. Ich möchte mit eigenen Augen sehen, dass er durchkommen wird.«
»Sind Sie telepathisch veranlagt?«
Die Frage wurde so lässig gestellt, und der Tonfall war so beiläufig, dass ihr die Tragweite im ersten Moment gar nicht aufging. Tucker Addison stellte es sehr geschickt an, jemanden zu vernehmen, ohne den Anschein zu erwecken. Er tat so, als machte er unschuldig Konversation mit ihr.
Thorn ließ sich Zeit, fummelte an ihren Haarnadeln herum und stellte wieder einen Anschein von Ordnung her, während sie zu dem blauen Himmel aufblickte. Bis zum Anbruch der Nacht würde es noch einige Stunden dauern, doch der Wind nahm an Stärke zu und wehte ein paar Wolken vor sich her.
»Ja, aber ich hatte seit meiner Kindheit nicht mehr mit einem anderen Telepathen gesprochen.« Das entsprach voll und ganz der Wahrheit. »Ich fand es anregend, schockierend und auch ein bisschen beängstigend, dass Sams Fähigkeit derart ausgeprägt ist. Ich konnte ihn hören, wenn er mit mir gesprochen hat.« Sie ließ wieder ein kleines Lächeln aufblitzen, griff nach einem Blatt und musterte die schmalen Adern, von denen es durchzogen war. »Diese Gabe hat sich während des Kampfs als recht nützlich erwiesen.«
»Weshalb wollte sich Sam nicht von Lily betäuben lassen?« Tucker ging ihr gegenüber in die Hocke und richtete seinen Blick fest auf ihr Gesicht.
Thorn zuckte die Achseln. Es war immer das Beste, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Er hat sich Sorgen um mich gemacht. Wir haben gemeinsam gekämpft, und ich glaube, er hat sich für mich verantwortlich gefühlt. Zumindest kam es mir so vor. Er ist mehrfach zwischen mich und die Soldaten gegangen. Ich habe ihm gesagt, mir fehlte nichts und ich bliebe in der Nähe. Das schien ihn zufriedenzustellen.«
Jetzt ging es wieder um Schlagfertigkeit, und ihr Selbstvertrauen kehrte zurück. Sie wusste, wie man Azami Yoshiie war, dieses Spiel kannte sie in- und auswendig. Sie war durch und durch Samurai, die Tochter ihres Vaters. Diese achtjährige Kleine mit all ihren Unsicherheiten und ihren furchtbaren Erinnerungen war hinter der Tür eingesperrt. Azami musste nur dafür sorgen, dass sie hinter der geschlossenen Tür blieb.
Bisher betrieb Tucker höflich Konversation und ließ nur ab und zu eine kluge Frage einfließen, aber die entscheidende Frage hatte er ihr nicht gestellt – wie sie an Zenith der zweiten Generation gekommen war. Das Präparat war noch nicht auf dem Markt. Niemand hätte etwas davon wissen sollen. Woher also wusste sie davon? Und wie hatte sie das Zeug an sich gebracht? Gute Fragen, die echte Antworten erfordern würden. Sie wusste, dass er warten würde, bis sie sich auf dem Anwesen befanden, wo die Schattengängerteams mühelos die Oberhand behalten würden.
»Ich glaube, eine wohltuende Tasse Tee wäre jetzt ganz ausgezeichnet«, sagte Thorn. Sie liebte die Teezeremonie, auf die ihr Vater oft zurückgegriffen hatte, um sie zu beruhigen, wenn sie als Kind nicht dazu fähig gewesen war, ihre Mitte zu finden und in sich zu ruhen. Allein schon der Gedanke an ihren Vater tröstete sie und flößte ihr Selbstvertrauen ein.
Tuckers weiße Zähne blitzten auf. »Sie sind die zweite Frau in meinem Leben, die in einer Situation wie dieser eine Teezeremonie vorschlägt. Ich muss zugeben, dass ich Tee mit der ersten getrunken habe, aber mir persönlich ist Kaffee lieber.«
»Eine Teezeremonie ist immer wohltuend«, sagte sie. »Nach einem Kampf tut sie richtig gut.«
Er hob eine Augenbraue. »Ziehen Sie oft in den Kampf?«
»Ich bin schon als Kind von meinem Vater gründlich ausgebildet und auf den Weg des Samurai geführt worden. Das ist eine Lebensweise, und der Gebrauch von Waffen sowie der Nahkampf sind Bestandteile dieses Lebenswandels. Natürlich war es erforderlich, dass wir neben den traditionellen Waffen und Kampftechniken auch die moderne Kunst der Kriegsführung meistern. Daher kann man vermutlich sagen, dass ich oft in den Kampf ziehe. Wir bewahren uns dieses Können. Unsere Firma bietet unseren Angestellten dieses Training an. Meine Brüder und ich erteilen oft Unterricht, aber wir trainieren auch selbst, damit wir nicht aus der Übung kommen.«
»Ihr Vater muss ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein.«
Thorn nickte. »Äußerst ungewöhnlich und absolut wunderbar. Ich vermisse ihn täglich.« Ihre sanfte Stimme war von der Wärme von einer Million Erinnerungen durchdrungen.
Der Gedanke an ihren Vater gab ihr noch mehr Selbstvertrauen und beruhigte die letzten Nerven in ihrem Magen. Daiki und Eiji waren Ehrenmänner wie ihr Vater. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal einem Mann begegnen würde, der an das heranreichen könnte, was ihr Vater und ihre Brüder waren – bis sie Sam getroffen hatte. Sie hatte intime Bekanntschaft mit seinem Innenleben gemacht. Er würde sein eigenes Glück zum Wohle seines Teams opfern. Er würde sein Leben bereitwillig für das seiner Teamkameraden opfern. Er wusste, was Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl waren, und er stand für beides.
Thorn fand es seltsam, dass sie ausgerechnet dann einen Mann gefunden hatte, an den sie glauben konnte – einen, dem sie vertrauen konnte –, als sie endlich ihren Plan in Angriff genommen hatte, Whitney aufzuspüren und ihn der Gerechtigkeit zuzuführen oder ihn zumindest von seinen Befürwortern abzuschneiden und ihn in die Flucht zu schlagen.
»Das Leben ist wirklich sehr seltsam«, murmelte sie laut vor sich hin.
»Das ist wahr«, stimmte Tucker ihr zu. »Wir hatten keine Ahnung, dass ein Angriff im großen Stil auf unsere Gäste bevorstand. Wir benutzen diese Straße nicht immer. Es ist eine Privatstraße, die wir selbst angelegt haben. Im Winter ist sie völlig unbefahrbar. Wir benutzen Schneemobile oder Winterfahrzeuge auf der öffentlichen Straße. Es ist schon merkwürdig, dass sie gerade dort einen Hinterhalt gelegt haben. Woher könnten sie gewusst haben, dass wir diese Straße benutzen würden, um Sie und Ihre Brüder auf unser Anwesen zu bringen?«
Thorn überdachte diese Frage. »Es gibt zwei Zufahrten, und Sie wählen nie im Voraus eine von beiden aus?«
Tucker schüttelte den Kopf. »Wir halten uns vorsätzlich an kein Muster, wenn wir unterwegs sind.«
»Vielleicht hatten sie deshalb den zweiten Hubschrauber, und er kam zu spät zur Party«, mutmaßte sie. »Sie könnten auf beiden Straßen ein Empfangskomitee bereitstehen gehabt haben. Ein Hubschrauber und zwei Fahrzeuge pro Straße. Sowie sie wussten, welchen Weg Sie einschlagen, konnten sie die anderen zu ihrer Unterstützung hinzurufen. Sie waren nicht allzu weit entfernt. Ein Jeep könnte geradewegs durch den Wald fahren, und ein Hubschrauber bräuchte nur geradeaus zu fliegen.«
Tucker nickte. »Nicht schlecht.«
Sie bedachte ihn mit einem kleinen Lächeln. »Ein Test? Oder nicht schlecht für eine Frau? Sie wussten das doch ohnehin schon, oder nicht?«
Er grinste sie an. »Unsere Frauen sind streitlustig, genau wie Sie. Sie sitzen sittsam da und sehen reizend aus, aber Sie sind ein Tiger im Schaffell. Wenn Sam sich Sorgen um Sie macht, dann macht er sich Sorgen um die falsche Frau.«
Thorn neigte ihren Kopf. »Das sollten Sie ihm vielleicht sagen, wenn er wieder zu sich kommt.«